𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝗌𝖾𝖼𝗁𝗌.
Das Pochen meines Herzens ist so laut, dass ich mich nicht richtig auf meine Umgebung konzentrieren kann, obwohl das gerade sehr von Nutzen wäre. Aus dem Kerker habe ich es geschafft, jetzt gilt es, aus dem Chambers-Anwesen zu entkommen und mich erst einmal zu sammeln. Meine Finger haben sich fest um den Griff des Dolchs geschlossen, meine einzige Verteidigung.
Zum Glück ist die Sonne untergegangen und alles dunkel. Leise husche ich von einem Gang zum nächsten, suche einen Ausgang. Ein Fenster wäre gut, am besten in den Garten. Diesen habe ich schon gesehen und wenn ich mich recht erinnere, gab es einen Baum, von dem ein Ast über die Mauer ragte. Perfekt, um zu flüchten. Leider sind die Wände rechts und links nur mit Türen gespickt.
Verdammt, es kann doch nicht so schwierig sein, einen Ausweg zu finden! Eine Weile lang spiele ich mit dem Gedanken, ein Zimmer zu betreten, lasse das jedoch in der Angst, jemanden zu treffen, sein. Es wäre nicht gut, wenn mir eine weitere Person begegnen würde – Für keinen von uns. Ich müsste sie zum Schweigen bringen. Ganz Unrecht hat Waverly vermutlich nicht. Ich bin zwar keine Mörderin, aber wenn sie stirbt, werde ich das sein.
Allerdings sehe ich jetzt schon aus wie ein Monster, um das zu wissen, brauche ich nicht einmal einen Spiegel. Das Nachthemd ist mittlerweile rotbraun. Der dunkelgraue Mantel, der mir knapp unter die Knie reicht, hat so große Löcher, dass er es nicht verdeckt. Meine Schuhe habe ich schon in der Zelle ausgezogen – Sie sind viel zu dreckig geworden, um noch komfortabel darin zu gehen, außerdem bin ich barfuß leiser.
Niemand ist auf den Gängen. Eigentlich sollte es mich erleichtern, aber irgendwie beunruhigt es mich. Im Bryman-Anwesen war immer etwas los, egal zu welcher Tageszeit, irgendwo sind immer irgendwelche Angestellten herumgelaufen. Hier ist wirklich niemand. Ich beiße mir auf die Lippe und versuche über das Schlagen meines Herzens andere Menschen zu hören. Vielleicht ist hier so wenig los, weil ich mich in der Nähe des Kerkers befinde – Und da will sicher keiner freiwillig hin.
Eigentlich ist das nicht schlecht. So wird meine Flucht nicht so schnell entdeckt. Natürlich kommt das auch darauf an, wann die Wache wieder aufwacht. Ich sollte also rasch weg sein. Zielstrebig folge ich dem Flur in eine Richtung. Ich muss zu einem Ausgang gelangen, wenn ich stur gerade aus gehe – Anders ist das doch gar nicht möglich.
Routiniert werfe ich einen überprüfenden Blick in den Gang links von mir, als dieser auf einen anderen trifft. Ich erstarre. Scheiße. Alles in mir schreit danach, wegzurennen, aber das wäre sowieso zwecklos. Dakota hat ohne Zweifel die bessere Ausdauer als ich. Mit wenigen Schritten ist er bei mir und ehe ich blinzeln kann, drückt mich gegen die Wand und sein Schwert an meine Kehle. Der Dolch ist irgendwie in seine Hand gewandert, die Spitze sticht in meinen Bauch. Er ist viel zu trainiert, um es mit ihm aufzunehmen.
»Ihr seid es«, bemerkt er. Sein Ton ist neutral, ich kann nichts herauslesen. Dafür lodern seine Augen. Waverly würde ihn bestimmt nicht bestrafen, wenn er mich auf der Stelle aufschlitzt. Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen, doch es nützt nichts.
»Was machst du hier? «
Jetzt ist alles egal, denke ich.
»Von Euch bedroht werden.«
»Das sehe ich, Nancy.«
Dakota zögert einige Sekunden. Im Dunkeln kann ich nicht erkennen, wie seine Miene ist.
»Ihr… Ihr habt ihn nicht umgebracht, oder?«
Die Frage wirft mich komplett aus dem Konzept. Ich starre ihn an. Er tötet mich nicht? Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde. Aber wie um alles in der Welt gelangt er zu dieser Schlussfolgerung – Mit seiner Perspektive?
»Nein«, bringe ich heraus, stocke dabei, »Die… Die Gräfin war es.«
»Ich wusste es.«
Seufzend lässt Dakota von mir ab und fährt sich durch die kinnlangen Haare. Er… Er wusste es? Wie darf ich das verstehen? Unsicher ziehe ich den Mantel enger an mich. Immerhin hat er mich nicht umgebracht. Vorsichtig bewege ich mich Richtung Dolch. Ich verlasse mich nicht darauf, dass er mir nichts antun wird – Er war einer der Soldaten, die mich in die Zelle geschleppt haben.
»Warum?«, entgegne ich knapp. Waverlys Leibwache steckt sein Schwert an seinen Gürtel, aber eine Hand ruht weiterhin am Griff. Anscheinend denkt er nicht, dass ich tatsächlich ungefährlich bin.
»Als wir Euch weggeführt haben, habt Ihr die ganze Zeit wie in Trance gemurmelt, dass Ihr es nicht wart, es nicht gewollt hättet und dass er es nicht verdient hätte.«
Oh.
Aus irgendeinem Grund macht mich das verlegen – Bis ich mich erinnere, dass ich nicht in einer Position bin, um verlegen zu sein. Eigentlich wäre es am besten, direkt Waverlys persönliche Wache sofort auszuschalten. Rasch hebe ich den Dolch auf. Er scheint es nicht einmal zu bemerken. Ich lasse den Arm sinken. Gegen ihn habe ich niemals eine Chance. Er hat mich vorhin innerhalb von wenigen Sekunden komplett unter der Kontrolle gehabt, nichts spricht dagegen, dass das erneut geschehen kann.
»Wie seid Ihr entkommen?«, fragt er, mustert mich. Kurz überlege ich zu lügen, aber da mir auf die Schnelle keine gute Geschichte einfällt und ich vor ihm nicht flüchten kann, lasse ich es sein.
»Ich habe die Wache von hinten mit einem Stoffstreifen bis zur Ohnmacht gewürgt und anschließend die Schlüssel gestohlen.«
Dakota starrt mich eine Weile an, dann lacht er auf. Ich spanne mich an. Was ist daran lustig?
»Ihr seid wirklich nicht so harmlos wie ich dachte«, meint er und ich bin mir sicher, dass er schmunzelt. Dreckskerl. Ich funkele ihn wütend an, obwohl ich bezweifle, dass er das sieht.
»Tut mir leid«, er räuspert sich, »Ich… Das war unangebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, in welcher Lage Ihr seid. Aber lasst mich Euch helfen.«
»Helfen?«
Ich hebe die Augenbrauen skeptisch. Dakota verwirrt mich – Meint er das ernst und wenn ja, wie ernst und in welcher Weise? Spielt er nur mit mir, bevor er mich tötet oder Waverly übergibt. Ich greife den Dolch fester. Leicht werde ich es ihm nicht machen, darauf kann er sich verlassen. Für Ash werde ich bis zum letzten Atemzug kämpfen. Ich werde über Leichen gehen, um seinen Tod zu rächen.
»Ihr müsst unglaublich erzürnt sein«, erklärt Dakota und trifft es nicht einmal ansatzweise mit seinen Worten, »Ich kenne Waverly schon viel, viel länger. Wie ich erzählt habe, ich bin mit ihr aufgewachsen.«
»Was wollt Ihr mir damit sagen?«
Ich kann nicht anders als den Dolch zu heben und die Spitze auf ihn zu richten. Unbeeindruckt drückt er die Waffe mit seinem Finger wieder hinunter.
»Sie ist verwickelt in allerlei Geschäften, die… Nun ja, einen gewissen Hang zur Illegalität haben. Lord Ashton ist nicht der erste, der ihr zum Opfer gefallen ist. Ich weiß nicht, was genau sie plant, so sehr vertraut sie mir nicht, aber Waverly ist skrupellos. Grausam. Und deswegen… Wenn Ihr sie töten wollt, werde ich Euch helfen.«
Überwältigt suche ich Blickkontakt, den Dakota unbefangen erwidert. So weit ich das erkennen kann, meint er es ernst. Skepsis kommt auf, allerdings hätte er mich schon längst beseitigen oder zu Waverly bringen können. Ich weiß nicht, was ich von seinem Angebot halten soll. Er scheint mir das anzumerken.
»Geh den Flur bis zum zweiten Gang rechts weiter und folge dieser Abzweigung. Du kannst aus dem Fenster in den Garten gelangen. Wenn der Mond seinen höchsten Punkt erreicht hat, ist die Hintertür des Stalls offen, die Ihr auch von außerhalb des Anwesens erreichen könnt. Ich werde auf Euch warten, inklusive neuer Kleidung.«
Mit diesen Worten wendet sich die Leibwache von mir ab und schreitet den Gang weiter. Ich blicke ihm hinterher, bis er um eine Ecke verschwindet. Unglaublich.
Den Ast zu nutzen, um über die Mauer zu klettern, war kein Problem, nachdem ich den Dolch zwischen meine Zähne genommen habe. Die Waffe war unerwartet schwer, aber ich habe mich im wahrsten Sinne des Wortes durchgebissen. Schmerzvoll erinnert mich das Klettern an die unzähligen Male, die Ash und ich im Garten verbracht haben. Wer schneller auf dem Baum war, hatte gewonnen.
Es ist ein Wunder, dass ich mich nicht ernsthaft verletze, als ich auf der anderen Seite abspringe. Ich komme holprig auf und stürze in das Gras, aber bis auf eine unsanfte Landung mit meinem linken Arm passiert mir nichts. Ich sehe das als gutes Zeichen. Nachdem ich rasch die Umgebung überprüft habe, beschließe ich an der Mauer entlang zu gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dakotas Angebot annehmen soll. Der Mond wird einige Zeit brauchen, bis er ganz oben steht.
Einerseits wäre es großartig, eine direkte Verbindung zu Waverly zu haben. Was hat er mit ihren merkwürdigen Machenschaften gemeint? Steckt noch mehr hinter der perfekten Fassade der jungen Gräfin? Möglich wäre es. Von Avery weiß ich nur zu gut, wie sehr sich Menschen verstellen können. Nachdem sie ihren Verlobten kaltblütig erstochen hat, fällt es mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass sie auch in ihrer Herrschaft einige unakzeptable Mittel anwendet.
Andererseits ist es nach wie vor die Leibwache der Mörderin meines Geliebten. Kaum bin ich entkommen, muss ich solch eine bescheuerte Entscheidung treffen – Ach, bitte, was soll das? Frusttränen bahnen sich ihren Weg in meine Augenwinkel, doch ich schüttele den wieder schmerzenden Kopf. Ich werde mich nicht wieder überwältigen lassen, das war bereits. Jetzt muss ich stark sein. Für Ash.
Wasserplätschern erweckt meine Aufmerksamkeit. Das Umland des Chambers-Anwesens ist weit und besteht größtenteils aus Feldern und Wiesen, was gut für mich ist – So ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass mich irgendjemand sieht. Ein Fluss, eher ein Bach, führt an einer Stelle so nah zur Mauer, dass er nur knapp zweit Meter davon entfernt ist. Vorsichtig, damit ich nicht hineinfalle, gehe ich an den Rand.
Obwohl das Wasser eiskalt ist, wasche ich mein Gesicht, Arme und Beine, die alle noch blutverschmiert sind. Am liebsten würde ich das Gewand ebenfalls tränken, doch dafür ist es zu kalt. Eine Weile lang sitze ich am Ufer, mit den Füßen im stetig fließenden Wasser, bis ich sie nicht mehr spüre. Ich will mir durch die Haare fahren, bleibe aber an den vielen Knoten und verklebten Strähnen hängen.
Ash hat es geliebt, meine Haare zu pflegen. Er wollte sogar unbedingt, dass ich ihm einige Flechttechniken zeige, damit er mir Frisuren machen kann – Weil ich es verdient hätte, hat er gesagt. Eigentlich ist es undenkbar, dass ein Adeliger einer Bediensteten hilft, doch ihn haben diese Ränge nie interessiert. Eine Weile lang befühle ich eine Strähne. Einst war sie seidenglatt, jetzt ist sie fransig und zerzaust.
Tut mir leid, Ash. Ich hebe den Dolch und wie in Trance setze ich an. Keine Ahnung, wie er reagiert hätte. Ohne nachzudenken schneide ich, eine Strähne nach der anderen. Erst brustlang. Dann kinnlang. Die Reste werfe ich in den Fluss, der sie rasch davontreibt. Das Mondlicht wird von den weißen Haare reflektiert. Es ist als hätte ich einen Teil von mir selber abgetrennt – Aber irgendwie fühlt es sich gut an, leicht. Ich bin nicht mehr dieselbe, die ich vor einigen Tagen war. Das darf man mir auch ansehen.
Seufzend sinke ich nach hinten auf das Gras, versinke darin. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Haare so stark kürzen würde. Nun, ich hätte auch nie gedacht, Ash so früh zu verlieren. Stumme Tränen fließen über meine Wangen. Frustriert fahre ich mir über die Augen. Der einzige, bei dem ich mit meinen Schwächen wohlgefühlt habe, war Ash. Das heißt wohl, dass ich sie jetzt nicht mehr zeigen darf.
Ich erhebe mich ruckartig. Dennoch muss ich mir eine Sache eingestehen: Allein wird es schwierig, Waverly umzubringen. Obwohl sich mein erschöpfter Körper dagegen sträubt, setze ich meine Weg an der Mauer fort. Immerhin weiß ich nicht, wie weit es zum Stall ist und ich darf meine Verabredung nicht enttäuschen.
14 525 Wörter - dreiviertel des dritten Meilensteins!
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