𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝖿ü𝗇𝖿.
Dass ich grob weggezerrt werde, bemerke ich kaum. Mein Blick ruht auf Ash als könnte ich ihn damit wiederbeleben. Doch er steht nicht auf, er ist tot. Endgültig tot. Das Wort hallt schmerzhaft in meinem Kopf nach. Den Tränenfluss kann ich nicht stoppen, Geräusche erklingen wie durch einen Ballen Stoff. Meine Sicht verschwimmt. Ich schaffe es nicht einmal, Wavery verbittert anzusehen, ihr irgendetwas entgegenzurufen. Jetzt, wenn ohnehin alles egal ist.
Was in den nächsten Minuten geschieht, weiß ich nicht. Ich bin wie taub für alles um mich herum, wehre mich nicht gegen die brutalen Griffe an meinen Armen. Mein Herz weigert sich strikt, das anzunehmen, was gerade passiert ist, aber mein Verstand kriegt rasch die Oberhand. Als ich endlich aufhöre zu weinen, ist es still. Nur mein Atem dringt durch die Geräuschlosigkeit. Langsam fahre ich mir über das Gesicht, um es einigermaßen zu trocknen. Bloß nicht zu viel nachdenken.
Blinzelnd betrachte ich die finstere Umgebung. Ich hätte nicht erwartet, dass das Chambers-Anwesen einen Kerker hat, doch ich sitze an eine eiskalte Steinwand gelehnt in einer Zelle. Schwaches Licht fällt aus einem viel zu kleinen, viel zu hohen Fenster auf mich. Gegenüber der Wand versperren massive, senkrechte Gitter den Weg nach draußen sowie zu dem benachbarten Raum. Bis auf die stramm stehende Wache vor meiner Zelle bin ich allein hier.
Obwohl die Wände dicht erscheinen, zieht von irgendwoher ein kalter Luftzug. Ich fröstele, ziehe meine Beine an mich. Mein Kleid ist nass vom Blut meines Geliebten, an einigen Stellen allerdings bereits getrocknet und unangenehm hart. Der intensive, metallene Geruch ist überall um mich herum. Ein Würgreiz kommt auf. Ich krieche zu einer Ecke und erbreche alles, was in mir war - Jetzt fühle ich mich nicht nur mental leer. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich wieder zurück an die Stelle, an der ich vorher saß. Die Zelle hat zwar noch eine Holzbank, aber ich bin viel zu schwach, um mich darauf zu ziehen.
Warum Ash? Warum ausgerechnet den, der sich im Gegensatz zu anderen Adeligen immer bei Angestellten bedankt hat? Der es liebte, mit den Kindern der Hausmädchen zu spielen und dabei einen Scheiß auf die Meinung der Gesellschaft gab? Der anstelle von Waffentraining lieber Rhetorikunterricht nahm? Der Mensch, der der beste war, dem ich je begegnet bin? Das verräterische Kribbeln in meinen Augenwinkeln ist zurück.
»Das ist nicht fair«, höre ich mich wispern. Ash hat diesen Tod nicht verdient. Er wollte mit mir alt werden. Wir hatten Pläne für einen botanischen Park, den wir an das Bryman-Anwesen anbauen wollten - Springbrunnen, Kieswege, Rosengarten. Mit einem bitteren Lächeln erinnere ich mich daran, wie wir seine Lieblingsbücher nach Namen für Kinder durchgegangen sind. Wir hätten so glücklich werden können, gemeinsam.
Ein anderer Gedanke erschüttert mich so sehr, dass ich erblassen muss. Meine Güte, was ist mit Mirana, Avery, Baron Clint, Baroness Vandeleur - Und meinen Eltern? Sie werden alle eine Menge Probleme erhalten, nur wegen mir. Ich bin mir sicher, dass Avery sich mithilfe ihres Charmes und ihrer Sturheit rausboxen wird, aber meine Eltern sind quasi verloren. Als meine direkten Verwandten wird bestimmt vermutet, dass sie mit mir zusammengearbeitet haben. Da sie in der Rangfolge ohnehin ganz unten stehen, wird sich keiner ihre Meinung auch nur anhören. Hoffentlich leugnen sie mich trotzdem, das ist ihre einzige Möglichkeit, um zu entkommen.
Die Baronenfamilie wird letztendlich ebenfalls unter großem Druck stehen. Avery wird schnell heiraten müssen, um den Namen Bryman weiterzuführen - Genau das, was sie so sehr verachtet. Mir fallen keine Kandidaten ein, die in ihrem Alter sind. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Ich habe eine Katastrophe angerichtet, das wollte ich alles nicht. Wieso wurde es mir nicht gegönnt, an Ash' Seite zu sein? Die grausamen Bilder seiner Leiche blitzen vor meinem inneren Auge auf. Mein Körper will sich erneut übergeben, doch da ist nichts mehr.
Was soll ich bloß tun? Waverly wird die ganze Geschichte so drehen, dass ich die Mörderin bin. Und dann? Man wird mich verurteilen. Die Todesstrafe wird es vermutlich nicht sein, dafür ist ein Baron zu rangniedrig, bei der Königsfamilie Borghese sähe es anders aus. Allerdings werde ich wohl eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten. Wenn das in einem Drecksloch wie dieses ist, ist es schlimmer als der Tod. Besonders, wenn ich die ganzen Sorgen über meine Freunde im Kopf habe. Und diese Schmerzen in meinem Herz, die das ausfüllen, was früher Freude war.
Lohnt es sich überhaupt, weiterzuleben?
Ich verschlucke mich, huste so heftig, dass ich hinter tränenden Augen sehe, dass die Wache verunsichert einen Blick über seine Schulter wirft. Als er sieht, dass ich wieder Luft bekomme, wendet er sich ab. Was ist das für ein Gedanke gewesen? Es lohnt sich immer zu leben, zu handeln - Für dich. Das hat Ash mir mal gesagt. Aber wie soll ich daran festhalten, wenn er tot ist?
Der Geruch des Blutes ist widerlich. Um den metallischen Flair zumindest visuell auszublenden, schließe ich die Augen. Anscheinend ist das das Ende der Liebesgeschichte zwischen dem einfachen Küchenmädchen, die zur Zofe wurde, und dem galanten jungen Baron. Die Zofe unterlag der Verlobten des Barons und verreckte im Kerker, da ihr ein Mord angehängt wurde, der Mord an ihrem Geliebten. Eine schöne Geschichte.
Wie tragisch. Die hämisch blitzenden Augen und das lästige, perfekte Lächeln tauchen in meinen Erinnerungen auf. Es ist vorbei, Zofe. Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen. Avery hatte Recht mit ihrer Vermutung, dass etwas mit dieser Gräfin nicht stimmt. Du hast meinen Plan so viel einfacher gestaltet. Gibt sie mir jetzt auch noch die Schuld an Ash' viel zu frühen Tods? Die verfluchten Worte drehen sich in meinem Kopf, bis sie gleichzeitig zu flüstern und zu schreien scheinen.
Das stärkste Gefühl, das ich jemals empfunden habe, war Liebe. Liebe zu Ash, meinen Freundinnen Mirana und Avery, zu meinen Eltern. Ich dachte, das wäre das Intensivste, was ein Mensch verspüren kann. Unfassbar, wie falsch man liegen kann - Hass ist so viel heftiger, ergreifend. Ein Feuer lodert in meiner Brust, so hell, dass es schmerzt. Es verdrängt die Vernunft.
Warum sollte ich Waverly gewinnen lassen? Ein Grinsen formt meine Lippen. Was hält mich davon ab, das Spiel genauso dreckig wie sie zu spielen? Nichts. Ash hat gemeint, dass es sich immer lohnt zu leben und zu handeln, für den jeweils anderen. Nun gut. Dann werde ich handeln, und wie ich handeln werde. Für dich, Ash. Waverly soll denselben Schmerz verspüren wie du es getan hast.
Sie ist diejenige, die das Leid verdient.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich es geschafft habe, einen Streifen am Saum meines Gewandes abzureißen und in sich zu verdrehen, bis ich einen festen, stabilen Strang habe, nicht länger als einen halben Meter. Aber das ist okay, denn so habe ich zumindest die Gelegenheit, um nachzudenken. Mir muss es gelingen, so nah wie möglich an Waverly zu gelangen - Um ihr dann ebenfalls einen Dolch in den Oberkörper zu rammen.
Die Wache wird immer schläfriger, es ist die zweite, glaube ich. Nach gefühlten Ewigkeiten bin ich doch eingeschlafen, obwohl alles dreckig ist. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich in diesem Loch gelandet bin - Immerhin hat mir irgendjemand einen Umhang hineingeworfen, der zwar schäbig und schmutzig ist, aber etwas gegen die Kälte hilft.
Einerseits ist es bewundernswert, dass der Mann nach wie vor einigermaßen stramm steht, andererseits ist er dafür zuständig, dass ich nicht entkomme. Deswegen verspüre ich kein Mitleid, egal, wie tief ich in mich hineinhorche. Das Licht, das in meine Zelle fällt, wird wieder orangerot. Die Sonne geht wieder unter. Bald ist Ash' Tod einen Tag her.
Verbittert prüfe ich erneut den Strang. Nein, er wird nicht reißen. Mein Blick zuckt zu dem Schlüsselbund, der an der Rüstung der Wache befestigt ist. Das ist mein Ziel. Lautlos erhebe ich mich von dem eiskalten Steinboden. Als Angestellte wurde mir beigebracht, stets ruhig zu handeln, um die Adeligen nicht zu stören. Dieses Training kommt mir jetzt zugute.
Der Soldat ist etwa so groß wie ich, was mich etwas verwundert. Da ich einer Durchschnittsgröße entspreche, ragen beinahe alle Männer in meinem Alter über mich, ich bin längst daran gewöhnt. Glücklicherweise trifft das bei dieser Wache nicht zu. Sein Kopf kippt im Halbschlaf leicht zur Seite, ehe er zusammenzuckt und sich wieder aufrichtet. Wahrscheinlich stellt er gerade den Befehl, mich zu bewachen, in Frage, da ich bisher ohnehin nichts getan habe. Das wird sich ändern.
Vorsichtig stelle ich mich auf die Zehenspitzen, bis es schmerzt, greife jedes Ende des Strangs fest und stecke die Masche durch den Zwischenraum zweier Stäbe, sodass sie direkt über der Wache baumelt. Noch kann ich einen Rückzieher machen - Aber dann würde ich nur auf meinen Tod warten. Ich hätte nicht gehandelt und das könnte ich mir nie verzeihen.
Also vollführe ich eine schnappende Bewegung nach vorne, sodass die Masche sich öffnet und sich um den Kopf der Wache legt. Da ich gleichzeitig den Strang wieder nach unten nehme, schließt er sich direkt um den Hals des Mannes. Er zuckt zusammen, lässt seine Lanze scheppernd auf den Boden fallen. Scheiße, hoffentlich hat das keiner gehört. Bevor er schreien oder seine Hände an seinen Hals bringen kann, um den Stoff von sich zu lösen, lehne ich mich zurück.
Mein Gewicht und meine Kraft arbeiten zusammen, der Strang wird festgezogen. Die Wache röchelt, die verzweifelten Bewegungen werden rasch schwächer. Er kann nicht entkommen, die Stangen bohren sich in seine Rüstung. Das Metall quietscht. In seiner Panik denkt er nicht einmal daran, nach Hilfe zu rufen. Ein zufriedenes Lächeln erscheint auf meinem Gesicht, bis mir bewusst wird, was ich da gerade tue. Ich töte einen Menschen. Wie Waverly. Der Körper vor mir erschlafft und reißt mich mit ihm zu Boden. Sofort ziehe ich den Stoff zurück.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Luft angehalten habe. Einige Sekunden lang sitze ich zusammengesunken auf dem Boden, atme viel zu schnell und viel zu laut. Scheiße. Ich habe jemanden umgebracht - Ohne einmal zu zweifeln. Scheiße, scheiße, scheiße. Tränen kribbeln in meinen Augenwinkeln, ich presse meine Handballen darauf, bis bunte Sterne in meinem Sichtfeld tanzen. Hätte Ash das gewollt?
Ash. Ich muss es für ihn tun. Bei dem Gedanken an ihn, wie er mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und mich auf die Wange geküsst hätte, beruhige ich mich rasch wieder. Nichts hat mich von dieser Tat abgehalten - Ich hätte nicht erwartet, dass Töten so einfach ist. Einerseits ist es unheimlich, grausam, andererseits... fasziniert es mich.
Ich binde den Strang um meinen Arm, ehe ich diesen durch die Stäbe stecke und nach dem Schlüsselbund taste. Leicht ist dieser gelöst und bis ich den passenden Schlüssel gefunden habe, dauert es auch nicht lange. Obwohl es sich schwieriger als gedacht herausstellt, von innen die Zelle aufzusperren, gelingt es mir nach vier Versuchen. Beim dritten Mal fallen mir beinahe die Schlüssel aus den Händen, weil ich so stark zittere.
Quietschend biegen sich die Scharniere, ich trete in die Freiheit. Nein, Freiheit kann man das noch nicht nennen. Ich werde erst frei sein, wenn ich Ash gerächt habe. Wenn ich zufrieden zu ihm gehen kann. Erst will ich die Treppe nach oben stürmen ohne zurückzublicken, aber das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Seufzend knie ich mich neben die Wache, betrachte ihn eine Weile. Ob er Familie hatte?
Ich beiße mir auf die Lippe, als ich seinen Arm hervorziehe. Vorsichtig nehme ich ihm den Handschuh ab, fühle den Puls. In der Erwartung, auf Kälte zu stoßen, überrascht es mich, dass ich ein leichtes Pochen wahrnehme. Ich bin so erleichtert, dass mir beinahe wieder die Tränen kommen. Er hatte Glück, ist nur bewusstlos. Gut. Mein Blick fällt auf den Dolch an seinem Gürtel.
»Es tut mir leid, wirklich«, wispere ich, ehe ich diesen mit zitternden Fingern aus der Scheide nehme. Versprechen, die Waffe zurückzugeben, kann ich nicht. Ein letztes Mal sehe ich zurück, dann schleiche ich den kurzen Gang entlang und die Treppe nach oben. Zum Glück bin ich allein hier unten - Zeugen kann ich nicht gebrauchen. Das sage ich mir zumindest. In Wahrheit will ich nicht einsehen, dass ich mir jetzt zutrauen würde, jeden, der mir in die Quere kommt, zu beseitigen. Ein leises, trockenes Lachen entweicht mir, gerade so laut, dass es nicht widerhallt.
Was ist nur mit mir geschehen?
12245 Wörter - es geht weiter!
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