𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝖽𝗋𝖾𝗂𝗓𝖾𝗁𝗇.

Erschöpfung ist das erste, was mir bewusst wird, als ich langsam die Augen aufschlage. Die Erinnerungen von letzter Nacht prasseln allmählich auf mich ein. Scheiße. Ich habe es wirklich getan. Ein Würgreiz kommt auf. So weit bin ich bisher nur mit Ash gegangen. Das war eigentlich nicht geplant. Scheiße. Was würde er wohl dazu sagen? Und warum sehe ich Chrysan vor mir? Ich atme tief durch. Konzentration.

»Morgen«, lässt mich eine überraschend weiche Stimme zusammenzucken. Ich drehe mich zu Jaime, der mich auf seinen Arm gestützt betrachtet. Verlegen ziehe ich die Decke zu meinen Schulten.
»Guten Morgen«, murmele ich verschlafen, obwohl meine Gedanken bereits auf Hochtouren laufen. Im Tageslicht erscheint das Gemach noch schöner, auch wenn mir die dunklen Farbtöne nicht besonders gut gefallen. Nein, verdammt, das ist das Schlafzimmer.

Zärtlich streicht mir der Kronprinz eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Nach dem ersten Eindruck hätte ich nicht erwartet, dass er so sorgsam mit mir umgehen kann. Ich lächele ihn an.
»Ich wünschte, ich könnte heute auch bei dir bleiben, aber ich kann nicht«, seufzt er. Ich erwidere seine Geste und spiele mit einer der Locken.
»Weshalb nicht... Jaime?«

Es ist eines der wenigen Male, dass ich ihn beim Namen nenne. Bevor er weiterspricht, muss er sich kurz auf die Lippe beißen.
»Ich treffe mich mit meiner Verlobten.«
»Verstehe... Warum denn?«
»Ach«, macht Jaime und lässt sich rücklings auf die Matratze fallen. Ich rücke zu ihm, lege meinen Arm über seine Brust.
»Sie will mit mir über die Hochzeit und unsere Pläne sprechen.«

»Welche Pläne denn? «, erkundige ich mich so unschuldig wie möglich. Der Brustkorb des Prinzen vibriert, als er auflacht.
»Du bist wirklich neugierig, Reverie. Aber das ist schon ziemlich süß an dir«, er gibt mir einen Kuss auf den Scheitel, dem ich am liebsten ausweichen würde, »Wir reden so über dies und das. Natürlich wird die Feier fantastisch werden, aber erst in einigen Monaten stattfinden, weil wir noch so einiges durchgehen müssen. Und Waverly würde mich töten, wenn ich dir mehr erzähle - Das darf ich nicht einmal dir.«

Sie würde Euch ohnehin töten, wenn es ihr einen Vorteil bringt. Wenn das so ist, muss es sich wirklich um Kriegspläne handeln. Das darf niemals geschehen. Allerdings werde ich nicht wie ich es eigentlich wollte bis zur Hochzeit warten - Ich werde ganz sicher nicht mehrere Monate als Mätresse dieses Kerls leben. Also werde ich es anders angehen müssen. Ich brauche irgendeine Veranstaltung.
»Schade...«, murmele ich und rücke zu ihm hoch, sodass unsere Gesichter nah beieinander sind, »Aber das ist natürlich klar für mich.«
»Dein Verständnis freut mich, Reverie.«
Jaime streichelt sanft über meinen Rücken.

»Wie könnte ich auch keines haben? Was hält Eure Verlobte eigentlich davon, dass Ihr mich mitgenommen hat?«
Der Kronprinz schüttelt abwertend den Kopf. Kann er Waverly etwa ebenfalls nicht leiden? Wie amüsant. Doch ihn als einen eventuellen Verbündeten zu betrachten, werde ich niemals. Auch wenn er sich vor mir liebevoll gibt, habe ich das unbestreitbare Gefühl, dass er auch anders kann.
»Solange ich die Verlobung nicht annulliere, ist ihr egal, was in meinem Liebensleben geschieht.«
Gut zu wissen. Sie sieht heiraten also wirklich nur als geschäftliche Möglichkeit an.

»Ach so... Aber na ja... Eure Hoheit, Ihr habt etwas von einem Debüt gesagt...?«
Ich lasse meine Stimme absichtlich so schüchtern klingen. Je mehr der Kronprinz davon ausgeht, dass ich einfach nur auf den hohen Rang aus bin, desto besser - Desto harmloser wird er mich nämlich einstufen. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist Verdacht von seiner Seite aus. Doch momentan sieht es aus wie alles andere als das: Er grinst wieder leicht, amüsiert.

»Ja. Und das werden wir so bald veranstalten, wie du willst.«
»Wirklich?«, frage ich enthusiastisch. Erneut lacht der Kronprinz auf. Als ich ihm das erste Mal begegnet bin, hat er gar nicht wie eine Person gewirkt, die so locker sein kann. Er muss meine Anwesenheit tatsächlich genießen. Beinahe habe ich Mitleid mit ihm - Bis ich mich daran erinnere, dass er mit Waverly zusammenarbeitet.

»Wann willst du denn, Reverie?«
»So bald wie es eben möglich ist!«
Aus Erfahrung weiß ich, dass es einige Tage dauern wird, bis die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Das wird mir genug Zeit geben, um Dakota zu treffen und mit ihm zu reden. Auch mit den Geschwistern Winstone muss ich mich nochmal beraten - Und am besten wäre es nach wie vor, irgendwie den zweiten Prinzen auf meine Seite zu ziehen. Wie, ist hier die große Frage, an deren Antwort ich scheitere.

»Dann werde ich das genauso befehlen«, verspricht der Kronprinz und umarmt mich innig. Ich erwidere es. Mein Grinsen an seiner Schulter bemerkt er nicht.

Scheiße. Verlaufen. Obwohl ich den Weg zu den königlichen Gemächern mittlerweile finde, schaffe ich es erst nach einigen Schleifen zurück. Jaime hat mich oft rufen lassen - Oder ich bin selbstständig erschienen, da ich ihn nicht warten lassen sollte -, also kenne ich mich im Palast mittlerweile einigermaßen aus. Chrysan kommt als meine Zofe auch besser zurecht, ich kann ihr auch von meiner Zeit eine Menge beibringen. Es ist ohnehin nicht für lange.

Lorcan ist als Bote im Palast bereits voll in den Betrieb eingebunden. Da er schon öfter hier war, hat er schnell Freundschaften geschlossen. Unter den Angestellten hat er die besten Kontakte - Und könnte bei Bedarf auch Gerüchte streuen. Nur Dakota habe ich nicht wieder treffen können. Vermutlich ist er durchgehend bei Waverly, aber ihm sollte nichts zugestoßen sein. Das hätte ich erfahren.

Jedenfalls bin ich jetzt in einen Teil des Palastes gelangt, in dem ich noch nie zuvor gewesen bin. Die Architektur erinnert an Jaimes Trakt, ist aber irgendwie etwas schäbiger. Nicht, dass hier nichts prunkvoll ist: Die Flure sind silbern verziert, die Kronleuchter nicht viel weniger prächtig. Aber: Wo bin ich, verdammte Scheiße? Beinahe schreie ich frustriert auf. Und warum ist hier niemand, den ich fragen kann? Es laufen doch sonst überall Angestellte herum!

Ein Gespräch weckt meine Aufmerksamkeit. Zwei weibliche Stimmen, sie kommen mir bekannt vor. Vielleicht Dienerinnen, die ich kenne. Erleichtert atme ich aus und folge den Worten. Doch als ich um die Ecke trete, sind die beiden Personen die letzten, die ich je erwartet hätte. Sie erkennen mich sofort, trotz der kurzen Haare, das sehe ich ihnen an. Schlagartig verstummen sie.

Avery ist die erste, die ihre Stimme wiederfindet.
»Nancy...?«, bringt sie zittrig und eine Oktave höher heraus. Fassungslos starrt sie mich an, während Mirana auf mich zu stürmt und mich in eine Umarmung zieht. Automatisiert erwidere ich diese, atme ihren Duft ein, der mir nach so langer Zeit unglaublich vertraut ist. Tränen schießen mir in die Augen. Ich dachte, sie wäre im Gefängnis.

Die Baroness kommt zu uns und wird ebenfalls ein Teil der Umarmung. Eine ganze Weile verweilen wir so, bis wir uns langsam lösen. Ich bin nicht die einzige, an deren Wangen Tränenspuren sind. Meine beste Freundin sieht so anders aus. Ich habe sie zuletzt als enthusiastisches Küchenmädchen gesehen, jetzt sind ihre voluminösen braunen Haare gebändigt, ein edles Kleid ziert den Körper, der deutlich trainiert ist. Avery hingegen ist wunderschön wie damals.
»Ihr beiden... Was ist passiert?«
Ich kriege die Worte schwer heraus ohne zu weinen. Ich dachte, ich sehe sie nie wieder.

»Das könnten wir genauso gut dich fragen!«, entgegnet Mirana, »Was ist mit dir passiert? Und mit... Ash?«
Ich beiße mir auf die Lippe, fahre mir durch die Haare. Es war klar, dass sie mich darauf ansprechen. Also gut. Das hier sind neben Chrysan meine zwei besten Freundinnen - Ich könnte sie nicht anlügen. In wenigen Worten habe ich alles zusammengefasst, natürlich, während ich darauf achte, dass wir allein sind. Doch niemand erscheint und unterbricht mich.

»Waverly, diese Scheißschlange, ich werde sie-«, beginnt Avery und macht sich auf den Weg, um die Gräfin zu verprügeln, doch Mirana hält sie problemlos zurück.
»Hast du nicht zugehört? Nancy wird sie ohnehin umbringen.«
»Na gut«, brummt die Baroness. Ich muss schmunzeln. Es fühlt sich alles an wie früher - Abgesehen davon, dass nun Mirana die Zofe ist, während ich... Eine Lügnerin bin.

»Warte...«, murmelt Avery, scheint offenbar etwas realisiert zu haben, »Wenn der Kronprinz tot ist, dann bedeutet das...«
»Ach du...«, wispert Mirana, erbleicht etwas. Verwirrt blicke ich von einer zur anderen.
»Was bedeutet das?«
Sie wechseln einen Blick miteinander.

»Komm mit«, weist mich Avery schließlich an.

Die beiden führen mich so sicher durch die Gänge, dass es keinen anderen Schluss zulässt als dass sie öfter hier sind. Ich will sie danach fragen, aber sie sind so schnell, dass sich mir keine Gelegenheit bietet. Unser Weg endet an einer Tür, die dem Eingang zu Jaimes Gemächern ähnelt. Avery stößt sie auf ohne anzuklopfen. Das würde mich bei ihr nicht wundern, immerhin ist das ihre Persönlichkeit, aber wir sind verdammt nochmal im königlichen Palast.

Unsicher werfe ich Mirana einen Blick zu, doch sie zuckt nur mit den Schultern und schließt die Tür hinter uns. Der Raum, der uns erwartet, ähnelt stark dem von Jaime. Rasche Schritte nähern sich und aus einem Nebenzimmer tritt ein Mann, der etwas jünger als ich zu sein scheint. Schwarze, wie wirr geschnittene Haare reichen bis zu seinen Schultern, über die ein dunkelrotes Jackett gezogen wurde.

»Es gibt nur eine Person, die mein Gemach so betritt«, grinst er. Avery stürmt auf ihn zu. Als wäre sie aus Federn nimmt er sie an der Taille und wirbelt sie lachend durch die Luft. Sie küssen sich, als er sie wieder absetzt. Langsam drehe ich mich zu Mirana, die die beiden breit grinsend beobachtet - Und zwar so, als wäre es vollkommen normal. Ist dieser Mann wirklich derjenige, von dem ich denke, das er es ist? Wenn das zutrifft, warum geht er so mit Avery um?

»Ainsley, es gibt Besuch.«
Er dreht sich zu mir, sofort versteift sich der Gesichtsausdruck. Ainsley? Aber der zweite Prinz heißt Ainslen Ryan Mel Borghese. Halt. Der zweite Prinz. Mein Ziel.
»Das sehe ich«, meint er kühl. Ich verneige mich.
»Na- Reverie, das ist... Darf ich es sagen?«, wendet sich Avery an den Prinzen. Fragezeichen bilden sich in meinem Kopf. Er sieht von Mirana zur Baroness, ehe er ergeben seufzt.
»Danke. Reverie, das ist Ainsley Ryan Mel Borghese - Unsere erste... Prinzessin.«

»Was?«
Mehr bringe ich nicht heraus. Das Königshaus hat doch zwei Söhne - Seit wann gibt es eine Prinzessin? Er - oder sie? - lächelt verlegen. Aber der Körperbau ist typisch männlich, auch die Gesichtszüge erinnern an einen Mann.
»Geboren wurde ich als Prinz, aber... Ich fühle mich nicht so. Als Prinzessin ist es einfach besser für mich, ich weiß auch nicht«, ein Seufzen, »Es wissen nicht viele, nur meine engsten Vertrauten. Aber da Avery dich hierhergebracht hat, nun ja. Sprich mich bitte so an.«
Dass ein Mitglied der Königsfamilie mich etwas bittet, irritiert mich zusätzlich zu den Worten. Noch nie habe ich etwas in der Art gehört, aber irgendwie... Klingt es logisch. Ich verstehe es nicht, doch solange es Ainsley glücklich macht, gerne doch.

»Natürlich, Prinzessin«, erwidere ich also lächelnd. Erleichterung macht sich in ihrem Gesicht bemerkbar.
»Danke.«
»Aber Avery... Kannst du mir das erklären?«
Ich deute auf das ganze Gemach um mich herum. Sie verstehen sich alle offensichtlich blendend - Was habe ich verpasst? Die Baroness sieht mich an, dann zur Prinzessin und ihrer Zofe. Schließlich seufzt sie.

»Du bist nicht die einzige, die sich verliebt hat.«

Ich starre sie perplex an. Mein Blick wandert von einer Anwesenden zur nächsten, verlegene Mienen begegnen mir. Avery und Ainsley... sind zusammen? Zwei Frauen? Andererseits - Was ist so schlimm daran? Warum sollten sie sich nicht so lieben können wie eine Frau und ein Mann? Ich hole tief Luft. Moment... Das bedeutet, dass ich durch Avery einen engeren Draht zur Prinzessin habe. Und dass Avery die nächste Königin werden könnte.

»Verstehe... Ich muss euch dreien etwas erzählen. Ich brauche eure Hilfe«, lächele ich.

28 368 Wörter - das Ende ist nicht mehr fern!

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