𝖾𝗉𝗂𝗅𝗈𝗀.
Dass ich gedanklich die Ereignisse, die mir widerfahren sind, durchgehen kann, überrascht mich. Genauso wie die Tatsache, dass die Erinnerungen an den Mord verschwommen sind. Vielleicht ist es besser so. Hin und wieder rumpelt es um mich herum, der Boden erzittert. Ist das der Tod? Ist Ash hier? Ein besonders starkes Beben lässt mich meine Wunde spüren. Ich stöhne auf. Nein, tot bin ich wohl nicht.
»Nancy?«, wispert eine mir vertraute Stimme, ich spüre Chrysans weiche Hand an meiner Wange. Vorsichtig schlage ich die Augen auf. Das Licht ist gedämmt, doch ich erkenne meine Freundin. Sofort muss ich lächeln.
»Du bist wach...«, bringt sie fassungslos heraus, zieht mich an sie. Schwach erwidere ich die Umarmung, während ich ihre Wärme spüre und ihren Duft aufnehme. Es tut so gut, in ihren starken Armen zu liegen, obwohl ich verwundet bin.
»Ich habe mir so viele Sorgen gemacht, du hast so viel geblutet und... Und überhaupt...«, schluchzt Chrysan, was ein Stechen in meinem Herzen auslöst. Sie soll nicht weinen, nicht wegen mir.
»Es wird wieder«, meine ich, »Ich bin da. Was ist passiert?«
Sie lässt von mir ab, legt mich aber auf ihre Beine. Nachdem ich mich rasch umgeblickt habe, wird mir klar, dass wir uns in einer einfachen Kutsche befinden müssen.
Hölzerne Stützen halten ein großes Leinentuch und einige Kisten stapeln sich neben uns. Ich drehe meinen Kopf zu der Richtung, in die wir fahren. Lorcans Rücken ist über dem Kutschbock zu sehen und zwei Pferde vor ihm. Stimmt, ich habe ihn beauftragt, uns eine Fluchtmöglichkeit zu suchen, immerhin hatte er die besten Kontakte im Palast. Wie lange war ich wohl weg?
Mein Blick fällt auf meine Verletzung, die mit Stoffstreifen eng verbunden wurde. Das Material ist wohl der Saum meines Ballkleides. Ich fühle mich geschwächt, aber lebendig.
»Ich habe dich weggetragen, du bist in Ohnmacht gefallen. Lorcan hat mir geholfen, dich notdürftig zu verarzten, dann sind wir sofort losgefahren. Was im Palast vor sich geht, weiß ich nicht. Vermutlich erst einmal Chaos, dann wird der König Ainsley zum Nachfolger ernennen.«
Ich nicke. Letztendlich ist alles gut ausgegangen - Trotz Dakotas Verrat. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er es ist, der uns an Waverly verrät. Jetzt ist er auch tot. Ich sehe wieder in Chrysans wunderschöne blaue Augen. Sie hat mich ganz allein getragen - Das muss doch unglaublich anstrengend gewesen sein. Mir wird bewusst, dass sie mich auch hätte liegen lassen können, um nur sich in Sicherheit zu bringen. Aber das hat sie nicht getan.
»Nancy, bist du wieder wach?«, fragt Lorcan von vorne.
»Ja, das bin ich«, erwidere ich mit zittriger Stimme. Er steuert den Wegesrand an und hält die Pferde an, um über den Kutschbock zu uns nach hinten zu klettern. Lorcan lässt sich gegenüber von Chrysan neben mir nieder. Sein normalerweise perfektes Haar ist wirr und Stress hat Furchen in sein Gesicht gegraben, aber aufrichtige Freude funkelt in seinen wasserblauen Augen auf.
»Danke euch beiden«, wispere ich. Zu einer höheren Lautstärke bin ich gerade, glaube ich, nicht fähig. Und wie ich diese Gefühle in mir ausdrücken sollte, weiß ich auch nicht. Ohne die beiden hätte ich nicht überlebt.
»Wir müssen dir danken«, grinst Lorcan, »Ich wäre beinahe bis an mein Lebensende Bote einer Mörderin gewesen.«
»Na ja«, erwidere ich, »Jetzt sitzt du in einer Kutsche mit einer Mörderin.«
Er winkt ab.
»Das zählt nicht. Du bist nicht so wie Waverly. Vor dir habe ich keine Angst.«
»Warte nur, bis ich wieder auf die Beine komme«, grinse ich, »Dann mach ich dich fertig.«
Lorcan erblasst tatsächlich etwas, denn obwohl er so groß ist, ist er nicht halb so stark und geschickt wie seine Schwester. Diese ist es auch, die ihm zuvorkommt.
»Ganz sicher nicht. Du wirst dich erstmal erholen, Süße. Lorcan kann auch ich zerstören, wenn du willst. Aber deine Gesundheit hat erst einmal höchste Priorität«, weist sie streng an, doch hinter den blitzenden Augen verbirgt sich innige Zuneigung. Lächelnd richte ich mich etwas weiter auf, sofort stützt sie mich und legt meinen Arm um ihre Schultern, damit ich zumindest einigermaßen gut sitzen kann.
»Natürlich werde ich das«, gehorche ich ihr. Etwas anderes habe ich gar nicht vor, da ich fürchte, dass meine Verletzung sofort aufreißt, wenn ich eine falsche Bewegung mache.
»Sehr gut. Freut mich, dass ihr euch so gut versteht. Ich werde dann weiterfahren«, informiert uns Lorcan, »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Wohin geht es denn?«, erkundige ich mich.
»Weit, weit weg. In Sicherheit«, antwortet Chrysan für ihren Bruder, »So, wie du es mir versprochen hast, Süße.«
Lorcan grinst und erhebt sich. Wenige Sekunden später setzt sich die Kutsche wieder in Bewegung, doch ich kriege das nur am Rand mit, bin gefangen in dem wunderschönen Blick meines Gegenübers. Ich kenne dieses Gefühl. Es ist dasselbe, das ich bei Ash verspürt habe - Und doch so anders.
»Wie ich es dir versprochen habe, Chrysan«, wispere ich. Obwohl es sich merkwürdig anfühlt und ich viel mehr Kraft als normalerweise dafür benötige, fahre ich ihr durch die goldenen Haare. Sie blinzelt verblüfft, leichtes Rot ziert ihre Wangen. Ich weiß nicht, ob das richtig ist oder ob ich das verdient habe. Nach allem, was ich getan habe.
Immerhin habe ich den Kronprinzen erst angelogen und schließlich getötet, genauso wie seine Verlobte. Auch an dem Tod meines ehemaligen Verbündeten bin ich schuld. Ich war mir für wirklich nichts zu schade. Und das alles, um Ash zu retten, meinen Geliebten, der gestorben war, weil er jemandem im Wag stand. So wie ich auch hätte sterben sollen.
Die ganze Zeit über habe ich daran festgehalten. An ihm, an meinem alten Leben und habe nicht gemerkt, dass ich es hinter mir lassen sollte - Ich habe mich zu sehr verändert, um Nancy zu bleiben. Aber auch Reverie Lohen ist niemand, der ich sein will. Wann hat sich meine Motivation geändert? Ab wann wollte ich einfach nur alles tun, um den Fesseln des Vergangenen zu entkommen und mit Chrysan zu fliehen?
Ich fahre ihren Wangenknochen entlang, sie beugt sich zu mir hinunter. Ich bin weder Nancy, noch Reverie. Rev. Rev ist die Person, die ich sein will, und zwar in Chrysans Armen. Mit Lorcan, in Sicherheit. Weit weg von allem, was passiert ist. Es wird Zeit, etwas Neues zu beginnen, und den ganzen Rest zu vergessen. Es ist der erste Kuss seit Langem, bei dem ich wirklich etwas empfinde.
Ich habe mein Versprechen gehalten, Ash. Ich bin glücklich. Ohne dich.
31 458 Wörter - das Ende.
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