𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝖺𝖼𝗁𝗍.

Er kommt auf mich zu. Ich setze mein bestes falsches Lächeln auf – Und er erwidert es als würde er mich nicht erkennen. Moment. Hat Lorcan nicht gerade eben irritiert geblickt, als Chrysan mich offensichtlich als Reverie vorgestellt hat?
»Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Reverie«, begrüßt er mich, gibt mir galant einen Handkuss, »Ich heiße Lorcan Winstone.«

»E… Ebenfalls sehr erfreut«, bringe ich heraus und ziehe meine Hand so schnell wie möglich zurück, ohne dass es unhöflich erscheint. Ist das tatsächlich der Lorcan Winstone, mit dem ich das Blinddate hatte? Ohne Frage, er ist attraktiv wie damals auch – Es liegt wohl in der Familie - , aber ich hätte erwartet, dass er mich sofort mit belanglosem Zeug zu quatscht.

»Lor, warum ist eine königliche Kutsche hier?«
Chrysan stellt sich wieder neben mich und ehe ich es abwehren kann, nimmt sie meine Hand. Bei ihr allerdings weiche ich nicht zurück, erwidere den Druck sogar. Lorcan schwenkt seinen Blick zu seiner kleinen Schwester. Erleichtert atme ich aus, als ich seine Aufmerksamkeit nicht mehr habe.
»Ich bin nach zwei Wochen wieder zurück und das ist das Erste, was du mich fragst?«, beschwert er sich gespielt beleidigt. Chrysan grinst.
»Korrekt.«
Lorcan lacht auf, streicht sich eine Strähne hinters Ohr.

»Der Kronprinz ist gekommen«, meint er schließlich knapp. Chrysan und ich wechseln einen Blick. Der erste Prinz Jaime Oakley Archer Borghese – ein wahnsinnig langer Name, aber je länger der Name, desto höher der Rang – begibt sich selten auf Veranstaltungen. Deswegen weiß man auch wenig über ihn. Doch er hat einen makabren Ruf: Angeblich soll er egoistisch und arrogant sein. Außerdem sagt man, dass er mehrere Konkubinen hat oder gehabt hat, die nie den Palast verlassen dürfen.

Der Unterschied zwischen einer Mätresse und Konkubine ist, dass ein Adeliger – oder eine Adelige – jemanden zur Mätresse holt, wenn wahre Gefühle im Spiel sind. Mätressen haben mehr Rechte, auch politischen Einfluss, und zählen als Geliebte des Adeligen. Konkubinen sind nur da, weil der Adelige es so will. Die Gefühle sind hier einseitig, wenn überhaupt.

»Bevor du fragst, ich weiß auch nicht, warum«, seufzt Lorcan, »Ich überbringe nur Briefe, ohne sie zu lesen.«
Seine Worte bemerken Chrysan und ich kaum, denn der Kronprinz tritt aus der Kutsche. Er braucht keine Krone, damit man merkt, dass er der königlichen Familie angehört – Seine Ausstrahlung genügt. Außerdem ist er so attraktiv wie man sich einen Prinzen vorstellen würde. Ein Raunen geht durch die Menge, hauptsächlich von den Mädchen.

Dunkle, wie beabsichtigt zerzauste Haare hängen ihm in die Stirn. Langsam lässt er seinen kühlen Blick über die Menge schweifen. Es ist ungewohnt, einen Mann in schwarzer Kleidung im südlichen Teil Seraviras zu sehen, der bekannt für seine hellen Stoffe ist, die auch jeder trägt. Da es das erste Mal ist, dass ich den Kronprinzen sehe, fängt er mich sofort mit seiner atemberaubenden, gefährlichen Aura. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Chrysan unbeeindruckt die Augenbrauen hebt.

»Lorcan Winstone!«, ruft ein – der Aufmachung nach höher gestellter – Bote nach dem jungen Mann. Lorcan wirft uns beiden einen entschuldigenden Blick zu, ehe er sich zu den anderen gesellt. Jaime wird dadurch auf ihn aufmerksam, verfolgt seinen Weg zurück. Seine finsteren Augen begegnen meinen. Einige Sekunden lang scheint er mich zu mustern. Auf die Entfernung ist es schwer zu erkennen, doch ich glaube, die Andeutung eines Grinsens in seinem wie in Stein gemeißelten Gesicht zu bemerken. Gänsehaut überzieht meinen Körper.

Die Boten verneigen sich vor dem Kronprinzen und bilden gemeinsam mit der sich ehrfürchtig teilenden Menge einen Gang für Waverly, die erhaben zu ihrem Gast stolziert. In dem Chaos gehe ich untern, verbeuge mich dennoch, um nicht aufzufallen. Dass ich meine Augen verdrehen muss, ist nicht zu vermeiden. Irgendwann wird sie das alles zurückbekommen.

Als der Prinz zu seiner Gastgeberin schreitet, wird es still auf dem Platz. Anspannung steigt auf, obwohl ich nicht sagen könnte, weshalb oder woher. Jaime hat etwas an sich, das einschüchtert. Ich bin froh, ihm nicht früher begegnet zu sein. Waverly begrüßt ihn gemäß ihres Standes mit dem perfekten Knicks und demütigen Miene. Heuchlerin. Zur Überraschung aller Anwesenden gibt Jaime ihr einen Handkuss – Und verneigt sich selbst. Der Kronprinz verneigt sich vor einer jungen Gräfin.

»Eure Durchlaucht.«
Obwohl Jaime zu wispern scheint, hört man seine tiefe Stimme klar verständlich. Ich erzittere. Liegt meine Einschüchterung daran, dass er ein Mitglied der Königsfamilie ist oder liegt es wirklich an ihm selbst? Es ist ein vages Gefühl, dass mir verrät, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Doch es ist dasselbe Gefühl, das ich direkt bei Waverly hatte. Ich spanne mich an.

»Eure Hoheit. Vielen Dank für den hohen Besuch«, erwidert diese wie auswendig gelernt. Ich werde sie abstechen.
»Ich habe für die Einladung zu danken«, entgegnet der Kronprinz galant und bietet ihr seinen Arm an. Wie bei Ash auch hakt sie sich unter. Es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben, doch ich habe keine andere Wahl. Nun senken die Adeligen ihre Stimmen. Wir Angestellten warten, bis sie im Haus verschwunden sind, ehe wir uns ebenfalls wieder in Bewegung setzen.

Dakota fängt meinen Blick auf, bevor er sich umdreht, und nickt so knapp, dass es anderen nicht aufgefallen wäre. Heute treffen wir uns wieder – Er hat mir zu berichten, was die ach so tollen Adeligen besprechen.

Viel zu lange hänge ich mit den anderen Angestellten im Gemeinschaftsraum ab. Für Lorcan und die anderen Boten haben wir eine kleine Willkommensfeier organisiert, die Stimmung ist ausgelassen. Dennoch schweift mein Blick ständig zur Uhr. Dakota und ich treffen uns normalerweise gegen Mitternacht in einem verlassenen Gang des Anwesens. Die Räume dort werden aktuell nicht genutzt, deswegen haben wir zumindest einigermaßen unsere Ruhe dort.


»Ich werde schon einmal gehen«, verabschiede ich mich von Chrysan, »Ich bin ziemlich müde. Immerhin hast du mich heute früh aus dem Bett geworfen.«
»Bleib doch noch etwas«, protestiert sie und greift nach meinem Handgelenk, als ich mich erhebe. Bittend blickt sie mich aus den wunderschön funkelnden Augen an. Sie weiß genau, wie sie ihr Aussehen zu ihrem Vorteil nutzen kann – Solch einer Person kann man nichts abschlagen.

Mich schmerzt der Gedanke, dass Chrysan eines Tages erfahren wird, weshalb ich wirklich hier bin. Über den Mord an Ash hat man damals viel getuschelt und obwohl es einige gab, die den Vorfall merkwürdig fanden, hielt der Großteil zu Waverly und glaubte ihrer Lügengeschichte. Chrysan hat sich rausgehalten, aber ich bin mir sicher, dass sie mich verachten wird, wenn sie die Wahrheit kennt. Und das will ich nicht.

»Lass sie gehen«, mischt sich nun auch Lorcan ein, »Ich begleite Reverie auf ihr Zimmer.«
Entgeistert schnellt meine Aufmerksamkeit zu ihm. Scheiße, nein. Ich hatte vor, direkt zu Dakota zu gehen – Das ändert meine Pläne. Ich gebe ein bescheidenes Lachen von mir, in dem Versuch die Situation zu retten.
»Das ist nicht nötig, vielen Dank.«

»Das sehe ich anders«, beharrt Lorcan. Verdammt, hat er mich etwa erkannt? Nein, sicher nicht. Ich habe mich verändert in der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben… Aber reicht das? Chrysan murrt etwas. Die folgende Diskussion zwischen den Geschwistern kriege ich nur halb mit. Am liebsten würde ich mich davonstehlen, doch meine Freundin hält nach wie vor meinen Arm fest. Schließlich lässt sie los.

»Na gut. Aber nichts Unanständiges machen, Lor.«
Lorcan hebt die Augenbrauen. Mein verstörter Blick schweift von einem Geschwisterteil zum anderen.
»War nur Spaß«, flötet Chrysan, zwinkert mir zu und verschwindet zwischen ihren anderen Freundinnen. Fassungslos sehe ich ihr hinterher. Irgendwie erinnert sie mich an Avery – Mit einer eigenen, besonderen Note.
»Gehen wir«, meint Lorcan knapp. Mulmig folge ich ihm aus dem Gemeinschaftsraum. Eine Weile lang laufen wir schweigend nebeneinander den Gang entlang. Es macht mich nervös, dass er nichts sagt.

»Wie war die Reise?«, versuche ich, mit Smalltalk zu beginnen. Er hat sich seit dem Blinddate verändert. Der Lorcan, den ich kennengelernt habe, hätte mich längst mit unsinnigen Geschichten vollgequatscht.
»Interessant«, erwidert er knapp. Ich nicke langsam, will ihn damit zum Weitersprechen auffordern, doch er versteht den Wink nicht – Oder er will ihn nicht verstehen. Ruhig bleiben, Nancy. Du darfst dir nichts anmerken lassen. Wie konnte ich Lorcan vergessen und dass er bei den Chambers angestellt ist? Soll ich ihn aus dem Weg räumen? Ich werfe einen Seitenblick auf ihn. Nein, noch weiß ich nicht, ob er überhaupt eine Gefahr für mich ist. Außerdem kann ich das Chrysan nicht antun.

Unsere Schritte hallen unangenehm nach. Mit einer Sicherheit als wäre er den Weg schon tausendmal gelaufen führt mich Lorcan zu meinem Zimmer. Kein Wunder, es ist auch das seiner Schwester. Sie scheinen sich nahezustehen. Wie es wohl ist, wenn man Geschwister hat? Ich habe keine andere Familie als meine Eltern. Und über sie habe ich Schande gebracht. Beinahe entweicht mir ein Seufzen.

Schließlich gelangen wir zur Tür. Ich beschleunige automatisch. Einige Minuten werde ich darin warten, dann werde ich zum Treffpunkt schleichen. Ich müsste genug Zeit für ein relativ ausführliches Gespräch haben, Chrysan ist gerne unter Leuten.
»Vielen Dank für die Eskorte«, wende ich mich an Lorcan. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er auf mich herab.

»Gerne, Reverie. Oder sollte ich eher sagen: Gerne, Nancy.«
Sein Ton ist eiskalt, sofort gefriert mein Inneres. Höchstwahrscheinlich erbleiche ich so sehr, dass er es auch im Halbdunkeln erkennen kann. Ich will etwas sagen, irgendeine Lüge, die mir hilft, aber er kommt mir zuvor.
»Ich dachte es mir. Du bist hier.«

Na ja. Jetzt ist alles egal. Ich straffe meine Schultern und entgegne seinem feindseligen Blick mit derselben Intension. Wenn er mir drohen will, muss ich mir einfallen lassen, wie ich seinen Tod als Unfall darstellen lassen kann. Es tut mir wirklich leid für Chrysan, aber mein Ziel ist zu wichtig, Ash zu deutlich vor meinem inneren Auge. Für ihn würde ich alles geben – Vielleicht auch den letzten Rest Menschlichkeit.
Meine rasche Wandlung von verlegen zu selbstbewusst scheint Lorcan zu überraschen. Vermutlich hat er damit gerechnet, dass ich einknicken würde, sobald er meinen alten Namen erwähnt.

»Du bist es auch«, erwidere ich trocken. Ich kann ihm ansehen, dass er etwas tun will, doch er ist unbewaffnet und kein Soldat. Chrysan ist die stärkere der beiden Geschwister.
»Ich habe meinen Grund!«, schleudert er mir einen Ticken zu laut entgegen, aber davon lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Seltsamerweise macht es Spaß, ihn so verzweifelt zu sehen.

»Den habe ich auch.«
Einige Sekunden lang starrt Lorcan mich berechnend an, versucht aus mir schlau zu werden. Scheitert allerdings. Mir würde es an seiner Stelle nicht anders ergehen.
»Du hast Lord Ashton umgebracht. Wenn dein nächstes Opfer Chrysan ist, musst du erst an mir vorbei«, zischt er schließlich. Immerhin ist es nicht so, dass du fast schwächer bist als ich, hm?

»Keine Sorge, ich werde mich nicht an deiner Schwester vergreifen. Warum sollte ich? Und ich habe Ash nicht umgebracht«, meine Stimme zittert plötzlich, wird leiser, »Ich habe ihn geliebt.«
Höhnisch lacht Lorcan auf.
»Na, sicher! Und wer hat ihn dann erstochen? Unsere Gräfin persönlich oder was?«

Als Antwort blicke ich ihm tief in die Augen, die sich langsam weiten. Der Spott verschwindet allmählich, dafür tauchen Fragezeichen in seiner Miene auf. Eine vereinzelte Träne fließt aus meinem Augenwinkel, doch ich wische sie nicht weg. Ich bin wohl immer noch nicht darüber hinweg. Andererseits – Wie könnte ich bei Ash?

»Wa…?«
Nicht einmal ein ganzes Wort bringt Lorcan heraus. Anscheinend ist mein Ausdruck so ehrlich, dass er ihn überzeugt. Fassungslos weicht der Mann einen Schritt zurück, hält sich den Kopf. Versucht das alles in seinen Kopf zu kriegen, während ich kaum glauben kann, dass er die Wahrheit so schnell annimmt. Ist das gespielt oder ist er tatsächlich so naiv? Hoffentlich ist es seine echte Überzeugung.

Mir gelingt ein halbherziges Lächeln. So benommen und überfordert wie Lorcan aussieht wäre er wirklich kein Gegner gewesen, selbst für mich – Aber wenn er auf meiner Seite steht, müssen wir uns nicht einmal gegenüber treten. Ich lasse mir den Gedanken durch den Kopf gehen. Mehr als einen Verbündeten zu haben wäre nicht schlecht… Dafür hingegen müsste er vertrauenswürdig genug sein.

»Was hältst du von Waverly?«
Ich lasse absichtlich den Titel weg, um seine Reaktion zu prüfen. Er lässt es sich nicht anmerken, falls er das unangebracht finden sollte.
»Nicht viel«, gesteht er, »Wie die meisten Angestellten hier. Sie ist so viel anders als ihre Mutter es war. Und so perfekt wie sie sich gibt – So perfekt kann keiner sein. Aber dass sie… Meine Güte, mir hätte vorher klar werden sollen, dass du Lord Ashton nicht ermordet hast. Und dann auch noch das, was wir mit dem Kronprinzen verhandelt haben! Diese Frau hat das alles geplant!«

Entgeistert starrt er mich an, Ehrlichkeit ist in seinem Blick. Er ist nicht der Typ Mensch, der das vorspielen könnte. Ich dachte, dass Dakota mir die Information überbringt, aber sie direkt von einem Boten zu erhalten, ist noch besser.
»Was habt ihr verhandelt?«, frage ich also. Lorcan schweigt einige Sekunden lang.

»Eine Verlobung.«

18 222 Wörter - bald ist es soweit!

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