Kapitel 6

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen und sanfte Strahlen fielen in mein Zimmer. Ich streckte mich kurz aus und warf dann die Decke beiseite. ,,Brr... Ziemlich kalt!", bemerkte ich. Verschlafen schwankte ich die Treppen nach unten und sah mich nach Lucy und Iwan um. In der Küche entdeckte ich Iwan, der für uns alle eine Schüssel Müsli bereitstellte.
,,Wo ist Lucy?", fragte ich ihn, während ich mir ein Auge rieb. ,,Sie schläft noch, du kannst sie gern wecken gehen, wenn du willst". Ich nickte kurz und lief die Treppen erneut nach oben. Vorsichtig klopfte ich an die Tür. ,,Keine Sorge, ich bin schon wach...", murmelte es von drinnen. ,,Ich komm gleich nach unten!"
,,Okay...", antwortete ich knapp. Wieso machte mich der Gedanke traurig, dass ich sie nicht schlafend sehen konnte? Ethan hör auf! Auf einmal hört man aufgebrachtes Schimpfen aus Lucys Zimmer: ,,Hättet ihr mich nicht früher wecken können!? In fünf Minuten fährt der Bus!"

Schnell stopfte ich mir ein paar Löffel von dem Müsli in den Mund. ,,Dafür ist keine Zeit komm schon!", maulte Lucy und zog mich am Arm nach draußen. ,,Ich kann doch nicht ohne Essen aus dem Haus!", beschwerte ich mich und sah traurig, der noch fast vollen, Müsli Schüssel hinterher. Der Bus fuhr in die Einfahrt ein und wir erreichten ihn gerade noch rechtzeitig. Lucy bezahlte die Fahrt und wir zwängten uns durch die Menge, um noch einen Platz zu erwischen. ,,Dafür, dass die Stadt so klein ist, sind hier ziemlich viele Menschen...", murmelte ich.

,,Vielleicht sollten wir mal alle drei die Stadt erkunden."
"Gute Idee!", antwortete ich, noch immer mit dem Blick aus dem Fenster gerichtet. Der Bus hielt an und Lucy und ich stiegen aus. Es war kein langer Fußweg um das Café zu erreichen. In leuchtenden Buchstaben hing über dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: "Lucile's Creole Café".

Ich sah mich beeindruckt um. "Wow... und hier arbeitest du?"
Lucy nickte stolz und betrat das Café. Die Wände waren aus Ziegelsteinen aufgebaut, worüber sich ein paar Plakate und Portraits mir unbekannter Künstler befanden. Auch Boden, Stühle und Tische wurden mehr in einem Braunton gehalten. Trotz allem sah das Café modern und einladend aus. Das warme Licht welches von der Decke hinableuchtete, ließ alles noch viel bequemer und einladender erscheinen.

Wir beide sahen uns fassungslos um. Ich begann mir vorzustellen, wie gut Lucys warmes Gesicht in diese Atmosphäre passte. "Hier arbeitest du also! Was soll ich übernehmen?", fragte ich sie motiviert.

"Am besten übernimmst du erstmal die Bedienung", schlug Lucy vor und ich überkreuzte die Arme grinsend. 
"Das willst du doch nur, weil ich besser als du Englisch spreche!"
Sie sah mich nicht an, während sie sich ihre Schürze umband: "Wer weiß"

Ich lachte leicht und band mir ebenfalls die Schürze um.  Die Arbeit war um einiges anstrengender als erwartet. Besonders beunruhigend waren Kunden die sich nicht gerade freundlich verhielten, oder andere die tatsächlich auch versuchten mit mir zu flirten. Ich war relativ froh, dass Lucy nicht auch als Bedienung so viel mit den Gästen zu tun hatte. Vermutlich, war das Café doch in einer relativ unsicheren Gegend platziert. Nichts desto trotz hatte es Spaß gemacht. Es machte mir Spaß das Leben wieder richtig in Angriff zu nehmen! Mit seltsamen Menschen hatte ich im Gefängnis genug zu tun gehabt, dagegen war das im Café wirklich nichts gewesen. Es war an der Zeit wieder richtig in das normale Leben einzutauchen und ich konnte es kaum erwarten! 

Auf dem Weg nach Hause saßen Lucy und ich wieder nebeneinander und ich sah nachdenklich aus dem Fenster: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich bald wieder Schule habe"

Lucy sah mich an und lächelte entschuldigend: "Du hast noch so einiges nachzuholen!"

"Hast Recht...", murmelte ich und unser Haus erschien sobald der Bus die nächste Kurve hinter sich legte. Wir stiegen aus und betraten das Haus. Iwan schien uns bereits von weitem zu hören und schrie uns zu: "Wie war's?"

"Super!", schrie ich zurück, während Lucy zur selben Zeit mit 'Anstrengend' antwortete. 

"Man ihr seid euch ja mal einig", murmelte Iwan lachend und verließ das Badezimmer, was er gerade scheinbar am Putzen gewesen war. 

Iwan hatte uns Essen vorbereitet und wir setzten uns gemeinsam an den Tisch um genüsslich das genießen zu können, was er vorbereitet hatte. Den Geschmack von leckerem, selbst gekochtem Essen hatte ich furchtbar vermisst. 

"Ist bei dir irgendwas interessantes passiert?", fragte ich ihn kauend und Iwan schien zu überlegen. 

"Die Gegend ist wirklich anders, als in Bremen! Hier laufen gerne Leute rum und werfen dir Flyer für irgendwelche Sekten in den Briefkasten! Heute stand sogar ein Typ vor unserer Tür und meinte, dass ich aufpassen sollte, wem ich vertraue. Wobei... In Bremen ist es auch nicht gerade unwahrscheinlich, dass so etwas passiert", lachte Iwan während Lucy und ich ihn beunruhigt beäugten. 

"Macht euch keine Gedanken! Das hat nichts damit zu tun!", murmelte Iwan lächelnd und wir nickten langsam. Iwan tat immer so stark uns gegenüber. Ich hatte noch immer nicht verstehen können, wieso überhaupt noch was mit mir zu tun haben wollte. Bei Lucy hatte es mich bereits überrascht, aber Iwan...? Klar, ich hatte es nicht mit Absicht getan... Wenn ich es rückgängig machen könnte würde ich es tun! 


                                                                                     *   *   *


"Was denkst du jetzt Ethan? Würdest du es gerne rückgängig machen? All das? Was würdest du ändern? Wenn du es vorher gewusst hättest, wärst du jemals nach Deutschland gekommen? Hättest du dich von Bryan ferngehalten, oder hättest du versucht ihn zu warnen?"

Ein Grinsen. Ohne jegliche Freundlichkeit. Wessen Stimme war das? Wieso fragte ich mich das überhaupt. Die Stimme konnte nur einem gehören... 

Wenn Träume weniger beängstigend wären als die Realität, dann hätte ich am nächsten Tag gerne verschlafen... Nur allzu gut konnte ich Bryan nun nachvollziehen. Bryan, der nachts immer geschrien hatte, während seiner Albträume. Ob diese ihn vielleicht sogar gewarnt hatten? Hatte Bryan ihm damals die Wahrheit darüber erzählt, was er geträumt hatte?

Natürlich hatte ich nur zwei Stunden geschlafen und war wiedermal aus dem Schlaf geschreckt. Seufzend setzte ich mich im Bett und rieb mir die Schläfen. Albträume standen inzwischen auf meinem nächtlichen Programm. Auf leisen Sohlen begab ich mich ins Badezimmer, verschloss die Tür und sah in den Spiegel. 

"Kannst du nicht schlafen?", Bryan sah mich schief an während ich nur mit den Schultern zuckte. "Albträume...", murmelte ich und setzte mich vor ihn auf den Rand der Badewanne. Er sah mich an. "Wovon?", fragte er sanft und ich presste meine Lippen zusammen. 
"Du weißt schon... Von dem was ich dir angetan habe... Und immer wieder von Direktor Schwarz...", ich konnte ihm noch immer nicht in die Augen sehen. In den gesamten fünf Jahren war es mir kaum möglich gewesen ihn wirklich anzusehen. 

"Ethan... Du hast versucht mich zu retten. Ich wäre so oder so gestorben... Aber dadurch, dass du es warst muss ich jetzt wenigstens nicht jeden Tag diesen Mistkerl sehen!", grinste er. 

"Ich wollte aber, dass du überlebst...", murmelte ich erneut und stützte meinen Kopf in meine Hände. "Der Typ läuft noch immer frei rum und ich kann absolut nichts dagegen tun!"

Bryan schwieg für eine Weile. "Er wird noch seine gerechte Strafe bekommen. Aber jetzt leg dich hin und schlaf! Träum von irgendwas schönem! Du kannst ja von Lucy träumen".

Ich merkte, wie meine Wangen sich rot verfärbten: "Bryan...!"
"Was ist? Dafür, dass du mir die Freundin klaust, darf ich dich doch bestimmt ein bisschen ärgern, oder?", er lachte erneut. "Und jetzt hör bitte auf dir Vorwürfe zu machen. Du kannst nichts dafür, okay?"

"Okay...", ich nickte und lächelte leicht, bevor ich langsam zurück in mein Zimmer schlich und erneut versuchte zu schlafen. 

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