Kapitel 4

04. November

Ich betrete den Hörsaal pünktlich wie immer. Still setze ich mich an einen Platz und krame meine Sachen heraus. Langsam füllt sich der Saal und die Stimmen meiner Mitstudenten erfüllen den Raum. Ich falle gar nicht auf und fühle mich mal wieder unscheinbar und uninteressant.
Da spricht mich mein Sitznachbar plötzlich an. Ich habe ihm gar nicht zugehört und weiß jetzt nicht so recht wie ich reagieren soll. Der blonde Lockenkopf lacht fröhlich und ich vermute, dass er etwas Nettes gesagt hat. Also lächle ich zaghaft.

»Ja echt, ein mega Wochenende. Warst du auch auf der Party bei Lace am Samstag?«

Ich schüttle den Kopf und er redet weiter.

»Wow, da hast du was verpasst.«

Einen Moment lang schaut er mich an, bevor er die Augenbrauen fragend zusammenzieht.

»Ich habe dich noch nie auf einer der Verbindungspartys gesehen. Ist das nicht dein Ding oder wie hast du dich vor mir versteckt?«, fragt er mit breitem Grinsen.

»Ich muss am Wochenende meist arbeiten«, erkläre ich kurz. Dann wende ich schnell meinen Blick von ihm ab und betrachte schweigend meine Hände, die auf meinem Schreibblock ruhen.

Meine Haare fallen seitlich über die Schultern nach vorne und bilden einen kleinen Vorhang zwischen uns. Professor Miller betritt den Hörsaal und ich bin ganz froh, dass mein Sitznachbar die restliche Stunde einfach auf seinem Blatt herumkritzelt.
Unsere Aufgabe bis zur nächsten Stunde ist es, einen Aufsatz über die Macht der Worte zu verfassen, an dem ich direkt nach meinen Kurs auch arbeite.

Ich setze mich in das kleine Café, in dem ich gerne bin, ganz hinten in die Ecke und bestelle mir einen Karamellmacchiato. Dann schlage ich meinen Block auf. Zu diesem Thema fallen mir direkt tausende von Dingen ein, so dass es mir sogar schwer fällt meine Gedanken zu sortieren. Doch dann greife ich einfach den Stift und schreibe drauf los.

Ich lernte Worte schnell gleichermaßen zu lieben und zu hassen, denn nur durch sie kann man etwas Wundervolles, Weltbewegendes und Faszinierendes entwerfen. Worte erschaffen Bilder und laden zum Träumen ein. Sie drücken unsere Gefühle aus und können Menschen unwahrscheinlich glücklich machen. Doch sind Worte nicht mit Bedacht gewählt, sind sie in der Lage Gefühle ebenso zu verletzen. Dann streuen sie Zweifel, Wut und Trauer. Sie haben die Macht ein Herz zu heilen oder es zu zerstören. Abhängig davon wie man sie verwendet, schüren sie Freude oder Leid. Sie können bestärken oder vernichten...

»Leni Jones?«

Erschrocken schaue ich auf.

»Hey. Eine schöne Überraschung dich zu treffen.«

Ich muss nach Atem ringen.

»Hallo.«

»Ich war nur kurz auf dem Sprung und wollte mir einen Espresso für unterwegs mitnehmen, aber wenn du erlaubst würde ich dir gerne kurz etwas Gesellschaft leisten.«

Ich bringe kein Wort heraus und lächle verlegen. Justin zieht sich den Stuhl zurecht und nimmt mir gegenüber Platz.

»Was trinkst du?«, fragt er höflich.
»Einen Karamellmacchiato«, antworte ich kleinlaut.

Er winkt der Bedienung und ruft ihr zu:
»Einen doppelten Espresso und einen Karamellmacchiato für die Lady, bitte.«

Entspannt lässt er sich in den gepolsterten Stuhl zurücksinken.

»An was arbeitest du da gerade, Leni?«

Während er spricht blickt er mir direkt in die Augen, was mich etwas nervös werden lässt.

»Nur eine Hausarbeit«, tue ich das Thema schnell ab.

Er grinst und lehnt sich zu mir nach vorne ohne seine Augen von mir zu nehmen.

»Erzähle mir etwas über dich.«

Verschämt wende ich den Blick ab und schaue aus dem Fenster.

»Über mich gibt es nicht sehr viel zu erzählen.«

Ich spüre wie meine Wangen erröten, meine Hände werden feucht. Als ich ihn wieder anschaue, ist sein Blick noch eindringlicher.

»Jeder Mensch steckt voller interessanter Kleinigkeiten, welches sind deine? Woher kommst du? Verrate mir mir deine Interessen«, seine Worte sind leicht, drohen mich aber irgendwie zu erdrücken.

Ich weiß nicht, ob es seine Absicht ist oder nicht, aber dieser Mann bringt mich aus dem Konzept. Er ist sympathisch und einschüchternd zugleich. Ich überlege kurz, wähle meine Worte mit Bedacht, bevor ich ihm antworte.

»Nun ja, ich stamme ursprünglich aus Utah und bin für das Studium hier her zu meiner Tante gezogen. Als es an der Zeit war, selbstständig zu werden, habe ich den Job im Catering angenommen und bin in ein Zimmer auf dem Campus gezogen. Ich befürchte also dir nicht wirklich etwas Spektakuläres über mich berichten zu können. «

»Was möchtest du nach dem College machen, Leni? «

Diese Frage ist für mich erheblich entspannter zu beantworten.

»Ich studiere englische Literatur, um später im Verlagswesen zu arbeiten. Es war schon immer mein Traum in Seattle zu leben.«

Er lächelt und ich muss zugeben, dass er ein wirklich atemberaubendes Lächeln hat. Er wirkt sofort um einiges jünger und viel weniger bedrohlich.

»Hast du morgen schon was vor? Ich würde dir gerne etwas zeigen.«

Jede Faser meines Körpers spannt sich an, mein Mund wird schlagartig trocken.

»Ähm, nein, ich habe nach der Uni nichts geplant.«

Bevor ich noch etwas hinzufügen kann, erhebt er sich von seinem Stuhl.

»Perfekt. Ich lasse dich gegen 18 Uhr abholen.«

Dann legt er einen Schein auf das Tablett, um die Rechnung zu begleichen, und verschwindet. Sichtlich verwirrt bleibe ich zurück. Er will mich morgen wiedersehen. Was will er mir denn zeigen? Außerdem hat er weder nach meiner Telefonnummer noch nach meinem Zimmer im Wohnheim gefragt.
Schnell trinke ich aus und gehe zurück zum Campus.

Oben in meinem Zimmer bin ich wie erwartet alleine. Nur der Klamottenberg auf Josephines Bett lässt darauf schließen, dass sie vorhin kurz hier war. Ich fahre mein altes Notebook hoch und suche im Internet nach Einträgen über Justin Cold, in der Hoffnung etwas mehr über diesen geheimnisvollen Mann in Erfahrung zu bringen. Es gibt zahlreiche Bilder von ihm, wie er Hände anderer Persönlichkeiten schüttelt und viele Informationen über sein Konzerte, doch nur wenig wirklich Privates. Er ist das einzige Kind von Jeremy und Pattie Cold und hatte wohl schon im Alter von Achtzehn seinem großen Durchbruch. Heute, mit vierundzwanzig, wird sein privates Vermögen auf weit mehr als zwanzig Millionen Euro geschätzt. Weiter lese ich noch über sein Engagement für obdachlose Kinder und die Förderung von jungen Künstlern.

Es ist beeindruckend wie weit er bereits gekommen ist. Gleichzeitig bekomme ich nur noch ein beklemmenderes Gefühl bei dem Gedanken ihm morgen wieder gegenüberzustehen, so dass sich ein flaues Gefühl in meinem Magen ausbreitet. Sein inniger Blick, seine elegante Art, sein ganzes weltgewandtes Auftreten verunsichern mich immens und egal wie sehr ich mich bemühe, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen was mich morgen erwartet.

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