Kapitel 32
10.Januar
Da ich gestern auf Justin gewartet habe, wurde es wieder einmal spät bis ich schlafen gegangen bin. Dafür bin ich heute so knapp dran, dass ich mich wirklich beeilen muss um noch halbwegs pünktlich zu meinem ersten Kurs zu kommen. In aller Eile fülle ich mir den Kaffee in meinen Thermobecher, ziehe meinen Mantel an und steige in den Fahrstuhl.
»Guten Morgen, Philippe!«, grüße ich im Vorbeirennen.
Aber er hält mich auf.
»Miss Jones. Einen Moment! Es wurde ein Brief für sie abgegeben«, ruft er.
Ich laufe schnell zurück an den Empfang und Philippe reicht mir einen weißen Umschlag. Hastig stecke ich ihn in meine Tasche während ich zum Auto laufe.
Zu meinem Glück sind die Straßen frei, so dass ich es gerade noch pünktlich in den Hörsaal schaffe. Leider sind kaum mehr Plätze frei und ich muss mich recht weit nach hinten setzen. Ich krame meine Unterlagen aus der Tasche als der Dozent hereinkommt.
Da fällt mir der Briefumschlag entgegen. Weil ich ihn so schnell in die Tasche gestopft habe, ist er ziemlich zerknittert.
Jetzt fällt mir auf, dass darauf weder meine Adresse noch ein Absender eingetragen wurde. Neugierig reiße ich den Umschlag auf und ziehe das Papier heraus.
›Ich habe dich gewarnt, aber du scheinst nicht zu verstehen.‹
Erschrocken starre ich auf die erste Zeile, traue mich kaum weiter zu lesen.
›Ich habe dich gewarnt, aber du scheinst nicht zu verstehen. Justin hatte unzählige Frauen, also bilde dir nicht ein du seiest etwas Besonderes. Er hat mit allen geschlafen und dann mit ihnen gespielt. Natürlich will er nicht, dass du es erfährst, aber du solltest es wissen. Er manipuliert die Frauen auf diese ganz besondere Art, bis er alles von ihnen bekommt was er will! Justin hat jede dazu gebracht, sich in ihn zu verlieben - was für ihn kein Problem war. Dann hat er sie vorgeführt, ausgenutzt und dafür gesorgt, dass sie wirklich an ihm hängen. Er sucht sich für seine Spielchen gezielt schwächere Charakter aus...‹
Es fühlt sich an, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Macht Justin das gerade auch bei mir? Würde er mir das wirklich antun? Ich starre weiter auf die Seite in meiner Hand, aber meine Sicht verschwimmt durch die Tränen, die sich unaufhaltsam in meinen Augen sammeln.
Wer hat mir diesen Brief geschrieben? Und woher wusste der Absender, wo er ihn für mich hinterlegen muss?
Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren und stürme hektisch aus dem Seminar, kaum dass die Stunde vorüber ist.
Die kalte Luft draußen schlägt mir ins Gesicht. Es ist fast schmerzhaft als die Kälte auf meine erhitzten Wangen trifft. Ich bin völlig aufgelöst und durcheinander. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, nehme ich mein Handy und rufe Justin an.
»Justin? Ich bin's. Ich... Ich habe heute früh einen Brief bekommen. Es ist... eine neue Warnung. Ich weiß nicht von wem...«
Für wenige Sekunden herrscht absolute Stille, dann ertönt seine raue Stimme.
»Hör mir ganz genau zu! Du kommst sofort nach Hause. Aber nicht ins Penthouse, fahr in die Villa zu Sebastian und Abigail. Fahr vorsichtig!«
Dann klickt es und er hat aufgelegt. Paranoid schaue ich mich immer wieder um, bis ich auf dem Parkplatz ins Auto steige und Gas gebe. Ich fahre schnell und rasant, obwohl ich mich ständig selbst zwingen muss meinen Blick auf der Fahrbahn zu halten. Das Gefühl beobachtet zu werden treibt mich an. Dieser Brief verängstigt mich. Jetzt will ich Antworten. Ich muss wissen, was hier los ist. Quer halte ich den Wagen vor den Treppen der Villa wo mich Abigail bereits in Empfang nimmt.
»Mister Cold hat mich angerufen, Sie sollen im Wohnzimmer auf ihn warten«, berichtet sie, »Ist denn alles in Ordnung?«
»Ähm... ja«, nuschle ich während ich die Treppen nach oben husche.
Nervös gehe ich auf und ab. Da fliegt die Tür zum Büro auf und Justin hetzt herein. Seine Hände umgreifen meine Arme, seine Miene ist ernst und besorgt.
»Geht es dir gut?«, fragt er schnell während er mein Gesicht mustert.
»Ja«, antworte ich leise.
»Justin, was soll das alles?«, füge ich fast schon hysterisch dazu.
Ich bin den Tränen nahe.
»Zeig mir den Brief!«, verlangt er spürbar aufgewühlt.
Ich ziehe das handschriftlich geschriebene Blatt aus meiner Hosentasche, reiche es ihm und sehe zu wie seine Augen über das Papier wandern.
»Weiß du, wer dir das gegeben hat?«, fragt er ohne aufzusehen.
»Nein. Der Brief wurde bei Philippe abgegeben«, erkläre ich.
Justin nimmt sein Handy und tätigt einen Anruf.
»Hallo Philippe, Justin Cold hier. Es wurde ein Schreiben für Miss Jones abgegeben. Können Sie sich an die Person erinnern, die ihn hinterlegt hat? ... Hmhm... Ja... Okay, vielen Dank.«
Dann legt er auf um direkt eine andere Nummer zu wählen.
»Niall! Ja... Es wurde ein Brief für Leni hier abgegeben... Ja genau... Ich befürchte es, der Portier konnte mir nichts Genaues sagen. Eine Frau mit Sonnenbrille... vielleicht findest du etwas heraus... Danke.«
Regungslos stehe ich da und beobachte Justin. Aus den Gesprächsfetzen wird klar, dass er vermutet der Brief könne von der Erpresserin stammen. Handelt es sich hierbei um die Frau mit der Federmaske? Niall ist wohl einer der Menschen, die er für seine Nachforschungen und Informationen bezahlt.
Justin fährt sich mit der Hand durch sein eh bereits zerzaustes Haar, bevor er sich mir zuwendet.
»Was ist hier los, Justin? Was bedeutet dieser Brief? Stimmt es was sie schreibt?«, dränge ich ihn zu einer Erklärung.
Schlagartig verändert sich seine Körperhaltung. Er ist verkrampft.
»Ja, es stimmt«, gibt er zu.
Mir wird schwindelig. Meine schöne Illusion von dieser Beziehung zerbröckelt.
»Also doch. Du spielst mit mir«, keuche ich niedergeschlagen.
»Nein Leni! Denk so etwas erst gar nicht. Bitte!«, bricht es aus Justin heraus.
»Ach ja? Dann klär mich endlich auf!«, fordere ich mit zitternder Stimme. Sein Brustkorb hebt sich als er tief einatmet.
»Warum ich dir den Vertrag angeboten habe, weißt du. Es war nicht geplant, dass ich mich tatsächlich in dich verliebe. Das hatte ich eigentlich nicht für möglich gehalten. Ich hatte noch nie ernsthafte Absichten bei einer Frau.«
Er hat sich wirklich in mich verliebt?
»Warum musste dieser Vertrag überhaupt sein? Warum versucht jemand dich zu erpressen?«, hake ich weiter nach.
»Leni, diese Frau ist eine Verrückte. Mehr musst du nicht wissen«, will er mir ausweichen, aber dieses Mal wird es ihm nicht so leicht gelingen.
»Diese Frau hat mich aber nun schon zum zweiten Mal vor dir gewarnt. Justin, sag mir jetzt endlich die Wahrheit!«, ich klinge scharf und entschlossen.
Ich will ihn spüren lassen, dass ich mich nicht weiter hinhalten lassen werde. Sein Widerwillen steht ihm ins Gesicht geschrieben. In seinem Inneren lodert es. Ich halte seinem Blick stand, bin nicht bereit nachzugeben.
»Gut. Setz dich!«, gibt er nach.
Aus dem Schrank holt er eine Flasche Scotch und gießt uns ein. Mit dem Glas in der Hand setze ich mich auf den Stuhl, während Justin sich an die Kante des Schreibtischs lehnt. Seine Augen wandern durch den Raum. Er scheint um Wörter zu ringen. Dann nimmt er einen großen Schluck, bevor er erzählt.
»Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich nie ein Mann für eine Beziehung war. Ich liebte mein ungebundenes Leben. Frauen, und was sie mir zu bieten hatten, hat mich schnell gelangweilt. Ich wollte etwas anderes versuchen. Irgendwann hat mich eine meiner Affären, Juliana, in einen Club mitgenommen... Kein Tanzclub... Es war genau das was ich brauchte. Ungezwungen, ausschweifenden, tabulos. In der Diskretion dieses Clubs konnte ich alles ausleben. Es gab keine Konsequenzen.«
Es ist ihm unangenehm mit mir so offen zu sprechen.
»Auch wenn Einige dann schließlich doch wussten wer du bist, war Verschwiegenheit das oberste Gebot. Es war immer klar, dass es nichts Verbindliches ist, aber dann habe ich den Fehler gemacht und mich mit einer der Frauen privat getroffen. Sie wollte mehr. Ich nicht.«
Ich weiß nicht recht was ich von dem Ganzen halten soll.
»Also will dich diese Frau mit deinem, ähm... extravaganten Sexleben erpressen, weil du sie zurückgewiesen hast?«, versichere ich mich.
»Ja, so in etwa.«
Mit einem Zug leert er sein Glas.
»Wer ist diese Frau?«, will ich wissen.
»Sie heißt Mira, also Miranda Seat«, antwortet er knapp bevor er sich vom Schreibtisch abstößt um sich noch ein Glas Scotch einzuschenken.
Ich möchte mehr wissen und frage nach:
»Könnte diese Miranda auf dem Silvesterball gewesen sein?«
»Ich gehe davon aus. Ihre Eltern haben ein großes Unternehmen, sie könnte also gut zu den geladen Gästen gezählt haben«, erklärt Justin bereitwillig.
»Warum habe ich das Gefühl sie stellt eine Bedrohung dar?«
Es stimmt, beide Male als sie versucht hat Kontakt zu mir aufzunehmen, hat Justin regelrecht die Flucht angetreten und mich hierher gebracht.
»Sie war eine ganz normale, aufgeweckte, junge Frau. Erst als der erste Drohbrief bei mir ankam, habe ich Naill gebeten Nachforschungen zu betreiben.«
Sein ernstes Gesicht und der Unterton in seiner Stimme lassen Böses erahnen.
»Nachdem mir Naill eine Akte zukommen ließ, war klar, dass die Drohung von ihr kommen muss. Sie war jahrelang in Therapie, weil sie mit Zurückweisung nicht klar kommt. Laut Ihrem Arzt ist Ablehnung für sie eine totale Entwertung.«
Wieder nimmt Justin einen großen Schluck, bevor er hinzufügt:
»Es macht sie wahnsinnig und damit unberechenbar. Ich kann nicht zulassen, dass dir etwas passiert... wegen mir.«
Wir werden vom lauten Klingeln seines Handys unterbrochen.
»Ja«, meldet sich Justin.
Weiter kann ich das Gespräch nicht verfolgen. Meine Gedanken kreisen um diese mysteriöse Miranda. Justin muss ihr wirklich das Herz gebrochen haben, dass sie sich auf so extreme Weise versucht bei ihm zu rächen. Ist sie denn wirklich gefährlich?
»Ich muss noch mal los«, reißt mich Justin aus meiner Überlegung, »Bitte bleib hier und verlasse das Haus nicht bis ich wieder da bin.«
Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen und schlägt die Tür hinter sich zu bevor ich noch etwas sagen kann. Ich knalle mein noch volles Glas Scotch auf den Schreibtisch und verlasse das Büro ebenfalls. Es geht Justin also darum seinen Ruf zu retten, den eine fanatisch verletzte Ex-Affäre zerstören möchte indem sie private Details über seine sexuellen Neigungen preisgibt. Und weil er diese Miranda für gefährlichen hält, möchte er mich von ihr fernhalten. Aber was sind das für Vorlieben, dass er sie in einem seltsamen Club auslebt? Es beängstigt und verwirrt mich alles. Ich weiß einfach nicht was ich von all dem halten soll.
Nachdem ich Abigail Bescheid gesagt habe, dass ich heute kein Abendessen möchte, ziehe ich mich ins Schlafzimmer zurück. Es war einfach sehr viel für mich heute. Da ist es nicht verwunderlich, dass mein Magen rebelliert. Im Schneidersitz, und bereits in meiner Jogginghose, sitze ich auf der Bettdecke und versuche mich abzulenken indem ich irgendwelchen Blödsinn im Fernsehen schaue. Plötzlich kommt Justin ins Zimmer.
»Hast du etwas Neues bezüglich Miranda herausgefunden?«, spreche ich ihn sofort an.
»Nein. Nein, das habe ich leider nicht«, faucht er gereizt, »Du warst am Freitag unterwegs?«
Konfus blicke ich zu ihm herauf.
»Ja. Ich hatte noch keine Gelegenheit dir davon zu erzählen. Woher...«
Er unterbricht mich mit einer Handbewegung.
»Du warst mit diesem Typen unterwegs. Diesem Ryan«, knurrt Justin wütend.
»Lässt du mich etwas beschatten?«, schreie ich ihn an.
Justin ballte die Hände zu Fäusten und bellt zurück:
»Das ist zu deinem eigenen Schutz. Ich wollte nicht, dass du in Gefahr bist nachdem ich die Nachricht bekommen habe. Aber du rennst ja zu deinem kleinen Collegefreund.«
Von Zorn getrieben springe ich vom Bett.
»Es ist unglaublich!«, keife ich, »Wie kannst du es wagen mir nachspionieren zu lassen? Und von welcher Nachricht sprichst du überhaupt?«
Statt weiter wütend zu toben und mich wegen Lappalien anzugreifen, wird Justin ruhig und ernst.
»Es war kurz nach Weihnachten. Da kam ein neuer Brief. Ich wollte dich nicht beunruhigen«, versucht er zu erklären, aber als Entschuldigung für sein Verhalten kann ich das nicht gelten lassen.
»Das gibt dir kein Recht mich beobachten zu lassen! Was stand in dieser Nachricht?«, blaffe ich ihn weiter an.
»Das ich besser aufpassen solle. Mehr nicht«, murmelt Justin, bevor ich ihm entgegne, dass er mit mir darüber hätte reden müssen.
Ich habe endgültig genug von diesem Verheimlichen. Ich kann es nicht mehr ertragen. Wütend schnaubend greife ich mein Kissen und eine Decke und flüchte ins Wohnzimmer. Justin lasse ich sichtlich überfordert im Schlafzimmer zurück. Vor Zorn zitternd werfe ich mein Kissen aufs Sofa und wickle mich in der Decke ein. Tränen tropfen auf den Bezug, kaum dass ich mein Gesicht im Kissen vergrabe.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top