Kapitel 3

02. November

Heute bin ich zum Arbeiten am Buffet einer Wohltätigkeitsgala eingeteilt. Der große Saal ist, bis auf die Tanzfläche vor der Bühne, fast komplett mit elegant eingedeckten Tischen bestückt. Geladen sind hauptsächlich Manager, große Firmeninhaber, Designer und Menschen aus Film und Fernsehen. Im Gegensatz zu Michelle und Paula, die hier mit mir arbeiten, kenne ich die wenigsten der Gäste.

Plötzlich entsteht der Eindruck, dass sich sämtliche Köpfe in diesen luxuriösen Saal in eine Richtung drehen und meine Augen folgen ihnen neugierig. Der Anblick des großen Mannes, in seinem perfekt sitzenden, maßgeschneiderten Anzug, zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Gäste wenden sich wieder ihren Gesprächen zu. Dennoch scheint sich die Atmosphäre verändert zu haben. Ich beobachte wie er sein Telefon nimmt um einen Anruf entgegenzunehmen. Seinen schwarzen Mantel hat er inzwischen abgelegt, allerdings nicht an die Garderobe gegeben, sondern lediglich über den Arm gehängt, als wolle er nicht lange bleiben. In seinem Gesicht zeichnet sich eine Spur Desinteresse und Unmut ab. Er schaut auf seine Armbanduhr, spricht kurz weiter bevor er auflegt und in der Menge verschwindet.

»Das ist Justin Cold«, reißt mich Paula aus meiner Faszination. »Er ist R&B-Sänger. Ich habe irgendwo gelesen, dass er mit nicht einmal zwanzig Jahren seine ersten Millionen gemacht hat und nicht grundlos der begehrteste Junggeselle der Branche sein soll. Er soll sich sehr für wohltätige Zwecke einsetzen.«

Es wundert mich etwas, da er mehr gelangweilt wirkte, so als hätte er etwas Besseres zu tun. Es entstand der Eindruck als wolle er das hier als Pflichtveranstaltung einfach nur schnell hinter sich bringen.

Nach einer kurzen Ansprache soll das Buffet eröffnet werden und unser Team läuft zu Hochtouren auf. Das exklusive Angebot reicht von kalten Platten bis zu warmen Speisen und einer großen Auswahl an Desserts. Es ist richtig viel zu tun, um einen reibungslosen Ablauf gewährleisten zu können. Später am Abend werden noch Häppchen mit Kaviar und Lachs-Avocado-Tatar gereicht. Es ist so stressig, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Die Band spielt seit Stunden und es wird immer noch getanzt als ich Feierabend machen kann und heraus in die eiskalte, stockfinstere Nacht trete. Schnell wickle ich meinen Schal etwas enger und schiebe meine Tasche zurück auf die Schulter, nachdem ich meine Jacke zugeknöpft habe. Als ich zu meinem Wagen eilen will, fällt mir etwas aus der Tasche. Ich höre es dumpf auf den Boden schlagen. Hastig drehe ich mich um während ein heftiger Windstoß mir die Haare ins Gesicht weht. Ich will mich bücken als eine fremde Hand bereits nach meinem Buch greift. Durch die Haarsträhnen blicke ich in ein markantes Gesicht und bernsteinfarbene Augen.

Justin Cold steht nur einen halben Meter vor mir.
Er trägt seinen noblen, schwarzen Mantel und seine Haare sitzen trotz der Windböen perfekt. So wie wir uns gerade gegenüberstehen komme ich mir recht kläglich vor in meiner alten Jacke, den grauen Wollschal und der zerzausten Frisur. Mit ernstem, aber interessiertem Ausdruck liest er den Titel. Es ist mir irgendwie unangenehm, aber ich traue mich auch nicht ihm das Buch einfach aus der Hand zu nehmen. Statt es mir zu geben, betrachtet er den Einband genauer, blättert einmal kurz durch die Seiten, ohne mich weiter zu beachten. Ich fühle mich in seiner Gegenwart ziemlich verunsichert und klein und möchte eigentlich nur mein Buch in meiner Tasche verstauen und weg.

»Hast du es gelesen?«, fragt er ohne seinen Blick zu heben.

Seine Stimme ist erstaunlich samtig.

»Ja, mehrere Male«, antworte ich schüchtern mit leiser Stimme.

Er sieht mich zum ersten Mal wirklich an.

»Ich habe nie verstanden warum man Cathy und Heathcliff mit Paaren wie Romeo und Julia auf eine Stufe stellt. Es ist definitiv keine Liebesgeschichte.«

Seine Aussage ist entsetzend. Ich bin ganz anderer Meinung.

»Ich sehe hier eine tiefe Verbundenheit, die zwei Seelen zusammenschweißt. Nichts kann sie trennen. Am Ende nicht einmal der Tod«, erwidere ich und klinge dabei bestimmter als ich will.

Für einen Moment schaut er mich ernst an. Sein Blick ist so eindringlich, dass ich befürchte ihn beleidigt zu haben, doch dann umspielt ein kaum merkliches Lächeln seine Mundwinkel.
Dann möchte er wissen:

»Studierst du Literatur?«

»Ja, englische Literatur mit Englisch als Hauptfach«, beantworte ich seine Frage etwas zu leise.

»Wer hat dich am meisten inspiriert?«, er hält meinen Blick als würde er in meinen Augen nach einer Antwort forschen.

»Auf jeden Fall Jane Austen«, sprudelt es geradezu aus mir heraus »und Jan McEwen.«

Er hält mir das Buch entgegen und ich lasse es zügig in meiner Tasche verschwinden.

»Justin Cold«, stellt er sich schließlich recht förmlich vor.

»Leni Jones.«

Kurz lässt er seinen Blick durchs Dunkle wandern, bevor er sich erkundigt:

»Steht dein Wagen hier in der Nähe?«

»Nein... ich meine... ja. Auf der anderen Straßenseite«, antworte ich zaghaft.

»Komm, ich begleite dich zu deinem Auto. Du solltest um diese Uhrzeit nicht alleine unterwegs sein.«

Obwohl ich mich in seiner Gegenwart immer noch befangen fühle, widerspreche ich nicht und wir laufen gemeinsam los.

»Was hat dich heute zu dieser Veranstaltung geführt? Bist du im Charité-Bereich tätig?«, ergreift er erneut das Gespräch.

»Nein, ich arbeite im Catering«, erkläre ich, während ich deutlich spüre wie meine Wangen rot werden.

»Es ist bestimmt sehr anstrengend neben deinem Studium noch einem Job nachzugehen. Vor allem, da du dir bestimmt oft die Nächte um die Ohren schlagen musst.«

Verschämt schaue ich zum Boden.

»Es geht schon. Ich glaube Organisation ist alles«, lüge ich, da es wirklich manchmal extrem schwer und anstrengend ist.

Als ich die Tür meines Wagens aufschließe, merke ich schon, dass sie wieder klemmt. Hektisch ruckle ich am Griff als Justin wortlos an mir vorbei greift und die Tür mit einer einzigen Bewegung öffnet. Wieder bin ich beschämt und presse ein kurzes „Danke" heraus.
Er lächelt mich souverän an.

»Auf Wiedersehen, Leni.«

»Auf Wiedersehen.«

Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern und ich befürchte, dass sie im Wind untergegangen ist. Als ich im Auto sitze und den Motor gestartet habe, will ich noch einmal aus dem Fenster zu ihm sehen, aber er ist bereits verschwunden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top