Kapitel 28

31.Dezember

Zugegeben freue ich mich tatsächlich auf heute Abend. Es ist unser erster offizieller Auftritt als echtes Paar. Ein Abend ohne dass wir uns verstellen müssen, echte Zuneigung, echte Küsse und echte Gefühle. Ich beginne lieber etwas früher mich für die Silvestergala fertig zu machen. Nach einem ausgiebigen Schaumbad schminke ich meine Augen mit schwarzem Kajal und Mascara, bevor ich meine Lippen mit einem rosa Gloss nachfahre.
Meine Haare habe ich stark gelockt und stecke sie seitlich zusammen, wobei einige Strähnen herausrutschen und auf meine Schultern fallen. Erst nachdem Justin seinen schwarzen Anzug mit der dunklen Krawatte bereits trägt, ziehe ich mein Kleid an.
Das bodenlange Gucci-Modell ist aus einem Metallic-Seidengemisch und am Ausschnitt vorteilhaft gerafft. Ich liebe seinen plissierten Rock und das schillernde Zusammenspiel der gold- und rosafarbenen Streifen. Es ist elegant und trotzdem mädchenhaft. Schnell ziehe ich noch meinen Ring und den Armreif, den mir Justin zum Geburtstag geschenkt hat, an und trete ins Wohnzimmer. An der Schwelle halte ich jedoch inne.

Justin steht mit dem Rücken zu mir am Fenster. An seinem Spiegelbild kann ich sehen, dass er nachdenklich ist. Er schaut ins Nichts, sein Gesicht ist ernst. Doch dann dreht er sich zu mir als hätte er meine Gegenwart gespürt. Langsam betrachte ich ihn von oben bis unten. Sofort war sein Auftreten wie gewohnt, mächtig und verwegen.

»Leni.«

Mit wenigen anmutigen und selbstsicheren Schritten kommt er zu mir rüber, hebt meine Hand an seine Lippen und sieht mich voller Verlangen an. Alleine dieser Blick genügt um mir einen Schauer über den Rücken fahren zu lassen.

»Du siehst zum niederknien gut aus«, raunt er heißer und verschafft mir damit eine Gänsehaut.

»Danke, du auch«, gebe ich das Kompliment zurück.

»Hast du alles?«, fragt er mit einem Blick auf die Uhr.

»Ja, Moment.«

Ich greife meine Stola, die mir Justin aus der Hand nimmt und mir über die Schultern legt. Dabei streifen seine Finger meinen Nacken und ich spüre einen kurzen Anflug von Hitze durch meinen Körper lodert.

Justin strahlt eine gewaltige Macht aus. Er ist wie ein Magnet, dessen Anziehung ich gar nicht entkommen kann.

Als wir aus dem Foyer auf den Gehweg treten, öffnet uns Sebastian die Tür der Limousine und hilft mir beim Einsteigen.

»Hier, die wirst du heute Abend brauchen«, sagt Justin mit einem matten Lächeln.

Er reicht mir eine kleine, schwarz glitzernde, Schachtel und klappt sie auf bevor er sie mir reicht. Darin liegt eine goldfarbene Maske mit Strasssteinen verziert.
Obwohl die Maske an sich sehr schön ist, verziehe ich mein Gesicht, da ich Maskeraden und Verkleidungen überhaupt nicht ausstehen kann. Man setzt sich eine Maske auf um für ein paar Stunden jemand anderes zu sein, aus Spaß und um Hemmungen zu verringern. So etwas hat mir noch nie gefallen. Widerwillig lege ich sie an und spiegle mich in der Fensterscheibe der Limousine während Justin ebenfalls seine Schachtel öffnet. Seine Maske ist schlicht, schwarz und ohne Verzierung, eigentlich ganz unscheinbar. Doch sowie er sie aufzieht, verändert diese Maske etwas an ihm. Er ist jetzt düster, geheimnisvoller und absolut sexy. Es ist als würde sie sein ganzes Outfit perfektionieren. Seine Erscheinung ist elegant und gefährlich im selben Moment.

Wir fahren eine ganze Weile. Ich muss zugeben, dass ich nicht einmal mehr weiß wo genau wir sind als Sebastian den Wagen hält und unsere Tür öffnet. Justin steigt als erstes aus damit er mir helfen kann von der Rückbank zu klettern. Der Anblick, der sich mir bietet, ist atemberaubend.
Die Location ist ein altes Schloss, von einem Wassergraben umgeben. Eine breite Brücke führt über das Wasser zum Eingangstor. Man kann bereits gedämpft Stimmen und Musik erahnen. Absolut fasziniert hake ich mich bei Justin ein und wir gehen gemeinsam über die Brücke zum Tor. Am Eingang warten bereits Paparazzi um Fotos der geladenen Gäste zu erhaschen, aber Justin bleibt lediglich einmal kurz für sie stehen. Langsam schreiten wir durch das pompöse Tor, durchqueren die Eingangshalle und finden uns selbst in einem gigantischen, aufwendig dekorierten Saal wieder.

Eine Liveband spielt auf der großen Bühne, Bedienstete huschen mit Tabletts durch die Menge und es gibt wirklich kein Gesicht, das nicht von einer Maske verhüllt ist. Die bodenlangen Fenster sind mit schwerem Stoff behangen. Die Tische, die um die Tanzfläche herum aufgestellt wurden, prachtvoll gedeckt.
Justin nimmt zwei Champagnergläser von einem der Tabletts und reicht mir eines davon. Ich setze gerade das Glas an die Lippen da höre ich Justins tiefe Stimme.

»Du bist mit Abstand die schönste Frau auf diesem Ball«, flüstert er und sieht mir dabei tief in die Augen.

Als Antwort auf sein Kompliment lege ich ihm meine Hand in den Nacken und küsse ihn zart. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Paar uns anstarren und tuscheln. Ich versuche sie zu ignorieren und leere meinen Champagner in einem Zug. Irgendwie macht mich das Paar nervös. Ich fühle mich schrecklich beobachtet. Es muss Justin wohl auch aufgefallen sein, denn er nimmt meine Hand und führt mich durch die Menge an die Bar. Selbst die Barkeeper tragen hier heute Masken, einfach und weiß.

»Einen Gin Tonic und...« Justin bestellt bereits während er mich fragend ansieht.

»Für mich keinen Alkohol«, antworte ich schnell und er bestellt einen Virgin Mojito für mich.

Mit einem knappen Nicken dreht sich der großgewachsene Barkeeper um und mixt unsere Getränke, die er uns kurz darauf serviert.
Wir nehmen unsere Drinks und schlendern ein Stück weiter durch den Saal.

Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, während wir an einem der Stehtische unsere Longdrinks genießen. Einige der Gäste tanzen bereits elegant übers Parkett.

»Hast du Hunger?«, fragt mich Justin als wir unsere Gläser geleert haben.

»Nein überhaupt nicht«, antworte ich während ich weiter die tanzenden Paare im ihren wallenden Kleidern und maßgeschneiderten Anzügen beobachte.

»Na dann, darf ich bitten?«, fordert mich Justin gespielt formell auf und hält mir seine Hand entgegen, woraufhin ich lachend meine Hand in seine lege.

Gemeinsam schweben wir über die Tanzfläche. Obwohl ich eher zwei linke Füße habe gelingt es mir, mit Justins starker Führung richtig gut, mich zu bewegen.

»Irgendwie kommt es mir so vor als würden wir beobachtet werden«, muss ich gestehen.

Justin lacht.

»Natürlich. Jeder Mann in diesem Raum starrt dich an. Du bist wunderschön, Leni.«

Nach einer ganzen Weile auf der Tanzfläche wird mir ziemlich warm unter meiner Maske, so dass Justin und ich uns an den Paaren vorbei zurück an unseren Platz schlängeln. Da es zwischen den Tischen sehr schmal ist, lässt mir Justin den Vortritt. Dann will er gehen, aber eine Frau in einem hautengen schwarzen Kleid, einer platinblonden Perücke und einer sehr auffälligen Federmaske kommt ihm entgegen. Sie läuft langsam, ihre Augen die ganze Zeit auf Justin gerichtet, und drückt ihm sanft die Hand auf seine Brust um ihn etwas beiseite zu drängen. Trotz seines bösen Blickes, lächelt sie ihn kurz geheimnisvoll an bevor sie wieder im der Menge verschwindet.

»Was war denn das?«, frage ich mit einem verwirrten Kopfschütteln.

Justin verzieht das Gesicht und zuckt mit den Schultern. Kannte sie ihn vielleicht?

»Komm, lass uns etwas essen!«, schlägt er vor bevor er sein Jackett zurechtrückt.

An der rechten Seite des Saales wurde das Buffet aufgebaut. Ich nehme mir etwas vom Salat mit Putenstreifen und Justin füllt seinen Teller mit Fisch in Safranschaum. Dann suchen wir uns einen freien Platz an den Tischen.

»Ich hole uns schnell noch etwas Wein. Bin gleich wieder da«, verkündet Justin, kurz bevor er in der Menge Richtung Bar untergeht.

Ich beobachte zwei sichtlich angetrunken Frauen durch den Raum torkeln, was in ihren bodenlangen Roben wirklich lustig wirkt.

»Leni?«, höre ich eine Frauenstimme dicht hinter mir, »Wir haben Justin eben getroffen. Er sagte, dass du hier wartest.«

Ahnungslos blicke ich auf die rote, paillettenbesetzte Maske einer eleganten Person in einem tief ausgeschnitten Kleid, als ein großer stattlicher Mann mit zwei Tellern in den Händen neben sie tritt.

»Ich bin es, Chanra«, lacht sie.

»Chanra, Alexander! Ich habe euch gar nicht erkannt. Bitte setzt euch doch.«

Chanra schnappt sich ihren Teller und setzt sich mir gegenüber.
Als Justin zurück an den Tisch kommt ist sie bereits dabei mit voller Euphorie von ihrer neuen Boutique zu berichten. Alexander hatte sie ihr gekauft und Chanra möchte dort nur auserwählte exklusive Markenkleidung anbieten.

Nach dem Essen sitzen wir eine ganze Weile bei unseren Gläsern Wein zusammen und erzählen als eine Dame, völlig in Gold gekleidet, auf die Bühne an das Mikrofon tritt.

»Ladies und Gentleman!«, ertönt ihre Stimme im Saal, »Ich möchte mich im Namen der ganzen Familie Gustavson dafür bedanken, dass Sie alle heute gekommen sind um mit uns in ein fantastisches neues Jahr zu feiern. Es ist nun gleich so weit und ich möchte Sie bitten, sich einen der bereitstehenden Champagner zu nehmen und sich auf und um die Tanzfläche zu versammeln.«

Chanra sprüht fast vor Begeisterung. Stürmisch zieht sie ihren Mann vom Stuhl und stürmt los. Justin kann sich ein lautes Lachen nicht verkneifen bevor auch wir uns zur Tanzfläche begeben. Die Musik verstummt und der Countdown wird angestimmt.

»Zehn, neun, acht... mach mit!«, fordere ich Justin mit einem Strahlen auf. »Fünf, vier, drei, zwei, eins!«

Mit einem lauten Knall regnen Millionen von kleinen Glitzerpartikeln und hunderte Luftballons auf uns nieder.

»Ein frohes neues Jahr«, flüstert Justin samtweich in mein Ohr und küsst mich innig.

Erst als er mich wieder ansieht, antworte ich atemlos:
»Das wünsche ich dir auch.«

Überall um uns herum herrscht wildes Treiben. Alle wünschen sich ein schönes neues Jahr. Auch Justin und ich stoßen mit den Gästen in unserer Nähe an und Justin lässt sich in ein Gespräch mit einem Herrn, den er wohl kennt, verwickeln.
Leider haben wir Alexander und Chanra komplett aus den Augen verloren. Da sehe ich die Frau mit der aufwendig gearbeiteten Federmaske in der Menge stehen und uns anstarren.
Plötzlich kommt sie mit eleganten, aber zügigen, Schritten direkt auf uns zu. Einen halben Meter vor uns bleibt sie kurz stehen, mustert Justin, der mit dem Rücken zu ihr steht, schweigend an, bevor sie mir noch etwas näher kommt.

»Mit Masken kennt sich Justin ja bestens aus. Du solltest gehen, bevor er dich verletzt.«

»Wer...«, stottere ich völlig perplex, doch da dreht sich die Unbekannte um und taucht im heiteren Getümmel unter.

Mein Herz schlägt mir heftig gegen die Brust. Wer ist diese Frau und woher kennt sie Justin?
Mein Mund wird ganz trocken, so dass ich schnell den Rest meines Champagner herunterkippe. Sie hat mich vor ihm gewarnt, aber was genau wollte sie mir damit sagen? Meine Gedanken überschlagen sich. Ist die Geheimnisvolle vielleicht nur eine eifersüchtige Ex?
Zwar ist die Frau überhaupt nicht mehr zu sehen doch ich starre immer noch in die Richtung, in die sie verschwunden ist.

»Stimmt etwas nicht?«, fragt Justin besorgt.

Er hat überhaupt nichts mitbekommen.

»Nein, alles in Ordnung«, lüge ich.

Wobei ich mich direkt ertappt fühle, denn Justin sieht mir mit ernster Miene ins Gesicht als würde er nur darauf warten, dass ich ihm die Wahrheit sage.

»Diese Frau mit der Maske, sie war eben hier«, gebe ich nun zu.

Sofort wird er ernst.

»Sie sagte etwas davon, dass du ja Masken gewöhnt wärst und...«

Justin zieht die Augenbrauen eng zusammen.

»Und was?«, drängt er mich dazu weiter zu berichten.

»Und dann hat sie mich vor dir gewarnt. Sie sagte du könntest mich verletzen.«

Ich habe das Gefühl alle Gespräche würden verstummen, die Band würde aufhören zu spielen, während ich Justin anschaue und warte, dass er etwas sagt. Auf einmal lacht er. Es ist mehr ein fades, höhnisches Lachen, welches seine Augen nicht erreicht. Dann sieht er sich suchend im Saal um.

»Justin, wer ist diese Frau?«, frage ich nachdrücklich.

Doch Justin antwortet mir nicht.

»Justin?«, spreche ich ihn nochmals an.

Dieses Mal reagiert er. Er nimmt meine Hand, führt sie zu seinen Lippen und haucht mir einen zarten Kuss auf den Handrücken.

»Lass uns gehen!«, knurrt er. Aber ich lasse nicht locker.

»Kennst du diese Frau?«, bohre ich unerlässlich weiter.

Justin atmet tief durch, fährt sich mit den Fingern durchs Haar und antworte schließlich.

»Leni, Sweety, da erlaubt sich jemand einen ganz dummen Scherz. Silvester, Alkohol und die Anonymität eines Maskenballs. Vergiss es einfach!«

Liebevoll legt er mir die Hand in den Rücken und schiebt mich ein Stück vorwärts, während er wieder verkündet:

»Jetzt lass uns abhauen. Ich möchte mein Date heute Nacht noch ein bisschen für mich alleine haben.«

Über uns knallt das bunte Feuerwerk als wir über die Brücke laufen.
Nachdem uns Sebastian ans Penthouse chauffiert hat wünschen wir auch Philippe im Foyer ein frohes neues Jahr und Justin steckt ihm einen Umschlag zu bevor wir nach oben fahren.
Justin ist schweigsam. Er wirkt gedankenverloren und irgendwie ärgerlich. Unachtsam wirft er sein Jackett auf die Couch und zückt sein Handy.

»Niall? Du musst etwas für mich...«, höre ich noch bevor er den Flur herunter in sein Büro geht.

Langsam werde ich wütend. Ich weiß, dass er mich angelogen hat. Diese Frau war ihm nicht so fremd wie er tut. Er weiß genau, was sie mit ihrer seltsamen Anspielung ausdrücken wollte.
Leise und vorsichtig schleiche ich an sein Büro, in der Hoffnung etwas von seinem Telefonat lauschen zu können.

»... Ja genau... Danke.«

Leider war das, was ich noch hören konnte, überhaupt nicht aufschlussreich. Ich muss wissen was los ist. Ohne Rücksicht platze ich in das Zimmer.

»Justin, ich habe genug von deiner Geheimnistuerei! Du erklärst mir jetzt sofort was es mit dieser Frau heute auf sich hat!«, schreie ich.

Justin stemmt sich am Schreibtisch ab, sieht mich mit zornigen Augen an.

»Da gibt es nichts was dich interessieren sollte!«, bellt er zurück.

Die Spannung im Raum ist fast schon mit Händen greifbar. Es ist als würde jeder von uns an einem Ende eines Drahtes ziehen, der langsam zu zerreißen droht.

»Sie hat mich angesprochen und sie hat mich gewarnt«, entgegne ich ihm.
Wir stehen uns eine ganze Weile schweigend gegenüber.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dem sonst so wortgewandten, selbstsicheren Justin Cold plötzlich die Sprache verschlagen hat. Also nehme ich an sein Schweigen soll dazu dienen mich zu beruhigen oder zu zermürben. Mir erscheint es wie irgendeine seiner Manipulationstaktiken. Ich aber nutze die Zeit um mir die vergangenen Wochen noch mal vor Augen zu halten und erkenne in allem, was er getan hat, seine schrecklich dominante despotische Art. Das befeuert meine Wut nur noch mehr und allmählich baut sich auch Wut auf mich selbst in mir auf, weil ich mich ausgerechnet ihn Justin verlieben musste.

»Du spielst wohl gerne mit den Gefühlen verletzlicher Frauen!«, entfährt es mir plötzlich.

»Leni... ich warne dich. Hör auf!«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Doch ich kann nicht.

»Warum hast du dieses Schauspiel mit der Verlobung erfinden müssen?«

Das ist sie, die alles entscheidende Frage.
Justin versteift sich merklich. Seine Augen flackern vor Wut und... Verzweiflung?

»Du hast keine Ahnung«, zischt er. »Und du würdest es nie verstehen.«

Sein Tonfall fühlt sich herablassend an.

»Sag es mir jetzt oder ich gehe auf der Stelle!«, fordere ich ihn provokant heraus.

Justin atmet hörbar ein, bringt sich selbst etwas unter Kontrolle.

»Ich habe viele... Dinge... getan, die dich erschrecken würden, von denen du nichts verstehst. Und ja, ich habe Frauen verletzt... manchmal sogar vorsätzlich. Aber jetzt ist das anders.«

Während seiner Beichte schaut er mich eindringlich an. Ich wage kaum mich zu bewegen, geschweige denn zu atmen. Es ist aber keine wirkliche Antwort auf meine Frage.

»Warum hast du mich herausgepickt? Warum hast du mir nachstellen lassen und woher hattest du so schnell deine ganzen Informationen über mein Leben?«, schießt es geradezu aus mir heraus.

»Ich bezahle Leute dafür Informationen einzuholen. Du hast in das Schema gepasst...«, knurrt er, »... und du kannst lügen. Das war das Wichtigste!«

Es genügt. Am liebsten würde ich alles direkt beenden, aber dazu fehlt mir gerade die Kraft.

»Ich verschwinde!«, verkünde ich fast schon hysterisch.

Da wird Justin plötzlich nervös. Die Situation entgleitet ihm und damit kann er nicht umgehen. Schnell renne ich aus dem Büro ins Schlafzimmer, greife meine Tasche und meine Jacke, bevor mich Justin im Wohnzimmer aufhalten will. Fest greift er meinen Arm um mich zurückzuhalten.

»Fass mich nicht an! Nie wieder!«, fauche ich so selbstbehauptend ich nur kann.

Widererwarten lässt er mich los und keucht: »Leni, bitte...«

Doch er kann mich nicht halten und ich lasse die Fahrstuhltür zwischen uns schließen. Ohne ein Wort zu Philippe stürme ich aus dem Foyer auf die Straße.

Ohne zu wissen wohin ich überhaupt sollte, eile ich die Straße entlang, da ich befürchtet habe, Justin könnte mir nachkommen. Immer weiter gehe ich Richtung Campus, da ich mich dort wenigstens in der Gegend auskenne. Tränen nehmen mir die Sicht. Ich friere. Niedergeschlagen lasse ich mich auf eine abgelegene Bank sinken. Was soll ich jetzt nur machen? Wo soll ich denn hin? Innerlich resigniert vergrabe ich mein Gesicht in beiden Händen. Ich kenne hier niemand außer meiner Tante, bei der ich um diese Uhrzeit unmöglich auftauchen kann und will. Und Josephine, die noch bei ihren Großeltern sein müsste. Und Ryan. Zögerlich nehme ich mein Handy aus der Tasche und wähle mit zittrigen Fingern seine Nummer.

»Hallo?«, meldet er sich nach einigen Malen klingeln.

»Ryan? Ich bin's«, schluchze ich.

»Leni? Ist etwas passiert? Wo bist du?«, fragt er sofort.

Seine Stimme klingt aufgebracht und besorgt.

»Wir haben uns schrecklich gestritten«, ich klinge völlig aufgelöst.

»Wo bist du? Ich komme dich holen!«, höre ich Ryan.

Nachdem ich einen Treffpunkt mit ihm ausgemacht habe, will ich gerade mein Telefon wieder in die Tasche stecken als es klingelt. Auf dem Display steht Justins Name. Ich kann nicht abnehmen. Ich will nicht mit ihm sprechen und schalte mein Handy stumm.
Nur wenige Minuten später parkt ein silberner Volvo am Bürgersteig. Ryan springt förmlich aus dem Auto und ist mit wenigen Schritten bei mir. Wortlos nimmt er mich in den Arm. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und lasse meinen Tränen für einen Moment freien Lauf. Ein Moment der Schwäche, den ich mir eigentlich vor anderen nie erlaube. Ryan streicht mir zärtlich über den Kopf, dann schiebt er mich etwas von sich um mir direkt ins Gesicht zu schauen.

»Hat er dir etwas getan?«, fragt er vorsichtig.

Woraufhin ich nur den Kopf schüttle. Schnell führt mich Ryan an seinen Wagen, schlägt die Tür zu sobald ich sitze und steigt selbst ein, ehe ich mich angeschnallt habe.

»Du kommst am besten erstmal mit zu mir«, bestimmt Ryan, lässt den Motor an uns setzt zurück auf die Straße.

»Zu dir?«, frage ich, »Hast du eine Wohnung? Ich dachte du hast ein Zimmer im Wohnheim?«

Ich klinge nur noch leer.

»Nein, ich wohne in einer Verbindung«, antwortet er knapp, den Blick fest auf die Straße gerichtet.

Eine Viertelstunde schaue ich einfach aus dem Fenster, bis Ryan schließlich an einer befahrenen Straße, die von identisch gebauten Häusern gesäumt ist, hält.
Obwohl der Name der Verbindung in großen schwarzen Buchstaben an der Mauer prangt, kann ich ihn nicht lesen, da diese Seite der Hauswand mit Efeuranken zugewachsen ist. Musik und lautes Gerede dringt nach draußen.

»Ihr feiert?«, keuche ich entsetzt.

Das Letzte, was ich jetzt noch ertragen könnte, wäre eine Party. Auf dem Rasen vor dem Haus stehen einige Leute und noch ein paar liegen im Rasen. Das ist mir zu viel.

»Keine Angst. Wir können direkt hoch gehen, dann hast du deine Ruhe«, beruhigt mich Ryan als wir aussteigen.

Die Tür ist nur angelehnt. Die Musik ist schrecklich laut hier drin und überall sind Studenten, die erzählen, lachen, trinken und tanzen. Ryan legt den Arm um meine Taille und schiebt mich quer durch den Raum. Einige Mädchen schauen mich seltsam abwertend an als wir an ihnen vorbeikommen. Schnell wende ich den Blick ab. Die Gruppe, die an der Treppe steht, starrt uns an. Ihr Gespräch reißt ab und ich habe das Gefühl von ihnen gemustert zu werden.
Erst jetzt wird mir bewusst, wie unpassend ich wohl erscheinen muss mit meiner Hochsteckfrisur und dem glitzernden, bodenlangen Abendkleid. Ich fühle mich schrecklich, halte die Augen fest auf den Boden gerichtet bis wir ans Ryans Zimmer im Obergeschoss angekommen sind. Ryan zieht seinen Zimmerschlüssel aus der Hosentasche und öffnet die Tür. Das Zimmer ist im Vergleich zu meinem alten im Studentenwohnheim recht geräumig. An der linken Seite stehen sein Schreibtisch und ein Bücherregal. Vor dem Fenster befindet sich eine Kommode und das Fußteil seines Bettes ragt mittig in den Raum. An den Wänden hängen Poster, Fotos und Medaillen, die er wohl selbst einmal gewonnen hat.

»Gibt mir deine Jacke!«, sagt er und zeigt aufs Bett,»Setzt dich doch.«

Also lasse ich mich auf die Bettkante plumpsen, während Ryan sich den Schreibtischstuhl holt.

»Willst du reden? Ich meine, möchtest du mir erzählen was genau passiert ist?«, tastet er sich vorsichtig an das Thema, aber ich schüttle nur schnupfend den Kopf.

»Willst du vielleicht was trinken?«

»Ja, bitte«, murmle ich leise und Ryan geht zur Tür.

»Ich bin gleich wieder da«, versichert er bevor er die Tür aufmacht.

»Mach es dir gemütlich!«

Daraufhin verlässt er das Zimmer. Schwermütig stehe ich auf um die Fotos an seiner Wand etwas genauer zu betrachten. Sie zeigen Ryan mit Freunden und seiner Familie, lustige Schnappschüsse von Feiern und einige Aufnahmen von Sportveranstaltungen. Dann gehe ich zu seinem Regal. Anders wie bei mir reihen sich hier moderne Krimis und zeitgenössische Dramen.
Ich bin gerade in Versuchung eines von ihnen herauszufischen als Ryan mit zwei Flaschen und zwei Pappbechern zurückkommt.

»Ich hab hier Cola und Rum. Ich wusste nicht auf was du Lust hast.«

Matt grinse ich ihn an.
»Cola-Rum wäre jetzt genau richtig.«

Mit einem breiten Grinsen schenkt er die Becher voll.

»Wo warst du eigentlich heute in diesem schicken Kleid?«, will er wissen.

»Auf einem Maskenball. Irgendwo etwas außerhalb von Washington. Ich weiß gar nicht genau wo«, erkläre ich ihm mit Bedacht, weil ich auf keinen Fall protzig klingen möchte.

Wie gerne würde ich Ryan einfach alles erzählen, aber es würde sich wohl mehr wie nur skurril anhören. Was hätte er für ein Bild von mir, wenn er von diesem Vertrag, der Scheinverlobung und den ganzen ungereimten Geheimnissen wüsste?

»Hmmm, ihr lebt ganz schön luxuriös.«

Ryan schaut nachdenklich, während er spricht, dann nimmt er schnell einen Schluck aus seinem Becher als würde er das Gesagte mit herunterspülen wollen.

»Nein nein. Das sind mehr Justins Angelegenheiten. Ich bin einfach nur Studentin. All diese Sachen sind mehr Pflichttermine als Vergnügen«, versuche ich ihm schnell zu erklären.

Es scheint als würde er merken wie ungern ich davon spreche, da er direkt das Thema wechselt. Wir unterhalten uns sehr lange, trinken und Ryan schafft es tatsächlich mich einige male zum Lachen zu bringen. Sein Humor und seine unverklemmte lockere Art sind ansteckend. Ich weiß nicht, ob es am Alkohol liegt oder an Ryan, aber nach einer Weile fühle ich mich um einiges besser.
Leicht benebelt rücke ich ein Stück weiter auf die Matratze und Ryan bricht erneut das Schweigen zwischen uns.

»Darf ich dich mal was fragen?«

Sein Gesichtsausdruck ist so ernst, dass es mir signalisiert diese Frage besser zu verneinen.

»Klar«, höre ich mich da schon selbst und beiße mir auf die Unterlippe.

»Wie stellst du dir dein Leben nach dem College vor?«

Erstaunt sehe ich zu ihm auf. Das war nun wirklich nicht die Art Frage, die ich erwartet habe.

»Ich will Verlegerin oder Schriftstellerin werden.«

Wahrscheinlich sollte ich besser nicht so ehrlich zu ihm sein, da mir bewusst ist wie das klingt und ich nicht möchte, dass er mich auslacht. Als jedoch ein komischer Kommentar ausbleibt frage ich:

»Sind das alles deine Bücher?«

Mit dem Kinn deute ich zum Regal.

»Ja, sind es«, nuschelt er.

»Und hast du sie alle gelesen?«, forsche ich weiter.

Was mir ein verlegen es Lächeln einbringt.

»Die meisten davon.«

Mir fällt auf, wie sich seine Muskeln unter seinem Shirt bewegen als er auf das Bett zukommt.

»Schön, dass es dir etwas besser geht.«

Seine Stimme klingt rauer denn je, was vielleicht daran liegt, dass er getrunken hat oder müde wird.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich dich störe. Ich wusste einfach nicht was ich...«, will ich mich entschuldigen.

Doch Ryan unterbricht meinen Satz.

»Mach dir keine Gedanken deswegen« seufzt er und fährt sich durch die zerzausten Locken.

»War er... aggressiv? Ich meine... er hat dir wirklich nichts getan, oder?«

Wieder schüttle ich den Kopf und Ryan redet weiter.

»Er schien schon in der Sportsbar so wütend zu sein. Es ist dein... Freund... aber er wirkte so... Na ja, ich habe mir Sorgen gemacht.«

Er kniet sich vor mich, schaut mir forschend in die Augen. Ohne dass ich es will laufen mir ein Paar Tränen. Ryan streckt die Hand aus, fängt mit dem Daumen vorsichtig eine Träne von meiner Wange auf. Seine Berührung ist so überraschend sanft, dass ich ein wenig nach Luft schnappen muss.
Als ich in seine weichen, braunen Augen sehe, sind Ryans Pupillen geweitet. Seine Hand liegt immer noch auf meiner Wange, meine Gedanken fahren Karussell. Verlegen wende ich meinen Blick ab, während mein Gewissen mit meinen Hormonen kämpft.

»Du solltest versuchen ein bisschen zu schlafen«, sagt Ryan leise bevor er wieder aufsteht.

»Leni!«

Mit einem lauten Schlag fliegt die Tür auf. Vom hellen Licht im Flur geblendet erkenne ich Justins Statur.

»Was...?«, erschrocken fährt Ryan herum, baut sich schützend vor mir auf.

»Woher wusstest du...?«

Doch ich kann mir die Frage selbst beantworten. Mister Kontrollfreak hat mein Handy wieder orten lassen.

»Lass sie gefälligst in Ruhe und raus aus meinem Zimmer!«, knurrt Ryan bedrohlich.

Justin bleibt davon allerdings wenig beeindruckt.

»Leni, wir müssen reden!«

Justin ist ruhig, seine Stimme fest. Langsam kommt er einen Schritt auf mich zu, aber Ryan weicht keinen Zentimeter zur Seite.

»Ich glaube nicht, dass sie das möchte«, will sich Ryan weiter behaupten.

»Und ich glaube nicht, dass ausgerechnet du weißt, was meine Freundin möchte«, bellt Justin.

Die Männer stehen sich angriffslustig gegenüber. Die Situation scheint jeden Moment zu eskalieren.

»Schon okay Ryan.«

Hastig springe ich auf und stelle mich zwischen sie. »Ich komme mit.«

Jede Faser in Ryan Körper spannt sich an.

»Du musst das nicht Leni!«

»Du hast sie gehört.«
Justins selbstgefälliges Grinsen ist triumphierend und provokant.

Bevor die beiden tatsächlich noch aufeinander losgehen, nehme ich meine Jacke, werfe Ryan einen reumütig entschuldigenden Blick zu und verlasse mit Justin gemeinsam den Raum.
Schweigend gehen wir die Treppen nach unten. Im Wohnzimmer sitzen nur noch wenige, sichtlich betrunkene Studenten, die uns kaum beachten. Direkt auf dem Rasen vor der Tür steht Justins Mercedes, auf den er ohne Umwege zusteuert.

»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich jetzt einsteige und einfach so mit dir fahre!«, fauche ich.

Erst jetzt dreht er sich zu mir um.
»Lass uns zu Hause reden.«

»Dank dir, deinem dummen Vertrag und deinem ach so wichtigen Ruf habe ich nur leider kein zu Hause mehr.«

Seine Miene wird finster.

»Deine zu Hause ist jetzt bei mir«, knurrt er wütend. Stur verschränke ich meine Arme vor der Brust.

»Justin, ich werde nirgendwo mit dir hingehen, bevor du mir nicht erzählt hast, was hier eigentlich los ist.«

Mit geballten Fäusten steht er vor mir. Seine Augen flackern. Dann schaut er sich um.

»Steig in das verdammte Auto! Du wirst alles erfahren.«

Also klettere ich mit meinem unpraktischen Kleid auf den Beifahrersitz und Justin fährt los. Er fährt schnell und rasant. Das Blut in seinen Adern kocht, aber seine Augen haften konzentriert auf der Straße.

»Also?«, dränge ich ihn.

Ohne mich anzusehen zieht er hörbar Luft ein und beginnt.

»Also gut. Für mein Business muss ich alles unter Kontrolle halten. Dafür ist mein Privatleben umso ausschweifender. Vor einigen Monaten lernte ich eine Frau kennen.«

Mir wird jetzt schon übel, wage es aber kaum mich zu bewegen, weil ich befürchte er könnte dann aufhören zu reden.

»Sagen wir es so, wir teilten die gleichen Vorlieben. Sie wollte mehr. Ich nicht. Sie drohte damit, mit ihrem Wissen an die Presse zu gehen. Das kann ich mir nicht erlauben. Sie wollte Geld und hat es nicht bekommen.«

»Sie wollte dich erpressen?«, keuche ich fassungslos.

»Ja. Ich erhielt Briefe. Anonym. Aber sie können nur von ihr kommen.«

Es fällt ihm schwer mit mir darüber zu sprechen, das merke ich, aber ich muss nun alles wissen.

»Was wollte sie der Presse erzählen?«

Sein ganzer Körper verkrampft sich. Er schweigt eine ganze Weile, überlegt ganz genau, bevor er antwortet.

»Du kennst das, Leni. Wir alle haben unsere Geschichte, die wir versuchen hinter einer Maske zu verstecken. Das macht uns aber nicht schlechter, nur anders.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top