Kapitel 20

12.Dezember

Um mich herum ist es dunkel. Schwarz. Mit letzter Kraft reiße ich die Augen auf und starre in die züngelnden Flammen. Ich höre die Schreie meiner Mutter und kurz darauf einen dumpfen Schlag, der in meinem Kopf widerhallt. Ich will nach ihr rufen, aber es verlässt nur noch ein Keuchen meine Kehle. Ich versuche aufzustehen, doch meine Beine geben nach, so dass ich wieder zu Boden sinke. Den schmerzlichen Aufprall auf den harten Holzboden spüre ich schon kaum mehr. Die Dunkelheit holt mich langsam wieder ein. »Mom, Dad!«, krächze ich bevor ich nichts mehr um mich herum wahrnehme. Ich höre nur noch meinen eigenen Herzschlag und spüre wie das Blut, vom Adrenalin getrieben, durch meine Adern gepeitscht wird. Kannst du die Dunkelheit lieben? Schaffst du es all seine Dämonen in Schach zu halten? Ich halte es nicht mehr aus, meine Lunge brennt höllisch, mein Körper schmerzt unaufhörlich. Meine letzte Hoffnung entweicht. Doch plötzlich fühle ich zwei warme, fast schon heiße, Arme schützend meinen kraftlosen Körper umfassen...

Ich reiße die Augen auf und versuche schnell meine Benommenheit wegzublinzeln. Mein Kopf ruht sanft auf dem weichen Daunenkissen. Mein seltsamer Traum hatte mich zum ersten Mal nicht völlig aus der Bahn geworfen. Müde und gerädert drehe ich mich auf der Matratze um, um mich in die warme Decke zu kuscheln. Doch plötzlich erstarre ich mitten in meiner Bewegung. Neben mir liegt halbnackt, in die Bettdecke eingerollt, Justin. Er schläft noch tief und fest. Seine Züge sind völlig entspannt und sein Mund einige Millimeter geöffnet. Er sieht so unglaublich schön und friedlich aus, dass ich nicht widerstehen kann mit meiner Hand zart über seine Wange zu fahren. Die kleinen Bartstoppeln kitzeln meine Fingerkuppen. Da greift er meine Hand, ohne seine Augen zu öffnen, führt sie an seine Lippen und küsst zärtlich meinen Handrücken.

»Wie spät ist es?«, fragt er mich, noch immer mit geschlossenen Augen.

»7:35 Uhr«, antworte ich nach einem kurzen Blick auf den Wecker.

Justin streckt sich und brummt mürrisch:
»Ich muss aufstehen. Paul und ich müssen uns noch mal mit der Plattenfirma treffen. Es läuft nicht ganz wie geplant. Und heute Nachmittag ist die Eröffnung der Stiftung.«

Er gähnt laut und reibt sich die Augen.

»Die kann ich nicht canceln. Ich halte dort eine Rede.«

Als er aufsteht, kann ich einen verstohlenen Blick auf seinen nackten, muskulösen Oberkörper erhaschen bevor er zum Duschen und Rasieren die Badtür schließt.
Um mir die Zeit bis zur Stiftungseröffnung zu vertreiben, setze ich mich mit meinem Buch auf das Sofa und lese, bis es allmählich soweit ist mich in Schale zu werfen. Ich föhne meine Haare zu leichten Wellen und betone meine Augen mit etwas grauem Lidschatten, der perfekt zu dem dunklen, knielangen Roland Mouret-Kleid und meinem anthrazitfarbenen Blazer passt.

»Was meinst du, ist eine Kette zu viel?«, frage ich Justin als er ins Zimmer kommt.

Er sieht umwerfend aus. In seinem Boss-Anzug wirkt er so lässig-elegant, dass er wohl wieder einmal alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Er neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich eine kurze Weile, bevor er antwortet.

»Nimm doch den Armreif, den ich dir geschenkt habe und ein paar schöne Ohrringe.«

Mit wenigen Schritten geht er zur Nachtkonsole und holt meinen Brillantreif, um ihn mir zärtlich über das Handgelenk zu streifen. Lächelnd mustere ich uns beide im Spiegel.

»Die Steinchen passen viel besser zu deinem Verlobungsring.«

Mit einem Augenzwinkern wendet er sich ab und richtet die Notizen für seine bevorstehende Rede. Dann nimmt er meinen knöchellangen Mantel von der Garderobe und legt ihn mir über die Schultern. Als er meinen leichten Lockenkopf darunter vorzieht, berühren seine warmen Hände meinen Nacken. Sofort bekomme ich eine wohlige Gänsehaut. Am Bordstein wartet ein schwarzer Mercedes, dessen Fahrer uns wie üblich die Tür öffnet als wir aus dem Hotel die Stufen herunterkommen. Ich rutsche auf dem Sitz zur anderen Seite durch, ziehe mein Kleid zurecht, und Justin setzt sich neben mich. Nachdem der Chauffeur die Tür des Wagens geschlossen hat, fällt mir erst so wirklich auf wie unglaublich gut Justin riecht. Ich atme tief ein und versuche mich während der Fahrt zu entspannen.
Unmittelbar nach unserer Ankunft explodieren die Blitzlichter um uns herum. Justin legt eine Hand um meine Hüfte und geleitet mich in Richtung Eingang. Jeder seiner Schritte verschafft ihm Aufmerksamkeit und Respekt, wobei ich mehr versuche mich hinter meinem schüchternen Lächeln zu verstecken und dem Trubel schnell zu entfliehen.

Im Foyer, in dem bereits leise Musik spielt, wurde ein großer Sektempfang errichtet und Kellner in schwarzen Smokings gehen mit Champagnergläsern umher. Justin nimmt zwei davon vom Tablett und reicht mir eines herüber. Leider muss ich gestehen, dass mir der edle Schaumwein auf nüchternen Magen nicht so recht bekommt, so dass ich bereue heute noch nichts gegessen zu haben. Dementsprechend bin ich nicht wirklich bei der Sache als Justin mich verschiedenen Leuten vorstellt, aber ich gebe mir größte Mühe höflich und bedacht zu antworten und im richtigen Moment zu lachen. Erst als Justin unter Applaus auf die Bühne zum Rednerpult geht, schaffe ich es mich voll und ganz zu konzentrieren.
Ich bewundere seine geschmeidigen Bewegungen, sein absolut selbstsicheres Auftreten.
Als er seine Rede beginnt, scheinen die Menschen geradezu an seinen Lippen zu hängen. Er schafft es mit Leichtigkeit das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er ist es eben gewohnt auf der Bühne zu stehen. Am Ende werden seine Worte mit Standing Ovation belohnt.

»Das hat er wirklich gut auf den Punkt gebracht«, höre ich jemanden hinter mir sagen.

»Mister Falent, wie schön Sie zu sehen«, begrüße ich das bekannte Gesicht.

Der sympathische Mann mit graumeliertem Haar tritt neben mich.

»Justin ist ein ausgezeichneter Redner«, lobt er meinen Scheinverlobten erneut, während sein Blick wieder fest auf die Bühne gerichtet ist.

»Ja, das ist er in der Tat«, stimme ich ihm zu bevor ich ihn etwas verwundert über seine Anwesenheit hier frage:

»Sind Sie denn extra für die Eröffnung heute nach Vancouver gereist?«

Er lächelt warm, als er antwortet: »Nein nein, ich war geschäftlich in Calgary. Da die Walthouse-Stiftung mehr eine Herzensangelegenheit ist, konnte ich glücklicherweise beides verbinden.«

Verstohlen grinst er.
»Und ihr beiden seid wohl auch nicht nur zum turteln hier wie ich Justin kenne.«

»Leider nicht, Justin hatte einige Meetings in der Stadt. Ich habe ihn nur begleitet, damit ich meinen Verlobten diese Woche überhaupt noch zu sehen bekomme.«

Vielwissend lacht Mister Falent, bevor er zustimmend nickt.

»Ja, das kenne ich. In jungen Jahren ist meine erste Frau, Clodette, auch oft mitgereist... Aber sagen Sie, die Bar hat eröffnet, möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

Ich schaue zu Justin hinüber. Von mehreren Menschen umringt steht er immer noch am Fuß der Stufen, die zur Bühne hinausführen. Mister Falent folgt meinem Blick.

»Wie Sie sehen ist er wohl noch eine Weile beschäftigt«, bemerkt er amüsiert.

»Offensichtlich!«, muss ich ihm Recht geben.

Da ich ebenfalls bemerke, dass Justin nicht so schnell zu uns stoßen wird, und ich auf keinen Fall alleine hier warten möchte, stimme ich zu und folge Mister Falent durch die Menge.

»Was möchten Sie denn?«, erkundigt er sich höflich.

»Bitte einfach ein Soda.«

Etwas Alkoholisches wäre jetzt womöglich Gift für meinen Magen. Erst nach geschätzten zwanzig Minuten Smalltalk sehe ich Justin sich den Weg zu uns frei bahnen. Mit einem festen, aber herzlichen, Händedruck begrüßt er Mister Falent bevor er mich kurz völlig keuch auf die Lippen küsst.

»Sorry, dass es so lange gedauert hat, Babe, aber du weißt ja wie das ist.«

Noch bevor ich etwas erwidern kann wendet er sich Mister Falent zu.

» Vince, wie laufen die Geschäfte?«

»Ich kann mich nicht beklagen. Wir haben den Porter-Deal an Land gezogen«, berichtet er voller Stolz.

»Gut, davon habe ich gehört.«

Aus der Masse kommt fast schon majestätischen eine junge Dunkelhaarige auf uns zu. Ihr weißer, wallender Rock flattert mit jedem Schritt und ihr Lächeln würde jeden Zahnarzt in helle Begeisterung versetzen. Vertraut legt sie Justin die Hand auf die Schulter, die sie während ihrer Begrüßung sanft seinen Arm hinunter gleiten lässt.

»Wie schön dich zu sehen, Justin«, säuselt sie mit einer samtweichen Stimme.

Dabei fällt mir sofort auf wie sich Justins Schultern straffen und sein Kiefer sich anspannt.

»Hallo Denise«, entgegnet er ihr kühl, kurz bevor er sie als Denise Gouver vorstellt.

Gouver, diesen Namen habe ich schon einmal gehört, auf der Wohltätigkeitsveranstaltung der Familie Prenston. Das Ehepaar, das uns beim Bankett gegenüber saß.

»Denise, das sind Mister Falent, Inhaber von Falent United, und meine Verlobte, Leni Jones«, macht uns Justin bekannt.

Plötzlich ist ihre aufgesetzte Freundlichkeit verflogen und ihr eh schon heller Teint scheint noch etwas blasser geworden zu sein. Von irgendwo höre ich Vince Falents Namen fallen und beobachte wie er sich suchend im Raum umschaut.

»Entschuldigt mich...«, murmelt er bevor er im Getümmel der Gäste und Reporter verschwindet.

»Ach, und du bist seit Neustem sesshaft geworden? Na dann, meinen herzlichsten Glückwunsch«, flötet diese Denise.

Dann dreht sie mir den Rücken zu, steht schon fast zwischen uns.

»Eine ganz super Eröffnungsrede. Du weißt ja wie wichtig mir und meinen Eltern die Stiftungsgründung war. Ich würde dich gerne mit jemandem bekannt machen.«

Über die Schulter hinweg wirft sie mir einen kurzen Blick zu.

»Ich entführe ihn nur für einen Moment.«

Dann legt sie Justin erneut die Hand auf den Rücken als wolle sie ihn mit sich schieben.
Ziemlich verloren stehe ich unter der ganzen High Society in diesem Raum. Da ich nicht recht weiß wie ich mich verhalten soll und mich wirklich unwohl fühle, schnappe ich mir eins der Sektgläser vom Tablett als der Kellner an mir vorbei schreitet, ehe ich mich nach einer Sitzgelegenheiten umsehe. Hinter den mit weißen Hussen bezogenen Stehtischen finde ich eine kleine Reihe von Tischgruppen an denen tatsächlich noch Platz ist.

Inzwischen habe ich mein viertes Glas Sekt geleert und das Schälchen Oliven vor mir komplett leer gegessen. Von Justin fehlt weiter jede Spur. Gelangweilt lausche ich dem Gespräch meiner Tischnachbarn, die bislang nicht versuchten mich in ihre Unterhaltung mit einzubeziehen. Während ich den Raum etliche Male nach Justins gestylten Haaren absuche, werden ihre Stimmen immer mehr zu einem monotonen Brummen im Hintergrund. Es beginnt mich unwahrscheinlich zu nerven, dass Justin so lange auf sich warten lässt. Besonders da mir diese aufgesetzte Person, diese Denise, mehr wie nur unsympathisch erscheint. Da sehe ich ihn endlich mit forschen Schritten, an einer Gruppe Reporter vorbei, auf mich zukommen.

»Wir brechen auf«, knurrt er als er schließlich an meinem Tisch steht.

Hastig zieht er mich am Arm zur Garderobe, wobei ich, vom Sekt merklich beschwipst, darauf achten muss nicht in meinen hohen Pumps zu stolpern. Noch bevor wir unsere Mäntel haben, ruft er über sein Handy den Fahrer zum Eingang, wo wir zügig an der Horde Fotografen vorbeihuschen.
Erst als der Mercedes auf die Hauptstraße biegt, fasse ich meinen ganzen Mut zusammen und spreche Justin an, der sichtlich angespannt und vor Zorn geradezu brodelt.

»Was ist denn?«

»Nichts«, fährt er mich schroff an, ohne mich anzusehen.

»Warum bist du dann so aufgebracht?«, hake ich noch einmal nach.

Justin sieht zu mir rüber. Seine Augen flackern vor Wut.

»Es war nichts, okay? Nichts, was für dich wichtig wäre.«

Mir steht der Mund offen.
Dann dreht er sich von mir weg um die restliche Fahrt schweigend aus dem Fenster zu schauen. Auch als wir auf unserem Hotelzimmer angekommen sind hat sich die angespannte Stimmung noch immer nicht gelöst. Achtlos wirft Justin seinen Mantel aufs Bett.

»Ich habe einige Telefonate zu führen. Das wird dauern«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, nimmt sein Handy und geht.

Völlig ratlos starre ich auf die Zimmertür, die er hinter sich zugeworfen hat.

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