Ein langer Weg
Die nächsten Wochen fühlen sich grauenhaft an. Teddy und ich haben Mom tatsächlich ganz allein und schweigend im nahegelegenen Friedhof beerdigt. Es tat so weh, tat so weh zugeben zu müssen, dass sie nicht mehr hier ist, dass sie nie wiederkommt. Ich fühle mich zunehmend allein, hilflos, planlos, zurückgelassen. Ich falle in eine Art Trance, lächle nur, um andere glücklich zu machen und den Anschein zu wahren, dass es okay ist, dass ich mit all dem klarkomme. Das einzige, was mich tatsächlich am Leben hält sind Teddy und Zigaretten.
Ich wünschte die Zwillinge wären wenigstens da und würden zumindest versuchen mich aufzumuntern, doch ich bin vollkommen auf mich allein gestellt. Es ist alles so plötzlich, so unvorhersehbar. Auch, wenn ich es versuche, kann ich nicht einfach erwachsen sein. Ich bin nicht bereit, aber irgendwie muss ich es sein, damit alles funktioniert.
Ich befinde mich in einer sich stetig abwärts drehenden Spirale, aus der ich nicht mehr herauskomme. Ich ertrage es nicht mehr allein mit mir selbst zu sein, weil ich die Gedanken, die durch meinen Kopf flimmern nicht aushalte. Ich fühle mich eingesperrt in mir selbst, in den Ruinen von dem, was ich mal war.
Umso erleichterter bin ich, dass ich den ganzen Tag in der Arbeit verbringen muss und den Rest davon nutze, um für Teddy da zu sein. Ich vergesse mich selbst, stelle mich zurück, weil ich mich nicht mit dem auseinandersetzten will, was ich fühle. Ich will nicht darüber reden, dass alte Gewohnheiten zurückgehen, dass ich wieder Gewicht verliere und langsam eine ernsthafte Sucht gegenüber den Zigaretten entwickle. Am liebsten würde ich mich selbst verlassen, aber das kann ich nun Mal nicht.
„Wir gehen sofort in den Zug," wiederhole ich mich zum tausensten Mal, als wir auf den großen Bahnhof zu hetzen. Ich habe um unser Haus alle möglichen Schutzzauber gelegt, damit es sicher ist, solange wir weg sind.
Teddy nickt nur augenverdrehend, schwerfällig seinen Koffer hinter sich herzerrend. Es ist überfordernd plötzlich alles im Griff haben zu müssen, alles zu organisieren und an jede Kleinigkeit zu denken. Auch, wenn ich in den Sommerferien viel gelernt habe, fühle ich mich immer noch, als hätte mich jemand ohne Vorwarnung ins kalte Wasser geschmissen.
Als wir durch den Bahnhof laufen, schwirren mir nur so die Gedanken durch den Kopf, die ich die Ferien über verdrängt habe. Auch, wenn ich ihnen gerne alles verzeihen würde, frisst es mich auf, dass die Zwillinge nicht da waren, dass sie mich in der schlimmsten und grauenhaftesten Situation meines Lebens einfach im Regen stehen gelassen haben. Ich weiß, es sind meine Freunde und ich liebe sie, aber, wenn ich daran denke, brodelt in mir das gleißende Gefühl der Wut, das einzige, was die Leere zurzeit füllen kann.
„Aber ich muss nicht bei dir sitzen?", frägt Teddy, kurz bevor wir die Plattform betreten.
„Nein, musst du nicht," brumme ich augenverdrehend.
Er nickt nur entschuldigend und rennt auf die Wand zu, nur um zu verschwinden und die magische Welt dahinter zu betreten. Ich starre ein paar Sekunden vor mich hin, zögere diesen Schritt zu gehen. Am liebsten würde ich rennen, einfach loslaufen und nie wiederkommen, aber im Gegensatz zu Mom weiß ich, dass die Magie ein Teil von mir ist, ein Teil, vor dem ich niemals weglaufen könnte.
Seufzend setzte ich mich in Bewegung und gleite mit geschlossenen Augen und leicht pochenden Herzen in eine andere Welt, ein gleichermaßen viel schöner und grausamer, als die, die die Muggel kennen.
Ich schlucke schwer. So habe ich mir mein Abschlussjahr sicher nicht vorgestellt. Ich dachte an Spaß, lernen und Freiheit, wenn wir es hinter uns haben. Stattdessen hat es angefangen mit einem heftigen Schlag ins Gesicht. Ich habe nicht erwartet hier zu stehen mit einer nagenden Leere in mir und einem Kind, für das ich sorgen muss. So schnell kann sich alles ändern...
Ich husche mit gesenktem Blick durch die Familien, versuche sie nicht dafür zu hassen, dass sie noch heil sind und verschwinde ohne einen Blick zurück in dem roten Zug. Da dieser noch ziemlich leer ist und ich Teddy nicht finden kann, suche ich mir ein Abteil, verschließe die Tür und ziehe die Schallusien herunter.
Missmutig hieve ich meinen Koffer auf die Ablage und lasse mich auf einen der Sitze am Fenster fallen. Verzerrte Stimmen schwirren herein, Stimmen von besorgten Müttern und beschwichtigenden Kindern. Ich verdrehe nur meine Augen und verschränke meine Arme vor der Brust.
Wie ich das alles hasse, wie ich diesen Tag hasse. Früher, war es nur schlimm, weil Mom nie dabei war, nicht einmal bei meiner aller ersten Fahrt nach Hogwarts. Heute ist es schlimm, weil ich weiß, dass sie nie dabei sein wird, dass ich keine einzige Erinnerung mit ihr in dieser magischen Welt habe.
Es schmerzt so sehr, reißt die frisch verheilten Narben wieder auf und lässt mich gegen die Tränen ankämpfen. Wenn ich wenigstens bereit dafür gewesen wäre, wenn ich wenigstens stark genug wäre, um mich um Teddy und mich selbst zu kümmern. Aber ich schaffe nicht einmal das.
In dem Moment wird die Tür mit einem heftigen Ruck aufgerissen und die Zwillinge stecken ihre Köpfe herein.
„Hey, Eve," begrüßt mich Fred zögernd. „Dürfen wir uns zu dir setzten?"
„Wenn ihr niemand anderen belästigen könnt," brumme ich kühl und rutsche demonstrativ noch ein wenig näher zum Fenster.
Ich muss nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass sie einen Blick wechseln, bevor sie die Tür hinter sich zu machen, ihre Koffer lautstark verstauen und Fred sich neben mich fallen lässt.
„Hast du unseren Brief bekommen?", frägt er mich.
„Ja," antworte ich knapp.
„Okay, ähm, wir würden dir nämlich gerne erklären, warum..."
„Weißt du was Fred, es interessiert mich nicht," unterbreche ich ihn eisig. „Ihr wart nicht da, als meine Mom gestorben ist. Ich glaube nicht, dass es dazu noch etwas zu sagen gibt."
„Hör uns doch erst mal zu," versucht es George.
„Ich habe wirklich besseres zu tun, als mir eure Erklärungen anzuhören," stelle ich klar und ziehe schweigend ein Buch aus meiner Tasche.
Die zwei sehen sich ratlos an. Es fühlt sich gut an, es fühlt sich gut an, dass die Leere ausgefüllt ist von eiskalter gefrorener Wut. Auch, wenn es mich fast auffrisst, wenn ich fast daran erfriere, spüre ich endlich wieder etwas in mir, als die ewige Stille einer Ruinenlandschaft.
„Eve..."
„Nenn mich nicht so," blaffe ich.
Fred seufzt. Die letzten Schüler steigen in den Zug, er fängt an zu ruckeln, das Gleis wird von Rauch eingehüllt und dann setzt er sich auch schon langsam in Bewegung.
„Du kannst nicht böse auf uns sein, wenn du dir nicht einmal angehört hast, wo wir waren und wieso," versucht es George erneut.
„Wie du siehst kann ich das ganz gut," brumme ich augenverdrehend.
„Was ist nur los mit dir?", frägt Fred kopfschüttelnd.
Ich lege das Buch weg und blitze ihn mit meinen dunklen Augen an. Genervt rücke ich meinen Pferdeschwanz zurecht.
„Was mit mir los ist? Ich habe meine Mutter verloren, sie ist gestorben, direkt vor mir. Ich habe zugesehen, wie jemand meine Mutter umgebracht hat, wie das Licht in ihren Augen ausgegangen ist, wie sie mir ein letztes Mal zugelächelt hat. Ich musste es Teddy erzählen und durfte zusehen, wie alles in ihm bricht. Jetzt muss ich einen dreizehnjährigen erziehen, Geld verdienen und mich vor dem Ministerium rechtfertigen, warum ausgerechnet ich geeignet bin als Erziehungsberechtigte. Ich war ganz allein vor dem Gericht, ich war die ganzen Sommerferien vollkommen allein. Ich habe meine Mutter allein beerdigt, stand allein heulend vor ihrem Grab und habe gehofft, dass ich es irgendwie schaffe. Das ist mit mir los," zische ich eisig.
„Hey," murmelt Fred leise, „es tut mir leid. Wir wollen dir wirklich nur helfen und vielleicht willst du uns einfach zuhören. Du kannst immer noch sauer auf uns sein, aber hör uns erstmal zu."
Ich sehe ihn an. Ich kann die Kälte spüren, wie sie mein Herz lähmt, wie sie mich eisig und unnahbar werden lässt, wie sie alles zerstört, was mir einmal etwas bedeutet hat.
„Okay, erklärt das Unmögliche," brumme ich.
Fred seufzt erleichtert auf und räuspert sich dann.
„Also, wir wussten selbst nicht, dass wir diese Ferien nicht Zuhause verbringen. Mom hat uns am zweiten Tag abends gesagt wir sollen packen und dann sind wir in der früh schon appariert. Wir wollten dir einen Brief schreiben, aber Mom meinte, dass du auch mal ohne uns klarkommst. Sie haben uns ins Hauptquartier gebracht."
Meine Augenbraue wandert in die Höhe und ich sehe Fred skeptisch an.
„Also es gibt einen Orden des Phönix, eine Widerstandsgruppe gegen Voldemort," erklärt George hastig und sieht mich mit seinen ehrlichen dunklen Augen an. „Sie gab es schon letztes Mal, als es Krieg in der Zauberwelt gab und jetzt, wo das Ministerium sich weigert etwas gegen die Gefahr zu tun, hat Dumbledore ihn wieder auferstehen lassen."
„Und dieser Orden des Phönix hat ein Hauptquartier," erklärt Fred weiter. „Es ist ein altes Haus, versteckt in einem Muggelviertel, weshalb wir deine Briefe auch zunächst nicht bekommen haben. Ach, ja, erinnerst du dich noch an Sirius Black, der Massenmörder, der aus Askaban ausgebrochen ist? Er ist eigentlich kein Mörder und ihm gehört auch das Haus, in dem wir die Ferien gebracht haben. Er ist Harrys Pate und vollkommen unschuldig. Und er ist auch Teil des Ordens."
Ich sehe ziemlich verwirrt zwischen den beiden hin und her und hole tief Luft.
„Also ihr wart in einem geheimen Haus, es gibt einen Wiederstand gegen du-weißt-schon-wen und ihr habt mit dem berüchtigten Massenmörder zusammen gelebt, der eigentlich vollkommen unschuldig ist," fasse ich ungläubig zusammen.
„Jap," bestätigt Fred vorsichtig grinsend. „Jedenfalls haben wir so zunächst deine Briefe nicht bekommen und haben erst zwei Tage später von dem...Vorfall gehört. Alle saßen betreten in der Küche und haben sich angeschwiegen. Sie meinten es geht um dich und haben uns dann erzählt, was passiert ist."
Er hält kurz inne, mich unsicher musternd. Er scheint nicht ganz genau zu wissen, wie er mit der ganzen Situation umgehen soll.
„Wir wollten dann zu dir, aber unsere Eltern meinten, dass wir dir Zeit mit deinem Bruder lassen sollten und dass es viel zu gefährlich ist, wenn wir alle plötzlich bei dir auftauchen. Als wir dann mitbekommen haben, dass du das Sorgerecht für deinen Bruder übernehmen willst haben wir darauf bestanden, dass dich jemand dahin begleiten soll," macht George weiter, mich unerlässlich ansehend. „Wir wollten wirklich kommen, aber alle haben gesagt es ist zu gefährlich. Und deshalb haben wir darauf bestanden, dass ein Erwachsener dich begleitet, wenn wir schon nicht hindürfen. Aber es konnte keiner, weshalb wir Charlie gefragt haben, der einen Tag vorher aus Rumänien kam."
Sie sahen mich beide an, ihre unschuldigen braunen Augen auf meine gebrochenen gerichtet. Ich seufze nur und lehne meinen Kopf an das kalte Fenster, an dem die Landschaft vorbeizieht und vereinzelte Regentropfen beginnen hinunter zu rinnen.
„Ich war die ganzen Ferien allein und das ist eure Entschuldigung," stelle ich leise fest.
Die ganze Last der letzten Wochen scheint auf mich einzubrechen, mich zu befallen, wie eine Krankheit. Ich fühle mich unglaublich müde, ausgelaugt und schwach. Alles fällt mir schwer und am liebsten würde ich mich einfach schlafen legen.
„Ihr könnt das nicht ungeschehen machen," brumme ich noch, die enttäuschten und ratlosen Gesichter der Zwillinge ignorierend.
Zum ersten Mal fühle ich mich ziemlich allein und einsam auf der Welt. Ich war mir eigentlich immer sicher, dass egal, was passieren wird, dass die zwei Chaoten da sein werden, dass sie mich auffangen, wenn ich falle und mir helfen wieder aufzustehen.
Aber so war es nicht. Ich musste mich allein wieder nach oben kämpfen. Und selbst jetzt, jetzt, wo ich in dem Zug nach Hogwarts sitze, würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass mit mir alles okay ist. Ich fühle mich weiterhin seltsam leer, alles in mir scheint gebrochen und verwüstet und ich erkenne mich selbst nicht mehr. Ein Teil von mir ist irgendwie...kalt geworden, unnahbar und verschlossener, als jemals zuvor.
„Eve, wir lieben dich und wir können nicht zulassen, dass du dich von uns abwendest," versucht es George mit seiner sanften und ruhigen Stimme.
„Das hättet ihr euch vorher überlegen müssen," brumme ich nur.
Die beiden seufzen synchron. Ich wünsche mir nichts mehr, dass alles wie früher ist, dass wir über sowas lachen könnten, aber es geht einfach nicht mehr. Lachen fühlt sich fremd und falsch an, das Leben ist kalt und karg geworden und irgendwie habe ich nicht einmal mehr die Kraft mich dagegen zu wehren.
„Ich gehe mal kurz frische Luft schnappen," teile ich mit, mich hastig aufrichten und aus der bedrückenden Stille in dem Raum fliehend. Gerade, als ich den Gang entlanghasten will, um eine Toilette zu finden, um mich dort wie immer zu übergeben, packt mich eine Hand an meinem knochigen Arm.
„Eve," wispert Freds Stimme an mein Ohr, weshalb ich mich ein wenig widerspenstig umdrehe.
„Was," blaffe ich ziemlich unfreundlich, weil die Stimme in mir beginnt lauter und lauter zu werden.
Ohne ein weiteres Wort zieht er mich in eine Umarmung, drückt mich gegen seine mit den Jahren breit gewordene Brust und streicht mir durch meine unordentlich hoch gebundenen Haare.
„Ich liebe dich, Eve," murmelt er sehr leise. „Und ich ertrage es nicht, wenn es dir so geht. Also, lass mich dir helfen."
Ich sage nichts, stehe für ein paar Sekunden nur versteift da, bevor ich es zulasse, bevor ich die Wärme zulasse und sie mein Herz berühren lasse. Es schmerzt, lässt ein Feuer in der kargen zerstören Landschaft wütend, das mindestens genauso weh tut, wie die vorrausgehende Welle. Aber es ist ein guter Schmerz, einer auf dem Weg der Besserung.
„Lass uns dir helfen."
Ich seufze leise, halte erfolgreich meine Tränen zurück und sehe Fred an, der gut um zwei Köpfe größer geworden ist als ich.
„Ich kann euch nicht einfach verzeihen, dass ihr nicht da wart. Jetzt ist alles schon kaputt," erwidere ich mit einem Kratzen in der Kehle.
„Das musst du nicht. Du kannst dir Zeit nehmen. Aber verbann uns nicht aus deinem Leben. So etwas heilt nie ganz, aber beste Freunde können es erträglicher machen," erwidert er und sieht mich abwartend an.
„Okay," murmle ich nur. Die Stimme in meinem Kopf ist verstummt, was mich ziemlich erleichtert, wenn ich ehrlich bin.
Ein leicht triumphierendes Lächeln umspielt seine Lippen, bevor er mich wieder in das Abteil zieht, in dem George schon sehnsüchtig auf uns wartet.
„Alles okay?", frägt er sofort.
„Ja, alles okay," erwidere ich und lasse mich auf meinen Sitz fallen.
„Uund, was haben Charlie und du gemacht, als er dich nachts besucht hat, bevor er nach Rumänien gegangen ist?", frägt mich Fred gedehnt, nach einem kurzen Moment der Stille.
„Woher weißt du das bitte," keife ich ein wenig zu eilig und zu verärgert zurück. Die Röte steigt mir ins Gesicht und ich wende mich hastig von ihm ab.
„Aha, also ist etwas passiert," stellt George grinsend fest, sich ein wenig weiter vorlehnend.
„Charlie saß den ganzen Tag mehr als deprimiert im Wohnzimmer, nachdem du ihn abserviert hast. Er wollte mit niemanden reden und hat, bevor er gegangen ist, gesagt, dass er dich noch mal besucht," erklärt Fred ein fettes Grinsen in seinem Gesicht.
„Das geht euch gar nichts an," brumme ich, stelle aber gleich fest, dass das die falsche Antwort war, weil die Zwillinge sich nur noch feixender ansehen. „Es war nichts," sage ich dann schließlich ehrlich. „Er hat mir einen riesen Schrecken eingejagt, als er Mitten in unseren Garten appariert ist und wir haben ein bisschen geredet, bevor er wieder verschwunden ist."
George und Fred schweigen einen Moment, bevor sie sich enttäuscht ansehen und sich resigniert zurücklehnen. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen und ich schüttle nur meinen Kopf.
„Was habt ihr erwartet?", frage ich mit hochgezogener Augenbraue. „Ich bin jetzt eine Mom, ich muss mich um Teddy kümmern und ich habe keine Zeit für sowas. Das alles hat mich genug Kraft gekostet."
Ich verfalle in ein Schweigen und die Zwillinge scheinen nicht wirklich zu wissen, was sie sagen sollen. Ich starre aus dem Fenster, spüre wie mein Herz angestrengt gegen meine Brust klopft, wie ich versuche zu atmen, während mich jemand immer und immer wieder unter Wasser drückt. Aber er lässt mich nicht ertrinken, lässt mich leiden und jedes Mal wieder ringe ich nach Luft, wenn ich die Chance dazu habe, nur um mich dann weiter zu quälen.
Auch, wenn ich versuche es nicht zu zeigen, bin ich überfordert mit allem. Ich kann Teddy nicht erziehen, ich hasse es allein zu sein und ich fühle mich jetzt schon ausgelaugt und müde.
„Dieses Jahr gibt es endlich wieder Quidditchspiele," sagt George dann, der bemerkt haben muss, dass ich abgedriftet bin.
„Hmm," mache ich nur.
Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich mal war. Meine Welt ist irgendwie schwarz-weiß geworden und ich kann nichts dagegen tun. Vielleicht sieht es so aus, als würde ich das alles verkraften, aber in Wahrheit könnte ich jede Sekunde anfangen zu heulen.
Die Jungs beginnen sich über Quidditsch zu unterhalten, während ich weiter aus dem Fenster starre. Ich vermisse sie jeden Tag mehr. Langsam beginnt ihr Bild zu verblassen, ich weiß nicht mehr genau, wie ihre Stimme klang, wie sie aussah, wenn sie lachte. Ich kann mich immer schlechter an ihr Aussehen erinnern. Alles beginnt zu verschwinden und das macht mir unglaublich Angst. Eines Tages werde ich ein Foto von ihr ansehen und mich fragen, wie sich ihre Stimme angehört hat, wie sich ihre Hände oder Umarmungen angefühlt haben.
„Eve, bist du noch anwesend?", frägt mich Fred.
„Ähm...ja," erwidere ich leise. „Ich gehe mal kurz frische Luft schnappen."
Dieses Mal schaffe ich es ohne, dass mir einer der beiden folgt. Ich schließe mich in ein Klo ein und vergrabe meinen Kopf in meinen Händen. Das Leben ist nicht fair.
Den Rest der Zugfahrt verbringe ich Größtenteils schweigend, insbesondere, als Angie und Katie sich zu uns ins Abteil gesellen. Meine Gedanken schweifen zu Charlie und ich ertappe mich dabei, wie ich mir wünsche, dass er hier wäre. Ich denke an Teddy, an Mom und an all das, was auf uns zukommt.
Als wir aus dem Express steigen ist es draußen längst dunkel, Regen peitscht über den Bahnhof und vertreibt die Schüler hektisch in die Kutschen.
Als auch ich endlich dort ankomme, meine Jacke schützend über mich haltend, erstarre ich verwundert.
„Was ist los, Eve?", frägt mich George ziemlich verwirrt, seine Haare durchnässt und seine Wangen feucht vom Regen.
„Was zieht die Kutschen?", frage ich verwundert und gehe ganz vorsichtig auf das seltsame Wesen zu.
Es ist ganz schwarz und es wirkt als wäre seine lederne Haut direkt über das Skelett gestülpt. Der Kopf ist eigenartig und erinnert mich an einen Totenschädel. Es hat große knochige Flügel, die direkt an seinem dürren Körper liegen. Es sieht mich aus seinen ausdruckslosen Augen an und schnaubt leise.
„Eve, da ist nichts, so wie jedes Jahr," brummt George, halb genervt, halb besorgt.
Ich starre das Wesen noch für ein paar Sekunden an, bevor ich mich abwende und mich an meinem Freund vorbei in die Kutsche drängle, meinen Koffer eng an mich gepresst. Das, was ich in den Augen dieses Wesens gesehen habe, war der Tod, so kalt, unbarmherzig und gnadenlos.
Ich starre auf den Boden. Es sind Thestrale, Wesen der Dunkelheit und eigentlich ziemlich selten. Sie sind nur für Menschen sichtbar, die den Tod gesehen haben, nur für die, die einen Menschen direkt vor sich sterben haben sehen. Etwas sticht heftig in meiner Brust. Ich habe mich immer gefragt wieso, aber jetzt, wo ich selbst einer von diesen wenigen Auserwählten bin, weiß ich es.
In ihren Augen spiegelt sich der Tod selbst, in ihnen sieht man genau das, was man fühlt, wenn jemand einen verlässt.
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