Kapitel 1

4 Jahre später

Ich stand gerade an meinem Spind und suchte mein Geschichtsbuch, als ich mal wieder eine Stimme von meiner linken Schulter vernahm. "Warum suchst du nach diesem komischen Buch, wenn du eh keine Lust hast, zum Unterricht zu gehen? Ich bin ja dafür, dass wir uns Armin schnappen und in ein Freibad einbrechen. Oder wir gehen in die schlechteren Stadtteile und besorgen uns Drogen und Alkohol und feiern ein bisschen. Was hälst du davon?", sagte Arnold der auf meiner Schulter saß und mit den Beinen baumelte, während er grinsend seinen Dreizack polierte. Der blitzte aber so vor Sauberkeit, dass ich eher glaubte, dass er das für den Showeffekt tat. "Hast du sie noch alle? Lilly kann doch nicht einfach die Schule schwänzen, sie ist im letzten Jahr, überleg mal, was sie alles verpasst!", kam es sogleich von rechts. Luca sah entrüstet zu Arnold, der nur mit den Schultern zuckte. Ich kramte währendessen weiter in meinem Spind. Wo war nur dieses verdammte Buch?

"Arnold, am hellichten Tag in ein Freibad einzubrechen ist eine absolut dämliche Idee. Es hat nämlich geöffnet", antwortete ich geistesabwesend. "Und das ist nur ein Grund, warum ich dazu keine Lust habe." Luca gab einen zustimmenden Laut von sich. "Und zu deinem anderen Vorschlag: Nein. Wovon träumst du bitte nachts?" "Von der Übernahme der Weltherrschaft, wenn du es unbedingt wissen willst." Arnold grinste wieder, während Luca und ich die Augen verdrehten. "Dieser Engel hat einen schlechten Einfluss auf dich, weißt du das?" Ich sah ihn skeptisch an. "Das soll ja wohl ein Witz sein oder? Aber was viel wichtiger ist, weiß einer von euch beiden, wo ich mein Buch hingelegt habe? Herr Reinke tötet mich, wenn ich es schon wieder vergesse." Luca legte den Kopf schief und verzog die Lippen zu einer Art Schmollmund. Dachte er grade nach? Das sah irgendwie süß aus.

"Du hast doch vorhin noch im Oberstufenraum gelernt, hast du es da vielleicht vergessen?" Ich schlug mir die flache Hand vor den Kopf, wie konnte ich nur so blöd sein? "Ja klar, da muss es sein. Ich hoffe es liegt da noch." Arnold machte eine Kaugummiblase - wo hatte er das denn jetzt schon wieder her? - und sah mich an. "Wer sollte denn ein langweiliges Mathebuch klauen?" "Geschichtsbuch", verbesserte ich ihn. Er zuckte mit den Schultern. "Noch schlimmer." Ich schloss meinen Spind und wollte mich auf den Weg zum Oberstufenraum machen, als er um die Ecke kam. Sascha. Arnold und Luca erblickten ihn im gleichen Moment. "Los zeig mehr Ausschnitt", kam es sofort von Arnold. "Nein weniger", widersprach Luca energisch. Ich sah an mir hinunter. Mein karierter Rock saß nicht zu weit oben und meine schwarzen Overkneestiefel waren nicht verutschte. Ich zupfte etwas an der schwarzen Bluse herum, um den Ausschnitt zu vergrößern - zumindest ein bisschen - und strich mir eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr. Arnold grinste triumphierend.

Ich war schon seit einer Ewigkeit in Sascha verliebt... traute mich aber nicht, ihn nach einem Date zu fragen. Wir verstanden uns gut, aber irgendwie hatte ich Angst, dass er mich nicht auf die selbe Art mochte wie ich ihn. Und jetzt kam er mit einem verschmitzten Lächeln direkt auf mich zu. Er sah wirklich gut aus, wenn auch ein bisschen nerdy mit seiner Brille und dem hochgeschlossenen Hemd, doch es gefiel mir. Seine braunen Haare hatte er in einem kleinen Dutt zusammengebunden. Und... er trug ein Buch unter dem Arm. "Hey Lilly", sagte er, und blieb dicht vor mir stehen. Wow, er war mir wirklich nah. Ich machte einen kleinen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Sascha quittierte meine Bewegung mit einem leichten Stirnrunzeln, dass aber so schnell wieder verschwand, dass ich es mir auch eingebildet haben konnte. "Ich bitte dich, würdest du die Luft bitte nicht so mit deinen Hormonen verpesten? Das ist ja widerlich!", Arnold wedelte sich mit seinem Schwanz Luft zu. Luca lächelte verträumt. "Lass sie doch, Liebe ist sooo schön." Arnold gab ein würgendes Geräusch von sich. Ich ignorierte die beiden und konzentrierte mich stattdessen auf den Jungen vor mir.

"Sascha, alles klar bei dir?" Verlegen wollte ich mir wieder die Haarsträhne hinters Ohr streichen, ließ die Hand jedoch wieder sinken, als ich bemerkte, dass ich das eben schon getan hatte. Wow, sehr beeindruckend. Er sah auf mich runter und grinste. "Klar. Kann es sein, dass du was suchst?" Er hielt mir das Buch hin, welches er eben noch unter dem Arm getragen hatte. Mein Geschichtsbuch. "Oh Gott, danke. Ich habe eben schon meinen ganzen Spind ausgeräumt, weil ich dachte, ich hätte es schon wieder verloren." Sascha fing an zu lachen. "Schon wieder?" Betreten sah ich auf meine Schuhspitzen. "Das ist dieses Jahr schon mein drittes..." Sein Lachen wurde lauter. Es war tief und klang einfach wundervoll. "Könntest du bitte aufhören, so kitschige Sachen zu denken? Ich kann das alles hören!" Der Teufel auf meiner Schulter verdrehte die Augen. "Klappe", raunte ich. Sascha sah mich an. "Was hast du gesagt?" "Ach gar nichts."

Das war das Problem an meinen Begleitern, außer mir konnte niemand sie sehen, was mich manchmal schon in ziemlich peinliche Situationen gebracht hatte. So wie jetzt. "Willst du dein Buch jetzt haben oder hast du beschlossen, nicht mehr zu Geschichte zu gehen?" Sascha hielt mir immer noch das Buch hin und ich griff schnell danach. "Reinke würde mir den Kopf abreißen, wenn ich das machen würde." Ich grinste. "Er ist wirklich nicht einfach", stimmte Sascha mir zu. "Los frag ihn, ob du ihn auf einen Kaffee einladen kannst, als Dankeschön, dass er dir das Buch gebracht hat", Luca sprang auf meiner Schulter auf und ab. "Oder wie wäre es gleich mit einem Swingerclub?" Arnold wackelte mit den Augenbrauen. "Wirklich Arnold?" Luca sah ihn entrüstet an. "Erstens wären die Prioritäten dann geklärt und zweitens... nenn mich nicht so!" Daraufhin brachen die beiden in einen heftigen Streit aus und ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. "Ähm Sascha also, ich würde dich gerne auf..." Leider klingelte es in diesem Moment zur nächsten Stunde und der Rest meines Satzes wurde verschluckt.

"Sorry was hast du gesagt?" Sascha lächelte mich sanft an. "Ich ähm also, ich wollte... vergiss es, war nicht wichtig." Ein verlegenes Lachen stahl sich über meine Lippen und ich fuhr mir durch die Haare. Gott, ich brachte es einfach nicht über mich, das nochmal zu fragen. "Ich muss dann los, Reinke hasst Unpünktlichkeit. Bis dann!" Schnellen Schrittes entfernte ich mich und umklammerte mein Buch. Die beiden auf meiner Schulter hörten auf zu streiten. "Das... war peinlich. Du hättest ihn wegen dem Swingerclub fragen sollen." Arnold schüttelte resigniert den Kopf. "Ich muss ihm ausnahmsweise recht geben, also ich meine nicht das mit dem Swingerclub, aber du hättest ihn nach einem Date fragen sollen", Luca nickte zustimmend. "Jaja, das weiß ich auch selbst", murrte ich. "Und jetzt ab mit euch, ich muss zum Unterricht." "Miesepeter", antwortete Arnold noch, bevor die beiden sich mit einem leisen Plopp in Luft auflösten.

Herr Reinke hielt gerade einen Vortrag über Nationalismus in Polen, doch ich konnte mich darauf nicht richtig konzentrieren. Mit meinen Gedanken war ich immer noch bei meinem Gespräch mit Sascha. Ich hätte ihn wirklich nach einem Date fragen sollen. Frustriert ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. "Was ist denn los mit dir? Ich weiß ja, Geschichte ist nicht unbedingt dein Lieblingsfach, aber so öde ist es nun wirklich nicht, dass du gleich einschlafen musst." Meine beste Freundin Anna sah mich leicht von der Seite an, während sie sich eifrig Notizen machte. "Das hat überhaupt nichts mit dem Unterricht zu tun. Ich habe vorhin Sascha getroffen, als er mir mein Geschichtsbuch gebracht hat." "Hattest du es etwa schon wieder verloren?" "Nein, natürlich nicht." "Warum musste er es dir dann bringen?" "Darum geht es doch grade gar nicht!" Leider sprach ich den letzten Satz etwas zu laut aus, so dass mein Lehrer sich zu uns umdrehte. "Fräulein Merten, wenn sie etwas an meinem Unterricht auszusetzen haben, dann teilen sie es doch bitte der ganzen Klasse mit. Und lungern sie nicht so auf ihrem Stuhl rum, so können sie sich nichts notieren und das haben sie dringend nötig." Einige meiner Mitschüler kicherten, während er mich missbilligend ansah. Ich richtete mich auf und nuschelte ein: "Tut mir leid." Das schien ihm zu genügen, denn er führte seinen Vortrag fort.

"Und worum geht es dann?", flüsterte Anna so leise, dass ich sie kaum verstand. Ich rieb mir über die Stirn. "Ich wollte ihn als Dankeschön auf einen Kaffee einladen, aber dank der Klingel hat er mich nicht verstanden und dann habe ich nicht den Mut aufgebracht, ihn nochmal zu fragen und bin abgehauen." "Wow, peinlich." "Ja danke, dass du mich dran erinnerst." Sie zuckte nur mit den Schultern. Den Rest der Stunde verbrachten wir in Schweigen. Es war mir ein Rätsel, was Herr Reinke uns in dieser und eigentlich auch in jeder anderen Stunde eigentlich beibringen wollte. Ich konnte mir das alles eh nicht merken. Das war eigentlich auch gar nicht so schlimm, da ich diesen Kurs nur belegen musste, damit ich auf die Mindestanzahl an Stunden kam. Ich musste ihn allerdings bestehen, wenn ich meinen Schnitt behalten wollte und das sah im Moment gar nicht gut aus. Ich war die einzige Abdeckerin im Leistungskurs und Herrr Reinke hatte sehr hohe Erwartungen. Und mein Desinteressse an Geschichte spiegelte sich leider auch in meinen Noten wieder. So wie jetzt, als Herr Reinke den Kurztest der letzten Stunde austeilte und ich auf meinem wieder nur 4 Punkte stehen sah. "Lilly, ich würde sie gerne nach der Stunde noch kurz hier behalten. Wir müssen uns mal über Ihre Leistungen unterhalten." Mein Lehrer zog vielsagend die Augenbrauen hoch und verschwand dann wieder nach vorne.

Ich sah auf den Test meiner besten Freundin, die mal wieder die beste Arbeit geschrieben hatte. "Kannst du mir mal sagen, wie du das machst? Ich verstehe kein Wort von dem was er sagt", fragte ich sie. "Im Gegensatz zu dir mache ich mir Notizen." "Was für eine Streberin. Ich sage ja, wir hätten in ein Freibad einbrechen sollen", meldete sich Arnold in diesem Moment zu Wort. "Du hättest dich wohl lieber besser vorbereiten sollen", tadelte Luca mich. "Jaja, ich weiß", murrte ich. In diesem Moment klingelte es zur Pause und ich atmete erleichtert auf. Jetzt musste ich nur noch das Gespräch mit Herrn Reinke hinter mich bringen und konnte dann endlich in die Mensa verschwinden. Langsam packte ich meine Sachen ein und schlich nach vorne, wo mein Lehrer mich mit verschränkten Armen erwartete. Das konnte ja heiter werden. "Lilly, das ist jetzt schon der vierte Test in Folge, den Sie nicht bestanden haben. So kann es nicht weitergehen. Wenn Sie sich nicht schleunigst verbessern, dann werden Sie den Kurs nicht bestehen." Als er mein zerknirschtes Gesicht sah, wurde sein Blick weicher. "Ich weiß doch, wie ehrgeizig Sie sonst sind. Versuchen Sie doch, dass auch in Geschichte einzubringen. Mir ist bewusst, dass sie nicht freiwillig hier sind und dass ich hohe Ansprüche habe, aber ihre Freundin bekommt es doch auch hin. Fragen Sie sie doch mal, ob sie Ihnen Nachhilfe geben kann." Er legte eine Hand auf meine Schulter, drückte sie und lächelte mich an. "Sie können es noch schaffen, ich glaube an sie."

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