Sechzehn
Ich schaue mich um. Während ich immer nur das Ziel hatte, weiter in das brennende Gebäude vorzudringen, habe ich nicht auf meinen Fluchtweg geachtet. Und das habe ich nun davon! Am liebsten würde ich laut aufschreien, doch dafür reicht meine Kraft nicht mehr. Was bin ich denn für eine Myth, die nicht auf ihren Weg achtet!
Aus Ermangelung anderer Möglichkeiten kehre ich dem Loch im Boden den Rücken, nehme das schwache Kind an die Hand und breche die einzige noch relativ unbeschadete Tür auf.
Mit einem unheimlichen Quietschen schwingt sie auf. Und mir bleibt der Mund offen stehen: In diesem Raum ist kein Rauch, kein Ruß, nichts. Nur in ihren Hochbetten schlafende Kinder, die erst durch mein Erscheinen wach werden und sich die Äuglein reiben.
Ein besonders grimmig aussehendes Kind fragt verschlafen: "Wo brennt's?", was mich wieder zur Besinnung bringt. Ich schubse das Kind, was ich im Flur aufgegabelt habe, in das Zimmer hinein und schließe die Tür.
Dann versuche ich das Fenster aufzureißen, um zu prüfen, ob man aus ihm gelangen könnte, während ich Anweisungen gebe. "Du da, nimm den Säugling aus dem Kinderbett, und du, zieh dir um Gottes Willen eine Hose an!" So geht es immer weiter, und zu meiner Verwunderung halten sich die Kleinen sogar daran. Insgesamt ist dieser Brand sehr eigenartig. Wenn ein Blitz in das Heim eingeschlagen ist, warum ist das Feuer dann so untypisch schnell ausgebrochen? Und warum hat niemand etwas getan? Doch am meisten stört mich jetzt, dass in einem Raum Menschen sterben, und im anderen schlafen können.
Momentan habe ich aber andere Probleme, als mich über Unmöglichkeiten aufzuregen. Zum Beispiel mich selber und andere Menschen retten. Mein Plan mit dem Fenster scheitert leider. Zum einen wäre es viel zu gefährlich, einfach rauszuhüpfen, und zum anderen ist es gar nicht möglich, das Fenster überhaupt zu öffnen.
Und wenn ich es einschlagen würde, würden die Glasscherben uns unten aufschlitzen, wenn wir uns nicht schon sämtliche Knochen gebrochen haben. Doch was soll ich jetzt machen? Der Weg durch den Flur ist durch ein Flammenmeer unmöglich. Da kommt mir wieder Lyan in den Sinn. Ohne genau zu wissen, was und warum ich es tue, fange ich an zu schreien: "Lyyyyyyaaaaaaaaannnnnnnn!", und im selben Moment geht die Tür auf. Und in diesem einen Moment fange ich an, an Gott zu glauben. Mein Held ist da!
Und dann bricht Lyan auf der Türschwelle ohnmächtig zusammen, und mit ihm auch meine Hoffnung auf Rettung. "Oh, du ver..." Ich kann mich gerade noch zurückhalten. Man soll nicht in Anwesenheit von Kindern fluchen. "...dammte Scheiße", sagt das vorlaute Kind. Erst da merke ich, dass es sich um ein Mädchen mit kurzen, schwarzen Haaren handelt, das auf Lyan zugeht und ihn mustert. "Also, hübsch ist er ja". Sie lacht mit einer Stimme, die mich wieder daran erinnern lässt, wie jung sie eigentlich ist. Ich schätze das Mädchen auf neun Jahre, in denen sie sicherlich schon vieles erlebt hat. Da nun durch die geöffnete Tür Rauch und Hitze in den Raum gelangen, reiße ich mich aus meiner Starre und gehe mit energischen Schritten zu Lyan, um ihn reinzuziehen. Währenddessen wende ich mich an die Schwarzhaarige: "Du kennst dich hier wohl am besten aus. Hast du eine Ahnung, wie wir hier rauskommen?" Sie runzelt die Stirn. "Kommt drauf an."
"Worauf denn?"
"Darauf, ob das Heim noch mal ausgebaut wird. Ich riskiere doch nicht, meine Geheimgänge zu verraten, wenn ich noch mal hier lebe. Oder eher nicht lebe, denn wenn ich hier nicht raus kann, bin ich weg." Ich starre dieses merkwürdige Mädchen an.
Sie starrt zurück. So geht es immer weiter, bis Lyan aufstöhnt. Ich schaue zu ihm herunter, und auch das Mädchen hat nun seine Aufmerksamkeit. Ich sollte es mal nach ihrem Namen fragen. Wenn die Zeit dazu ist. Im Moment sollten wir uns jedoch lieber darauf konzentrieren, zu überleben, als uns einander vorzustellen.
"Ich schätze mal, das Haus wird bald nur noch Asche sein.UND WIR AUCH,es WENN DU NICHT ENDLICH DEINEN ARSCH BEWEGST UND UNS DEN AUSGANG ZEIGST!", brülle ich, woraufhin Lyan noch einmal stöhnt und ein Baby zu schreien anfängt. Na super, was ist das für ein Chaos. Mein Wutausbruch scheint die Kleine aber zur Besinnung gebracht zu haben. Sie steht auf und öffnet den Kleiderschrank, um wie von Sinnen Kleidungsstücke aus ihm zu werfen. Doch noch ehe ich mir wieder um ihren Gemütszustand Sorgen machen kann, hat sie die Rückenwand zurückgeschoben und zeigt auf eine klaffende Wand, in der ein riesiges Loch schräg nach unten geht. Noch ehe ich irgendetwas sagen kann, hat sie sich schon in das Loch geschwungen und ist weg. Ich lasse Lyans Kopf fallen, den ich in der Hand gehalten habe, und schaue staunend hindurch. Der Junge, den ich aus dem Flur habe, redet da zum ersten Mal: "Ach deswegen wollte sie das Zimmer unbedingt haben." Dann geht er wie selbstverständlich zu mir und schaut mich aus seinen großen Augen an: "Kannst du vielleicht mit mir rutschen? Ich habe ja auch noch den Arm." Mein Blick fällt auf seinen gekrümmten Arm, den ich bei seiner Rettung verletzt habe. Ich nicke.
Dann müssen allerdings erst einmal die Gruppen festgelegt werden. Eine Freundin des Wildfangs sagt, der Tunnel führt zu einem Teich im Garten des Heimes. Und da unter uns auch Babys und Kinder sind, die nicht schwimmen können, sowie ein immer noch bewusstloser Lyan, müssen wir erst mal organisieren, was wir machen. Als ich schon fast selber von dem beißenden Gestank ohnmächtig werde, rutsche ich als erstes mit dem Jungen. Dann tauche ich immer bis zum Grund und helfe den anderen, wieder an die Oberfäche zu gelangen. Erst als ich mich fallen lasse, kommen mir Zweifel. Doch da ist es zu spät. Sofort wird mir die Sicht genommen. Ich fühle, wie die Feuchtigkeit meinen Körper emporkriecht, während ich sie streife. Der kleine Junge auf meinem Bauch versucht, es sich ein wenig konfortabler zu machen, und kommt an seine kaputte Schulter. Sein duchdringender Schrei wird von dem Wasser sofort verschluckt. Sofort fängt er wie im Wahn an, um sich zu schlagen, und auch ich bekomme einige Hiebe ab, kann ihn jedoch festhalten und unbeschadet an die Oberfläche tauchen. So kann ich alle Kinder aus dem brennenden Haus befreien. Der kleine Wildfang ist weg, aber ich kann mir um sie einfach keine Gedanken machen.
Als ich aus dem Teich steige, bin ich pitschnass, müde, habe Verbrennungen und Kratzer sowie einen Fuß, der so schmerzt, als ob er abfallen wollte. Offenbar bin ich bei meinem Versuch, Lyan wieder auf festen Boden zu hiefen, umgeknickt. Erst als alle draußen sind und sich tropfend das bennende Heim anschauen, das in einiger Entfernung in Schutt und Asche brennt, kommen auch die anderen Myth, die sich verzweifelt darum bemüht haben, das Feuer nicht auf die Mytakemie gelangen lassen. Ich werde in Decken gehüllt und es kommen immer mehr Menschen, die uns umlagern und von dem Brand bringen. Doch als mein Blick gedankenverloren über die Menge streift, froh, der Feuerhölle entkommen zu sein, fällt mein Blick auf Anieta. Inmitten der Menge steht sie da und blickt auf das Heim. Eine ältere Dame in einem hässlichen, altbackenen türkisen Kostüm steht neben ihr und redet auf sie ein. Anie scheint nicht überzeugt zu sein, doch dann nickt sie leicht und in diesem Moment explodiert das Heim und der gigantische Feuerball bringt alle zu Fall. Als ich meinen Blick von den neuen toten abwende und wieder dorthin schaue, wo die beiden Hexen eben gestanden haben, sehe ich nur Leere.
In Maurizio ist der erste Tag nach einem Unglück zum Aufräumen da. Die Menschen packen die Leichen ein und versorgen Überlebende, wenn es noch welche gibt. In meinem Zimmer schläft Lyan den ganzen Tag durch, während ich unten in der Küche aushelfe. Mein Fuß macht leider nicht sehr viele Sachen mit, weswegen ich nur im Sitzen arbeiten kann. Aber ich kann keine Pause machen - wenn es um mich still wird, fange ich augenblicklich an zu weinen. Zum Glück schnarcht Lyan, sodass ich wenigstens einigermaßen tränenfrei schlafen kann. Und tagsüber, wenn ich arbeite, muss ich mich mit anderen Sachen beschäftgen als meinen eigenen Problemen. Die Mytakemie ist überfordert mit den vielen zusätzlichen Menschen, die ernährt werden müssen. Unsere Vorräte für den Winter sind schon fast aufgebraucht: Meine geliebten Ziegen werden geschunden, um halbwegs an die erforderliche Menge Ziegenmilch zu kommen, die gebraucht wird. Der einzige Moment, wo ich alleine bin und es still um mich ist, ist im Bad. So merkwürdig es klingt, doch kaum sitze ich auf dem Klo, schon kommen die Tränen. Und da ich ja leider nicht vermeiden kann, zu müssen, kommt diese zeiweilige Depression alle paar Stunden, außerdem abends, wenn ich dusche, und natürlich beim Zähneputzen morgens und ebenfalls abends. Anders gesagt bin ich abends nicht nur von der Arbeit und den ganzen Sorgen total fertig, sondern auch verheult.
Am zweiten Tag ist die Trauer angesagt. In der kleinen Kapelle sind viele Trauernde untergebracht, selbst wenn sie nicht gläubig sind. Ich aber bleibe in meiner Küche, schnibbele Karotten und höre den anderen Küchenhelfern zu, die sich immer ausschließlich über den Brand unterhalten. Erst am Abend verlasse ich meinen Platz am Kamin, jedoch nur, um gleich vor Schmerz aufzustöhnen. Ich bin mit meinem Fuß immer noch nicht beim Arzt gewesen, und beim ganzen Sitzen habe ich ihn glatt vergessen. Doch dieses Stechen erinnert mich daran, das dieser Tag nicht nur Maurizio tief im Kern getroffen hat, sondern auch mich. In einer Sekunde habe ich das gesehen, wovon ich die letzten Tage abgewichen bin. Hexen sind böse. Sie haben unschuldige Kinder ermordet. Sie sind Mörder. Und niemand kann mich je von dieser Meinung abbringen!
Am dritten Tag ist das Vergessen dran. Maurizios Bevölkerung kann es sich nicht leisten, länger als unbedingt nötig zu trauern. Dafür müssen sie selbst auf ihrem Rücken zu viel Leid tragen. Solche unerklärlichen Unglücke passieren einfach viel zu häufig, um noch um jedes einzelne Opfer zu klagen. Die Bewohner ziehen den Kopf ein, beten, dass nicht sie die nächsten sind, und vergessen. Vergessen, was aus ihrer Mitte gerissen wurde. Vergessen die Chancen, die ihnen genommen wurden.
Das einzige, was sie nicht vergessen, ist der Hass.
Der Hass gegen alles Unbekannte, der nun auch der meine ist.
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