Prolog
Die Schutzbrille baumelte um meinen Hals, die Stallfarben für den Helm hatte ich längst irgendwo verloren.
Clearwater und ich würden es schaffen. Die anderen Jockey's waren hinter uns, bis auf meinen Bruder Jack und sein Rennpferd Golddigger. Wir waren gleich auf.
Die letzte Runde. Der Becher's Brook. Das erste Mal hatten wir ihn einwandfrei geschafft.
,,Okay Clear, hör zu. Du bist ein guter Junge. Du packst das. Mach's einfach wie beim ersten Mal. Mach mich stolz. Ich weiß, dass wir beide das packen."
Mein Pferd zuckte mit den Ohren und ich lächelte, nur um dann sofort die Zügel wieder straffer aufzunehmen.
Kurz sah ich Jack an und grinste. Als er mich auch angrinste und nickte, atmete ich tief durch und blickte auf den Becher's Brook.
Wir würden es schaffen. Ich atmete ein letztes Mal tief durch und dann sprang Clearwater auch schon ab. Genau im richtigen Moment, im richtigen Winkel und im perfekten Tempo. Besser hätte es nicht laufen können.
Ich verbiss mir einen Freudensschrei und ritt weiter. Vor uns sah man schon den Canal Turn. Nur noch ein paar Meter.
Unsere Chance zu siegen war verdammt groß. Ich hatte eine einzige Chance. Clearwater. Ohne ihn wäre ich nicht so weit und hätte auch nie nur das erste Hinderniss geschafft.
Im Augenwinkel sah ich, wie mein Zwillingsbruder Jack zum Sprung ansetzte. Golddigger, ein rotbraunes Vollblut, hasste den Becher's Brook. Das hatten wir bereits beim Training, so wie bei der ersten Runde gesehen. Trotzdem zog er es durch.
Golddigger war viel zu stur um aufzugeben, und genau deshalb passte er so gut zu Jack. Ein sturer Esel zum anderen.
Die Vorderhufe des englischen Vollblutes waren fast am Boden, als seine Hinterhufe in die Hecke brachen. Er riss die Augen auf und knickte ein. Ein paar Schritte nach dem Graben blieben sie liegen.
Ausgerechnet hier würden alle Pferde nach dem Absprung landen. Beide standen nicht auf, somit hielt ich Clearwater zurück.
Just als ich umdrehen wollte, sprangen vier Pferde hintereinander über die Hecke. Clearwater wurde unruhig.
Jack versuchte noch sich von Golddigger runter zu rollen, aber vergeblich. Ich schrie. Ich wunk, schrie mir meine Kehle wund, kreischte ohrenbetäubend, riss mir die Stallfarben vom Leib und wunk damit. Doch niemand sah mich in dem Chaos, oder hörte mich durch den Lärm.
Stumm schloss ich die Augen und ließ Clearwater undrehen.
Die Pferde, einige Reiterlos, nachdem auch diese bein Becher's Brook gestürzt waren, galloppierten wild und in Schlangenlinien an uns vorbei, und Clearwater wurde noch unruhiger. Ich hatte meine Probleme damit, ihn in Schach zu halten.
Letztendlich büchste er aus und rannte blind gegen ein anderes Pferd. Wir lösten eine Massenkarambollage aus.
Bis heute wurde der Wells-Unfall als der schlimmste Unfall am Grand National bezeichnet.
Ein Junge und vier Pferde starben auf der Bahn.
Fünf Pferde mussten eingeschläfert werden.
Mehr als die Hälfte der Rennpferde trug schwere Verletzungen davon, ein halbes Dutzend Jockey's zog sich irgendwelche Verletzungen zu.
Ein Mädchen landete im Rollstuhl und verlor alles binnen ein paar Sekunden.
Ihren Bruder, ihr Pferd, ihre Beweglichkeit, das Reiten, ihr Selbstvertrauen und ihren Kampfgeist.
Zurück blieb ein verbittertes Mädchen, welches nichts mehr mit der alten Brooklyn Wells zu tun hatte.
Ein Mädchen, um das sich die Medien rissen. Zeitungen, Fernsehsendungen, plötzlich wollte mich jeder. Ich war das Gesprächsthema Nummer eins.
Ich konnte damit nicht umgehen. Schon früher nicht.
Ich kann damit nicht umgehen. Auch nicht heute.
Ich werde nie damit umgehen können. Nicht morgen, nicht übermorgen, auch nicht in drei Jahren.
Doch das ist scheinbar okay. Zumindest für alle Leute. Denn noch immer bohrte jeder in der offenen Wunde, streute Salz hinein, sodass sie nicht anfangen konnte, zu heilen.
Nicht, dass ich nicht gerne berühmt geworden wäre. Das wollte ich. Ich wollte Bekanntheit. Nur eben auf eine andere Weise.
Ich wollte als jüngste Siegerin des Grand Nationals hervorgehen. Jack hatte vor, als jüngster Jockey zu siegen. Wir hatten beide dasselbe Ziel.
Wir kämpften hart darum. Nur einer konnte es schaffen. Niemand von uns hatte es geschafft. Und niemand von uns würde es jemals wieder schaffen.
Ohne mein Pferd, und ohne meinen Zwillingsbruder, war ich bei weitem nicht mehr die, die ich immer war.
Ich war ein Sandkorn unter Red Rum's Füßen. Ein Nichts. Einmal berührt von etwas Besonderem, etwas Großem, doch das war's schon. Mehr nicht.
Ich war ein Jockey im Rollstuhl.
Wenige können den Schmerz nachempfinden, den ich noch immer fühle.
Wenn du eines im Leben richtig gut kannst, etwas mit ganzem Herzen liebst, und es dir genommen wird, bricht alles zusammen. Die ganze kleine heile Welt stürzt über dir ein und du kannst dich in keinen Bunker retten.
Es war wie auf der Titanic. Und es gab keine Rettungsboote.
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Fehler könnt ihr sehr gerne kommentieren.
{786 Wörter}
[13.06.17]
[Akt. 18.09.18]
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