Kapitel 1

,,Schätzchen, es ist neun Uhr. Zeit zum aufstehen", sagte meine Mum fröhlich und riss die Vorhänge auf. Dazu öffnete sie das Fenster, sodass die kalte Luft hereinkam und nahm mir meine Decke.

Wie jeden Morgen ließ ich das alles ohne Gemecker über mich ergehen.

Wozu meckern? Ich war am Leben. Jack nicht.

Mom schlang die Arme um meine Hüfte und hob mich hoch zum Rollstuhl, der neben meiner Tür stand.

,,Frühstück ist fertig. Ich erwarte dich in zehn Minuten", meinte meine Mutter lächelnd und ging aus meinem Zimmer.

Meine Mutter Arabella Wells war sowas wie eine Seelenhilfe für Pferde. Sie half Vierbeinern, die Angst hatten, Schlimmes durchleben mussten, nicht mehr fraßen, oder was sonst noch so mit ihnen los war.

Dad und sie hatten sich kennengelernt, als er sein Rennpferd Cherokee Crown in ihre geschulten Hände gab.

Cherokee Crown, ein weißes, anmutiges Vollblut, litt damals unter Angstzuständen, die besonders stark auftraten, wenn es laut war. Eine Zeit lang hatte er Angst vor dem Wasser, da es ziemlich viel Lärm veranstaltete, wenn die Pumpe betätigt wurde, und somit verweigerte er jegliches Wasser, bis jemand die Idee hatte, ihn mit der Flasche zum Trinken zu bringen. Nichtmal aus einem Eimer oder Trog wollte er noch trinken.

Dad war am Ende mit seinen Nerven. Cherokee war ein so talentiertes Pferd, das konnte er nicht einfach aufgeben. Doch auf der Bahn war es nunmal laut. Und das mit der Flasche war auch keine dauerhafte Lösung.

Mein Vater, William Wells, verbrachte unzählige Stunden damit, eine Lösung zu finden. Bis er von einer jungen Frau den Tipp bekam, es an der Bolden Street 52 zu versuchen.

Bei meiner Mom. Arabella hatte mit Cherokee eine Kräutertherapie, sowie ein spezielles Training gemacht. Das hatte dem Pferd geholfen.

Dad wollte den weiten Weg nicht zurück fahren, und so blieb er im Gästezimmer der West River Ranch, die Mom zusammen mit ihrer besten Freundin führte.

William sagte immer, es wäre ein Geschenk gewesen, Mom bei der Arbeit zusehen zu dürfen.

Das dachte ich auch jedes Mal wieder.

Und wie es kam, war Cherokee bald geheilt und Dad hatte keinen Grund mehr, bei Arabella zu bleiben. Er lud sie aber zu einem Rennen ein, das Erste, das er nach langer Zeit wieder reiten wollte. Nichts stand dem im Weg, Cherokee Crown war topfit.

Wie von den meisten erwartet gewannen die beiden. Meine Eltern waren beide so glücklich, dass Cherokee nun wieder ganz der alte war. Voller Freude rannte Mom zu meinem Dad auf das Podest und küsste ihn vor mehreren tausend Zuschauern.

Und seitdem waren sie immer ein Dreamteam, besonders was Pferde anbelangte.

Dad zog zu Mom auf den Pferdestall und beide wurden berühmt. Arabella galt als die Beste in ihrem Bereich, denn niemand konnte den Vierbeinern besser helfen als sie. Und William gewann zwei Mal hintereinander das Grand National in seinen jungen Jahren.

Doch der Rennsport ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Nein, er war tückisch und gefährlich. Und er kostete meinem Vater und meinem Bruder das Leben.

Ich rollte aus dem Badezimmer in den Flur. Dort hingen wunderschöne Porträts von meiner Mutter, meinem Vater, Jack und mir. Auch Cherokee Crown, Golddigger und Clearwater waren vertreten. Das Letzte im Flur war von uns allen zusammen, wie wir mit den drei Pferden auf der Weide standen. Diese Gemälde brachen mir jedesmal wieder mein Herz.

Seufzend rollte ich an den Küchentisch und mischte mir mein Müsli. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich es wie Jack aß. Die Rosinen ließ ich weg, und die Haferflocken pickte ich raus. Das war genau Jack's Art, sein Müsli zu essen. Manchmal griff ich auch nach dem Apfel um ihn Clearwater zu bringen, doch dann traf mich die eiskalte Realität und ich legte ihn wieder zurück. Langsam fuhr ich mir übers Gesicht. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich vom Fenster aus, wie sich jemand dem Haus näherte.

,,Mom? Da draußen sind schon wieder Paparazzi!", schrie ich verzweifelt.

Meine Mutter legte das nasse Tuch zur Seite und sah aus dem Fenster. Dann schüttelte sie den Kopf. ,,Nein Süße, das ist nur Mister Millain. Er holt Aaron Rox heute ab."

,,Oh", sagte ich einfach. Seit dem Unfall wurden wir von den Paparazzi überrannt und manchmal dachte ich, dass sie sogar Lady Gaga oder Taylor Swift für ein Interview mit mir sitzen lassen würden. Ohne arrogant zu klingen: Diese Leute hatten einen Narren an uns gefressen und es trieb mich in den Wahnsinn.

Ich fuhr das Geschirr in die Küche und nahm den Eimer mit nach draußen.

Die Morgensonne tauchte den Hof in goldenes Licht. Kurz ließ ich alles auf mich wirken. Unser Zuhause war wunderschön. Riesige Weiden, ein Wohnhaus, ein großer Stall mit genügend Platz, Putzplätze und, und, und.

Dann rollte ich zum Stall und mischte die Kräuter zusammen, die Mom heute brauchen würde. Ein weiterer Tag meines umgekrempelten Lebens begann, und es sah nicht so aus, als würde er toll werden.

Die Kräuter stellte ich auf den Tisch in der Sattelkammer und fing an, die Sättel zu putzen. Etwas anderes hatte ich gerade nicht zu tun.

Die Sättel von Dad, Jack und mir pflegte ich immer besonders gut. Jack hatte oft Stunden hier verbracht, nur, um sich um sein Sattelzeug zu kümmern.

Als ich Jack's Sattel in den Händen hielt, kamen mir wie sooft die Tränen. Wäre ich von Clearwater abgestiegen und hätte lauter geschrien, hätte nurnoch auffälliger gewunken, hätte ich irgendwas besseres getan, würde mein Zwillingsbruder noch hier sitzen und er würde mich verdammt nochmal dazu auffordern, mich wieder hochzukämpfen.

Doch ich blieb lieber am Boden. Denn nur Jack schaffte es, mich vom Boden hochzubekommen. Das hatte er immer geschafft. Tat ich es nicht, würde ich ihn enttäuschen, das wusste ich. Doch tat ich es, würde ich ihn verraten. Jack konnte sich nicht mehr hochkämpfen und ich sah es als Betrug, als Verrat an, das zu tun, was er so geliebt hatte, und was er niewieder tun konnte.

Nämlich reiten.

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{998 Wörter}
[Akt. 18.09.18]

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