Kapitel 44-glauben

Herr Seidels Büro war warm und ruhig, ein seltsamer Kontrast zu dem Chaos in meinem Kopf. Die Wände waren in sanften Farben gestrichen, und auf dem Schreibtisch standen eine Tasse Tee und ein Notizblock. Es war mein dritter Termin bei ihm, seit wir wöchentliche Sitzungen eingeführt haben, in der wir über alles reden sollten.

Ich wusste, was er gleich fragen würde, noch bevor er es tat.

„Leo, wie geht es dir diese Woche?"

Seine Stimme war freundlich, geduldig. Aber ich hatte gelernt, dass solche Fragen gefährlich waren. Dass man, wenn man die Wahrheit sagte, riskierte, dass andere noch mehr in einem sahen, als man zeigen wollte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ganz okay."

Er musterte mich einen Moment, als würde er abwägen, ob er mir das glauben sollte. „Wie läuft es in der Schule?"

Ich spürte, wie mein Körper sich automatisch anspannte. Die Erinnerung an Emmas Worte war noch frisch, als hätte sie sie mir gerade erst ins Ohr geflüstert.

Du bist zu schwach.
Ein Feigling.
Du kannst nichts alleine regeln.

Ich konnte ihm nichts davon erzählen.

Ich war hier, in diesem Raum, weil andere Leute beschlossen hatten, dass ich Hilfe brauchte. Ich war bei Elias' Familie, weil ich es nicht geschafft hatte, alleine zu überleben. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, über meinen eigenen Körper.

Und jetzt sollte ich ihm erzählen, dass ich nicht mal in der Schule klarkam?

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Alles gut. Nichts Besonderes."

Herr Seidel sah mich lange an. Ich konnte spüren, dass er mir nicht ganz glaubte.

„Bist du sicher?" fragte er sanft. „Es ist okay, wenn nicht alles gut ist, Leo. Das hier ist dein Raum. Du kannst offen reden."

Ich spielte mit dem Ärmel meines Pullovers und wich seinem Blick aus. „Nein, wirklich, es läuft. Ich versuche einfach, mich auf den Unterricht zu konzentrieren."

„Wie sind deine Mitschüler? Kommt ihr gut miteinander aus?"

Mein Magen zog sich zusammen. Ich wusste, dass ich jetzt die Gelegenheit hatte. Ich könnte es ihm sagen. Ich könnte ihm erzählen, dass Emma mich fertig machte, dass sie mir meinen Namen nahm, dass sie mich schwach nannte, und dass ich langsam glaubte, sie könnte recht haben.

Aber die Worte kamen nicht.

Ich hörte meine eigene Stimme, ruhig und gelassen, als wäre nichts passiert. „Ja, alles okay. Ich halte mich aus allem raus."

Herr Seidel nickte langsam, als würde er abwägen, wie viel Wahrheit in meinen Worten lag. Aber er drängte nicht weiter.

„Okay", sagte er schließlich. „Aber falls doch mal etwas ist, du weißt, dass du jederzeit mit mir darüber reden kannst, oder?"

Ich nickte, weil das die richtige Antwort war.

Er lächelte leicht. „Gut. Dann lass uns über etwas anderes sprechen..."

Ich ließ mich in den Stuhl sinken, hörte ihm zu, antwortete, wenn es nötig war. Aber ein Teil von mir war woanders.

Ein Teil von mir hörte immer noch Emmas Stimme.

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