Kapitel 4-zwischen den Zeilen
Elias hatte dieses Talent, die Welt um sich herum in Bewegung zu setzen. Selbst die stillsten Momente, wenn niemand etwas sagte, fühlten sich lebendig an, wenn er in der Nähe war. Es war, als würde er den Raum mit Licht füllen, ohne es zu versuchen. Und ich? Ich war immer der Schatten am Rand.
Manchmal fragte ich mich, warum er überhaupt Zeit mit mir verbrachte. Vielleicht war es Mitleid. Vielleicht sah er es als eine Art Projekt. Der nette Junge, der dem Außenseiter hilft. Doch in letzter Zeit fühlte es sich anders an. Zu intensiv, zu nah.
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Elias war nur nett. Das war alles. Nett und hilfsbereit. Das durfte nichts bedeuten.
In der Pause saßen wir wieder auf der Tribüne hinter der Turnhalle, wie am Tag zuvor. Es war unser Ort geworden – für mich ein Versteck, für Elias eine kurze Flucht aus seiner Welt. Er hatte seinen Rucksack neben sich geworfen und sich nach hinten gelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, während er zur Wolkendecke hochschaute.
„Marie, du siehst aus, als würdest du gerade ein ganzes Buch in deinem Kopf schreiben", sagte er plötzlich und grinste zu mir herüber.
Ich fühlte, wie ich rot wurde. „Was?"
„Du denkst so laut, dass es fast störend ist."
„Ich... denke gar nichts", log ich, während ich meine Haare hinter die Ohren strich.
„Aha." Er zog eine Augenbraue hoch. „Dann überlegst du also nicht gerade, ob du ein Lächeln riskieren könntest?"
„Wieso?"
„Weil ich dich zum Lächeln bringen will."
Er zog ein Schokoriegelpapier aus seinem Rucksack und begann, es zu einem absurden Origamischwan zu falten. Sein Gesicht war konzentriert, die Zunge leicht zwischen die Zähne geklemmt. Ich konnte nicht anders, ich lachte leise.
„Das ist wirklich das Dümmste, was ich je gesehen habe."
„Mission erfüllt", sagte er und reichte mir den zerknitterten Schwan.
Ich nahm ihn zögernd entgegen und fühlte ein merkwürdiges Ziehen in meiner Brust. Das hier war Elias – freundlich, lustig, manchmal ein bisschen albern. Aber warum war es so schwer, das einfach zu genießen?
Als die Pause vorbei war, ging Elias mit mir zurück Richtung Klassenzimmer. Seine Freunde standen schon vor der Tür und warteten auf ihn. Ich spürte, wie sich seine Haltung leicht veränderte, als sie uns sahen. Es war subtil – eine kleine Drehung seines Körpers weg von mir, ein angedeutetes Schulterzucken.
„Elias! Wo warst du?" rief einer der Jungs, ein großer Typ namens Jonas.
„Nur ein bisschen frische Luft schnappen", sagte Elias locker.
„Mit ihr?" Jonas warf mir einen schnellen Blick zu, bevor er sich wieder Elias zuwandte. Es war nicht feindselig, nur abschätzig. Als wäre ich nicht der Rede wert.
„Ja, mit Marie", erwiderte Elias, seine Stimme blieb ruhig.
Jonas lachte. „Du bist echt ein Wohltäter, was? Machst Nachhilfe in Sozialarbeit?"
Ich wandte den Blick ab, der Knoten in meinem Bauch zog sich enger zusammen.
„Lass es", sagte Elias leise. Es klang nicht bedrohlich, aber bestimmt. Jonas hob die Hände und wechselte das Thema, aber die Spannung blieb in der Luft hängen.
Später am Tag, nach dem Unterricht, lief Elias mir nach, als ich meine Sachen packte.
„Hey, alles okay?" fragte er.
„Ja, alles gut." Meine Stimme klang hohl, und ich konnte sehen, dass er es bemerkte.
„Wegen Jonas? Ignorier ihn. Der hat nichts Besseres zu tun."
„Es ist nicht nur Jonas", gab ich schließlich zu. „Es ist alles. Die ganze Zeit... ich weiß nicht. Ich fühle mich wie ein Fehler."
Elias sah mich an, und ich konnte sehen, wie sich seine Stirn leicht in Falten legte. „Marie, du bist kein Fehler."
Ich wollte ihm glauben, aber es war schwierig. Die Welt um mich herum schien ständig das Gegenteil zu schreien.
„Manchmal denke ich, dass du der einzige bist, der mich ansieht und mich nicht sofort... hasst."
„Ich hasse dich nicht." Sein Ton war sanft, fast verletzlich. „Im Gegenteil."
Ich sah ihn an und spürte wieder dieses Ziehen in meiner Brust, dieses ungreifbare Etwas, das immer da war, wenn ich bei ihm war. Es war mehr als Freundschaft, oder vielleicht wollte ich nur, dass es mehr war. Aber wie sollte ich das herausfinden, wenn ich mir selbst nicht traute?
„Warum verbringst du überhaupt Zeit mit mir?" fragte ich schließlich.
Elias schien von der Frage überrascht. „Warum nicht? Du bist... besonders."
Ich lachte trocken. „Das ist eine nette Art zu sagen, dass ich ein Freak bin."
„Nein, Marie", sagte er ernst. „Besonders heißt besonders. Punkt."
Für einen Moment war alles still zwischen uns, und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Aber das machte es nur noch komplizierter.
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