Kapitel 39-Kampf

Herr Seidel saß an seinem Schreibtisch, als ich das kleine Büro betrat. Ich kannte den Raum gut – zu gut. Die Bücherregale an den Wänden, gefüllt mit Ordnern und Broschüren über Mobbing, psychische Gesundheit und soziale Unterstützung. Die große Kaffeetasse mit dem Spruch „Heute schon geatmet?", die immer auf seinem Tisch stand. Der leichte Geruch nach Tee und Papier.

Er sah auf, als ich die Tür hinter mir schloss. „Leo."

Ich zuckte leicht zusammen. Ich war es noch nicht gewohnt, meinen Namen so selbstverständlich aus seinem Mund zu hören.

„Setz dich", sagte er, mit einer Geste auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Ich ließ mich langsam darauf nieder. Mein Körper fühlte sich schwer an, als hätte ich eine Rüstung aus Blei angelegt, um mich gegen alles abzuschirmen.

Herr Seidel musterte mich einen Moment. Er kannte mich gut genug, um zu erkennen, dass es mir nicht gut ging.

„Wie war die erste Woche zurück in der Schule?" fragte er schließlich.

Ich schnaubte leise und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie sie sich denken können – super. Jeder liebt meinen neuen Look."

Herr Seidel hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Ich spürte, dass er darauf wartete, dass ich weitersprach. Also tat ich es.

„Sie starren mich an", murmelte ich. „Flüstern, tuscheln. Manche tun so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Andere lachen. Und dann gibt es die, die mir einfach mit Mitleid in den Augen nachsehen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist."

Herr Seidel nickte langsam. „Ich kann mir vorstellen, dass das belastend ist."

„Ist es."

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Gab es konkrete Vorfälle? Oder sind es mehr die Blicke und Kommentare?"

Ich dachte an Lisa, Emma und ihre Freundinnen, an die abfälligen Bemerkungen in den Pausen. An die Lehrer, die mich entweder ignorierten oder mit besorgten Blicken musterten. An das Gefühl, wieder einmal ein Außenseiter zu sein.

„Bisher nur Worte", sagte ich schließlich. „Aber ich weiß, wie das läuft. Erst sind es Worte. Dann werden es Taten."

Herr Seidel betrachtete mich nachdenklich. „Leo, du weißt, dass du nicht allein bist, oder?"

Ich lachte bitter. „Echt? So fühlt es sich aber nicht an."

Er seufzte leise. „Ich meine es ernst. Elias ist für dich da. Seine Familie auch. Und du hast mich. Ich weiß, dass das nicht alles besser macht, aber ich will, dass du weißt: Du musst das nicht alleine durchstehen."

Ich sah ihn an. Er meinte es ehrlich. Das wusste ich. Herr Seidel war einer der wenigen Erwachsenen, die mich nie als „Problemfall" behandelt hatten.

„Aber was soll ich tun?" fragte ich schließlich leise. „Jedes Mal, wenn ich durch die Schule laufe, fühlt es sich an, als würde ich in ein Schlachtfeld gehen. Und ich... ich will einfach nicht mehr kämpfen."

Er nickte verständnisvoll. „Es ist nicht deine Aufgabe, immer kämpfen zu müssen, Leo. Es sollte nicht deine Verantwortung sein, dich gegen diese Art von Verhalten zu wehren. Es ist unsere Aufgabe, dich zu schützen. Die Lehrer wissen Bescheid. Und wenn es zu etwas kommt, das über Blicke und Worte hinausgeht, dann werde ich handeln."

Ich wollte ihm glauben. Aber ich hatte erlebt, wie Erwachsene sagten, sie würden helfen – und dann nichts taten.

„Und wenn es nie aufhört?" fragte ich leise.

Herr Seidel schwieg einen Moment. Dann sagte er ruhig: „Dann finden wir gemeinsam einen Weg, damit umzugehen. Du bist nicht allein, Leo. Und du wirst das nicht für immer durchmachen müssen."

Ich senkte den Blick auf meine Hände. „Ich hoffe, du hast recht."

Er reichte mir eine kleine Karte. „Falls du in der Schule eine Pause brauchst – dann schau sie dir einfach an"

Ich sah hinab auf den Umschlag und dann zurück in sein Gesicht. "Mach sie noch nicht auf. Bewahr es dir auf."

Ich nickte und lies sie vorsichtig in meine Tasche gleiten.

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