Kapitel 33-weis

Piep













Piep













Piep













Piep













Alles um mich herum war weiß. Wie ein großer, leerer Raum voll mit Nebel, wie es ihn an Herbstmorgenden gab, und durch den man keine drei Meter weit sehen konnte. Es war ruhig. Es war perfekt. Doch da merkte ich dass etwas diese Ruhe störte. Zuerst war es leise. Durch den Nebel gedämpft. Doch es wurde immer lauter und lauter. Ein piepen, welches die friedliche Umgebung zerstörte. Ich ärgerte mich darüber, versuchte mich weiter im Nebel zu verkriechen. Doch von allen Seiten strömten langsam aber sicher Empfindungen auf mich zu. Empfindungen. Gerüche. Geräusche. Geschmäcker.

Das erste, was ich spürte, war ein dumpfer Schmerz, der sich durch meinen gesamten Körper zog, als würde jede Faser unter Spannung stehen.

Die Luft roch nach Desinfektionsmittel und steriler Kälte. Doch war eine kleine persönliche Note in dieser so st so kalten Leere. Etwas was Sicherheit versprach und etwas, dass nach zuhause roch.

Ich hörte ein regelmäßiges Piepen, irgendwo neben mir, mechanisch, wie ein Metronom. Mit jedem Piepen holte es mich ein bisschen mehr in die Realität. Doch ich wollte nicht. Ich wollte weiterhin tief in meinen Nebelschwaden bleiben und einfach nur existieren und warten, dass der Schmerz vorbei ging. Jeder Piepton war eine Störung meines Friedens und ein kleiner persönlicher Angriff.

Ich schmeckte trockene Luft. Ein saures Gefühl lag mir auf der Zunge wie jenes welches man hat nachdem man das Zähneputzen vergessen hat. Außerdem schmeckte ich einen leichten Hauch von Salz und Flüssigkeit.

Mit jeder einzelnen. Empfindung wurde ich weiter aus meinem sicheren Bereich getrieben. Schritt für Schritt wurde ich ins Bewusstsein geschubst, ob ich wollte oder nicht. Schließlich überwog die Neugierde wo ich mich befand und ich öffnete die Augen einen kleinen Spalt. Sofort stach mir gleißendes weißes Licht wie ein Dolch in die Netzhaut. Nach einer Weile öffnete ich die Augen weiter.

Alles weis. Wie zuvor, doch war es kein beruhigendes und sorgloses, sondern ein angriffslustiges und kaltes weis. Ich realisierte dass ich in einem Raum lag und mein Blick wanderte weiter. Ein Monitor, der Linien und Zahlen zeigte. Ein dünner Schlauch führte von einer Nadel in meinem Arm zu einem Beutel, aus dem eine klare Flüssigkeit in meinen Körper tropfte.

Da tauchte ein einzelnes Wort in meinem Kopf auf und die restlichen tröstlichen Nebelschwaden verschwanden.

Krankenhaus.

Plötzlich packte mich Panik. Warum war ich hier? Was war passiert? Mein Herz begann zu rasen, und das Piepen des Monitors beschleunigte sich. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber ein stechender Schmerz in meiner rechten Hand ließ mich aufkeuchen. Alles fühlte sich falsch an – fremd. Schwer. Als ich meine linke Hand hob, bemerkte ich, dass auch sie verbunden war. Es schien, als hätte man sie sorgfältig eingepackt, doch ich konnte meine Finger kaum bewegen.

„Er ist wach!" Eine Stimme drang in meinen kleinen persönlichen Wahrnehmungsraum ein, und ich drehte den Kopf zur Seite. Elias.

Er saß an meinem Bett, sein Gesicht blass, seine Augen rot und geschwollen, als hätte er tagelang geweint. Seine Hände zitterten, als er meine linke Hand nahm, vorsichtig, als könnte sie zerbrechen. „Leo, du bist wach," sagte er, seine Stimme rau vor Erleichterung. Tränen liefen über seine Wangen, während er sich über mich beugte und mir eine Haarsträhne aus der Stirn strich. „Du hast uns so einen Schrecken eingejagt."

Ich wollte antworten, wollte etwas sagen, aber meine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Alles, was herauskam, war ein Krächzen. Elias griff sofort nach einem Glas Wasser, das auf dem Nachttisch stand, und hob es an meine Lippen. Die kühle Flüssigkeit rann meine Kehle hinab, und ich versuchte erneut zu sprechen.

„Was... was ist passiert?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und die Worte fühlten sich fremd in meinem Mund an.

Elias' Gesicht verzog sich schmerzlich, und er schüttelte den Kopf, als wüsste er nicht, wo er anfangen sollte. Noch bevor er antworten konnte, drängten sich weitere Gestalten in mein Sichtfeld. Elias' Eltern und eine Krankenschwester kamen an mein Bett. Die Krankenschwester trat sofort an die Geräte, überprüfte Werte und notierte etwas auf einem Klemmbrett, während Elias' Mutter sich zu mir herunterbeugte. Ihr Gesicht war von Sorge gezeichnet.

„Leo, mein Schatz, wie fühlst du dich?" Ihre Stimme war sanft, aber ich hörte den angespannten Unterton.

„Müde," flüsterte ich, und es war die Wahrheit. Jede Bewegung fühlte sich an, als würde sie alle Energie aus mir saugen. Doch ich konnte nicht einfach daliegen, ohne zu wissen, was passiert war. „Was... was ist passiert? Warum bin ich hier?"

Elias atmete tief ein und drückte meine Hand fester. „Leo, wir haben dich vor unserer Haustür gefunden. Als wir gestern Vormittag von dem Familienausflug zurückkamen. Du lagst dort... du warst nicht bei Bewusstsein. Du warst so kalt, Leo. So verdammt kalt." Seine Stimme brach, und ich sah, wie er seine Zähne zusammenpresste, um nicht wieder zu weinen.

„Du hattest eine schwere Unterkühlung," fügte die Krankenschwester sachlich hinzu, obwohl auch sie Mitgefühl in der Stimme hatte. „Es war knapp, Leo. Sehr knapp. Wir konnten dich stabilisieren, aber die Kälte hat einige Schäden angerichtet."

Ich schluckte, mein Magen zog sich zusammen. „Was... was für Schäden?"

Die Krankenschwester warf Elias einen kurzen Blick zu, als ob sie überlegte, ob er die Wahrheit ertragen konnte. Schließlich sprach sie. „Deine Hände und Füße waren am stärksten betroffen. Wir mussten zwei deiner Zehen und..." Sie stockte, bevor sie weitersprach. „...einen Teil deiner Fingerkuppen amputieren. Die Erfrierungen waren zu schwerwiegend."

Die Worte trafen mich wie ein Schlag in den Magen. Amputiert. Meine Finger. Meine Zehen. Meine Gedanken überschlugen sich. Was bedeutete das? Wie würde ich jetzt leben? Wie konnte ich je wieder normal sein? Ich wusste dass ich noch nie normal war, aber nun war ich gekennzeichnet. Mein Atem wurde schneller, und das Piepen der Maschinen passte sich meinem steigenden Puls an.

„Leo, bitte... beruhig dich," sagte Elias schnell. Er beugte sich näher zu mir, seine Stimme flehend. „Du bist hier. Du hast überlebt, und das ist alles, was zählt."

Ich wollte ihm glauben, wollte mich an seinen Worten festhalten, aber es fühlte sich an, als würde ich in einem schwarzen Loch versinken. Ich war nicht mehr wie vorher. Vernarbt, misshandelt, ein Freak.

Elias' Mutter legte ihre Hand auf meinen Arm. „Leo, du hast gekämpft, und das Wichtigste ist, dass du noch bei uns bist. Alles andere können wir gemeinsam schaffen."

Ich konnte nicht antworten. Die Realität meiner Situation lastete schwer auf mir, erdrückte mich.

Elias Eltern warfen uns einen Blick zu und ließen uns dann alleine. Auch die Krankenschwester begleitete die beiden auf den Flur. Elias sah mich an, seine Augen voller Tränen, und ich sah, wie er zögerte, bevor er weitersprach.

„Leo, wir haben solche Angst um dich gehabt," sagte er. „Du warst so lange bewusstlos. Die Ärzte wussten nicht, ob du es schaffen würdest. Sie sagten, wenn du eine halbe Stunde länger dort gelegen hättest, wäre es warscheinlich zu spät gewesen." Seine Stimme brach, und er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich... ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen. Das ist alles meine Schuld."

„Es ist nicht deine Schuld," brachte ich schließlich hervor, obwohl meine Stimme schwach war. „Du... du konntest das nicht wissen."

Doch er schüttelte vehement den Kopf. „Doch, ich hätte es wissen müssen. Ich wusste, wie deine Eltern sind. Ich hätte bei dir bleiben sollen."

Sein Schmerz war so real, dass ich spürte, wie Tränen meine eigenen Augen füllten. Ich wollte ihn trösten, ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war, aber ich wusste, dass er sich die Schuld niemals verzeihen würde.

„Elias..." Ich wollte mehr sagen, doch die Müdigkeit überkam mich wieder. Mein Körper war ausgelaugt, und die Schmerzen machten es schwer, klar zu denken. "Glaub mir, es ist nicht deine Schuld. Ich würde dir niemals Vorwürfe machen. Das würde niemand." Es ist die Wahrheit, dachte ich. Er hatte keine Schuld. Auch ich hatte keine Schuld. Nur meine Eltern, weil sie zu ignorant und engstirnig waren um mich zu akzeptieren wie ich bin. Sie hatten ihr Kind lieber draußen in der Kälte dem Tod überlassen, als einzusehen, dass LGBTQIA+ Menschen existieren und nicht bloß Hirngespinste sind. Es ging noch nichtmal nur darum, schoss es mir durch den Kopf. Sie hatten mich wie ein Kalb zum Schlachthof geführt. Ihr Hass gegenüber allem Unbekannten war stärker als die Liebe zum eigenen Kind.

Elias Schultern zuckten bei jedem schluchtzer. Nach einer Weile legte er seine Stirn an meine. "Bitte verzeih mir." Wistperte er in mein Ohr. Ich nickte kaum merklich doch erleichtert ließ er seinen Kopf auf meinen Bauch sinken.

Ich spürte, wie meine Glieder immer schwerer wurden und wie meine Lieder langsam zu fielen. Die Müdigkeit übermannte mich und ich schlief ein, mit diesem Geruch von Sicherheit und zuhause, der einzigen Sache, die ich zwischen meinen Nebelschwaden vermisst hatte.

Bevor mein Bewusstsein der Wirklichkeit endgültig entglitt, drangen noch ein paar Worte zu mir durch. "Schlaf, Leo. Ich bin hier. Ich bleibe bei dir."

Seine Stimme war ein Versprechen, ein Anker, an den ich mich klammerte, während die Dunkelheit mich erneut übermannte.




Was denn, dachtet ihr wirklich ich lasse ihn sterben? Nein nein, dafür mag ich ihn ja selbst viel zu gerne. ABER man muss bedenken, dass dies tatsächlich ein realistisches Ende gewesen wäre. Und es wäre leider auch kein einzelnes Schicksal gewesen. Tag für Tag sterben trans* und noch viel mehr LGBTQAI+ Menschen aufgrund von Queerfeindlichkeit. Leos Geschichte hätte an dieser Stelle enden können. Laut Studien erleben über 50 % der trans* Menschen Diskriminierung oder Gewalt in ihrem Alltag, oft von ihrer eigenen Familie. Viele von ihnen haben keinen sicheren Ort, a den sie sich wenden können. In einigen Ländern bedeutet es nach wie vor Lebensgefahr, sich als LGBTQAI+ Person zu outen. Selbst in Ländern mit fortschrittlichen Rechten erleben viele queere Menschen immer noch Ausgrenzung, Gewalt oder psychischen Druck. Die ständige Ablehnung, Ausgrenzung und der Druck, sich zu verstecken, führen oft dazu, dass LGBTQAI+ Personen höhere Raten an Depressionen und Suizidgedanken haben. Studien zeigen, dass LGBTQAI+ Jugendliche viermal häufiger einen Suizidversuch unternehmen als ihre heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Gleichaltrigen. Leos Geschichte zeigt, wie lebensrettend Akzeptanz und Solidarität sein können. Es reicht oft eine einzige Person, die einem zeigt, dass man wertvoll ist und dass es Hoffnung gibt. Ihr fragt euch vielleicht, was ihr tun könnt, um solche Geschichten zu verhindern. Es beginnt damit, zuzuhören, zu lernen und sich klar gegen Diskriminierung auszusprechen. Schafft sichere Räume – in euren Freundeskreisen, Familien und Gemeinschaften. Es sind kleine Taten, die Leben retten können. Wir alle tragen die Verantwortung, ein Umfeld zu schaffen, in dem niemand Angst haben muss, so zu sein, wie er ist. Jeder Mensch verdient Respekt und Sicherheit. Leos Geschichte hätte tragisch enden können, aber sie erinnert uns daran, dass es Hoffnung gibt, dass wir als Gesellschaft füreinander da sein können. Gemeinsam können wir daran arbeiten, dass niemand mehr solche Verluste erleben muss. Ihr habt die Macht, die Welt zu einem sichereren Ort zu machen – für Leo, für Elias, für alle, die sich jemals allein und unverstanden gefühlt haben. Deshalb bitte seid nicht nur froh dass Leos Geschichte noch kein Ende gefunden hat, sondern macht euch bewusst was gewesen wäre, wenn genau hier das Leben einer unschuldigen Person geendet hätte. Stellt auch nicht taub, fangt an zu sehen, zu hören, zu fühlen und für eure rechte und die Rechte eurer Mitmenschen aufzustehen. Seid laut, seid stark, seid present.  Ihr seid wertvoll. Ihr werdet geliebt. <3

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