Kapitel 32-Eis
Der Abend begann mit einer drückenden Stille. Ich saß auf meinem Bett, die Knie angezogen, und starrte die verschlossene Tür meines Zimmers an. Meine Eltern waren vor einer halben Stunde nach Hause gekommen, und ich hatte jedes ihrer Worte gehört. Erst das Klirren von Schlüsselbunden, dann das dumpfe Zuschlagen der Haustür, gefolgt von dem üblichen Austausch ihrer Stimmen – kurz, scharf, wie Schüsse durch die Wohnung.
Mein Magen zog sich zusammen. Sie wussten noch nichts von meinen Haaren, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich ihnen das beibringen sollte. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich blieb in meinem Zimmer, verschanzt hinter der Tür wie in einer Festung.
„Marie! Komm runter zum Abendessen!" Die Stimme meiner Mutter hallte durch die Wohnung und ließ mich zusammenzucken.
Ich atmete tief durch. Noch war ich sicher. Die Kapuze meines Pullovers würde mich schützen – zumindest für den Moment. Mit zitternden Fingern zog ich die Kapuze tief ins Gesicht, als wäre sie eine Rüstung. Es war ein schwacher Versuch, die Wahrheit vor ihnen zu verbergen, aber ich klammerte mich daran.
Langsam öffnete ich die Tür und schlich den Flur entlang in die Küche. Meine Schritte waren leise, fast lautlos, als würde ich versuchen, ein wildes Tier nicht aufzuwecken.
Am Esstisch saßen sie bereits: mein Vater mit verschränkten Armen und meine Mutter, die sich nachlässig durch die Zeitung blätterte. Beide sahen auf, als ich eintrat.
„Setz dich", sagte mein Vater knapp.
Ich nickte und nahm auf meinem gewohnten Platz gegenüber von ihnen Platz. Die Kapuze zog ich noch tiefer ins Gesicht.
„Marie, nimm die Kapuze ab", sagte meine Mutter plötzlich, ihre Stimme schneidend.
Mein Herz begann zu rasen. „Mir ist kalt", murmelte ich, den Blick auf den Teller vor mir gerichtet.
„Ich will dein Gesicht sehen. Nimm die Kapuze ab!" Ihre Stimme wurde lauter, ungeduldiger.
Ich zögerte. Mein Atem ging flach, und meine Hände klammerten sich an die Tischkante. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Also griff ich langsam nach der Kapuze und schob sie nach hinten.
Ein Moment des Schweigens folgte.
Dann explodierte alles.
„Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?!" Die Stimme meines Vaters durchbrach die Stille wie ein Donnerschlag.
„Deine Haare! Was soll das? Hast du den Verstand verloren?" fügte meine Mutter hinzu, ihre Augen weit vor Entsetzen.
„Ich... ich wollte das so", stammelte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Wolltest das so?" Mein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller klirrten. „Das ist dieses dumme queer Gelaber, nicht wahr? Diese verdammten Ideen, die du dir in den Kopf setzt!"
„Das hat nichts mit Queer zu tun, das bin einfach ich!" Meine Stimme wurde lauter, obwohl meine Hände zitterten.
„Du bist ein Mädchen, Marie!" rief meine Mutter. „Was ist nur mit dir passiert? Seit du diesen Elias kennst, bist du völlig verdreht!"
„Ich heiße Leo", sagte ich leise, aber bestimmt.
Das schien das Fass zum Überlaufen zu bringen. Mein Vater stand abrupt auf und umrundete den Tisch, während ich instinktiv zurückwich.
„Hör auf mit diesem Unsinn! Du bist Marie, und das wirst du immer bleiben!" Seine Hand schnappte nach meinem Arm, und ich zuckte zusammen, als ein brennender Schmerz durch meine Wange schoss.
Es ging alles so schnell. Schreiende Stimmen, aufgebrachte Gesten, Schläge und schmerzen, und dann fand ich mich plötzlich draußen wieder – die Haustür hinter mir ins Schloss gefallen.
Der kalte Herbstwind biss in mein Gesicht und durchdrang meinen Hoodie. Meine Füße froren jetzt schon. Ich stand auf der Veranda und blickte in die dunkle Straße, die nur von den warmen Lichtern der Kürbisdekorationen beleuchtet wurde.
Meine Wangen brannten, nicht nur von der Kälte und der Hand meines Vaters, sondern auch von den Tränen, die unaufhaltsam über mein Gesicht liefen. Mein Herz raste, und meine Gedanken schwirrten.
Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte.
Ich begann zu laufen, meine Schritte führten mich ziellos durch die Straßen. Die Kälte schnitt durch meine Kleidung, und ich zog die Arme um mich, um wenigstens ein bisschen Wärme zu bewahren.
Die Nachbarschaft war fast menschenleer, bis auf ein paar Familien, die in ihren Vorgärten Halloween-Dekorationen aufstellten. Ein kleiner Junge in einem Spiderman-Kostüm lief an mir vorbei, während seine Mutter ihm zurief, vorsichtig zu sein.
Ich biss mir auf die Lippe und kämpfte gegen die Verzweiflung an, die in mir hochstieg.
Elias. Ich musste zu Elias.
Mein Tempo beschleunigte sich, und ich begann, in Richtung seines Hauses zu laufen. Vielleicht war er ja doch da. Vielleicht hatte er seine Pläne geändert.
Als ich schließlich vor seiner Haustür ankam, war es, als hätte ich mein letztes bisschen Energie verbraucht. Ich lehnte mich gegen die Tür und klopfte, erst zögerlich, dann energischer.
Keine Antwort.
Mein Herz sank, und ich spürte, wie die Tränen erneut in meine Augen stiegen. Natürlich war er nicht da. Ich wusste das, und doch hatte ich gehofft, dass er vielleicht früher zurück gekommen ist.
Ich sank auf die Stufen vor seiner Haustür und zog die Knie an meine Brust. Der Wind wurde stärker, und ich begann zu zittern. Meine Finger waren eiskalt, und meine Atmung war flach.
Ich dachte an Louis. Vielleicht könnte ich zu ihm gehen. Aber ich konnte mich kaum noch an den Weg erinnern. Die Nacht war zu dunkel, und mein Kopf war noch immer von den Ereignissen der letzten Stunden wie betäubt.
„Ich bin so dumm", murmelte ich, während ich den Kopf auf die Knie legte.
Die Straßenlaternen warfen lange Schatten, und die Halloween-Dekorationen in der Ferne wirkten plötzlich seltsam gespenstisch. Ein kaltes Schauern lief mir über den Rücken, und ich zog meinen Hoodie fester um mich. Eine Jacke hatte ich nicht dabei. Auch keine Schuhe, denn meine Eltern hatten mich einfach kurzerhand aus dem Haus geworfen.
Ich schloss die Augen und versuchte, die Schmerzen und die Kälte zu ignorieren. Vielleicht würde ich einschlafen, nur für eine Weile. Vielleicht würde in der Nacht irgendwann alles vorbei sein, und all das, was mich so erdrückte.
Doch tief in mir wusste ich, dass diese Nacht anders war. Sie war ein Wendepunkt, ein Moment, der alles verändern würde – ob zum Besseren oder Schlechteren, konnte ich nicht sagen.
Die Kälte kroch langsam in jede Faser meines Körpers, und ich spürte, wie meine Gedanken verschwommen wurden. Ein Teil von mir fragte sich, ob dies vielleicht meine letzte Nacht sein würde. Ganz bestimmt würde es meine letzte Nacht werden. Es war eine besonders kalte Nacht. Der dreißigste Oktober, und es waren fast minus Temperaturen.
Ich fror so unfassbar doll. "Aber immerhin", dachte ich "sterbe ich nicht als Marie"
Und so rollte ich mich zusammen, hielt an diesem Gedanken fest und spürte wie meine Gliedmaßen taub wurden und sich eine tiefe Schwere über meine Glieder legte.
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