Kapitel 31-Stolz
Ich wachte auf, als ein grelles Licht durch die Ritze zwischen den Vorhängen fiel und mir direkt ins Gesicht schien. Mein Kopf pochte, als würde jemand von innen mit einem Hammer dagegen schlagen, und mein Mund fühlte sich an wie Sandpapier. Ich lag auf meiner Seite, halb in meine Decke gewickelt, halb darunter vergraben, und versuchte mich zu orientieren.
Was war gestern passiert?
Langsam sickerten die Erinnerungen zurück. Die Party. Das Lachen. Die Gespräche. Und dann... der Haarschnitt. Schlagartig war ich wach.
Ich setzte mich auf und spürte, wie ein dumpfes Ziehen durch meinen Magen ging. Mein Blick fiel auf den Boden, wo immer noch ein paar Haarsträhnen an meiner Kleidung klebten. Panik und Stolz durchfluteten mich gleichzeitig.
Ich sprang auf, stolperte ein wenig und stützte mich am Bettpfosten ab, bevor ich vorsichtig zum Spiegel in meinem Zimmer ging. Mein Herz schlug schneller, und meine Hände zitterten leicht, als ich die Reflexion erblickte.
Mein Gesicht wirkte... anders. Schärfer. Erwachsener. Und doch war da ein Hauch von Unsicherheit in meinen Augen, der mir sofort auffiel. Die neue Frisur war definitiv eine radikale Veränderung – kürzer, als ich es mir je zugetraut hätte. Die Strähnen lagen ungleichmäßig, was Louis wohl für einen lässigen Look gehalten hatte.
Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Auf der einen Seite war ich stolz, diesen Schritt gewagt zu haben. Auf der anderen Seite schien mir die ganze Aktion jetzt wie eine impulsive, leichtsinnige Entscheidung.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht?" murmelte ich und spürte, wie die Verzweiflung in mir hochstieg.
Ich zog mir einen Pullover und eine Jogginghose über und schleppte mich in die Küche, den Kater wie eine unsichtbare Last mit mir herumtragend. Mein Kopf dröhnte bei jedem Schritt, und meine Beine fühlten sich an wie Pudding.
Die Küche war still, fast unangenehm still. Normalerweise würde meine Mutter hier herumwuseln oder mein Vater am Tisch sitzen und die Zeitung lesen. Doch an diesem Wochenende war ich allein – bis auf Mattis, den ich später abholen musste.
Ich goss mir ein Glas Wasser ein und lehnte mich gegen die Arbeitsplatte. Meine Gedanken rasten. Wie sollte ich das mit Mattis machen? Er würde mich sehen, mich mit meiner neuen Frisur. Und was, wenn er etwas sagte? Was, wenn er mich auslachte oder schlimmer noch – es meinen Eltern erzählte?
Das Wasser war kühl und half ein wenig gegen die Trockenheit in meinem Mund, aber es konnte die aufkommende Panik nicht vertreiben.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer warf ich einen Blick in den Flurspiegel. Wieder sah ich mich selbst, mit dieser neuen Frisur, die einerseits so sehr zu mir passte und mich andererseits völlig fremd wirken ließ.
Elias. Wo war Elias, wenn ich ihn am dringendsten brauchte?
Ich hatte völlig vergessen, dass er den ganzen Tag mit seiner Familie unterwegs war. Er würde erst morgen zurückkommen. Der Gedanke ließ mich noch mehr an meiner Entscheidung zweifeln. Ohne Elias fühlte ich mich plötzlich so viel unsicherer, als könnte ich nicht vollständig zu mir stehen, wenn er nicht da war, um mich zu bestärken.
„Reiß dich zusammen, Leo", murmelte ich und schlug mir leicht gegen die Wangen, um den Nebel in meinem Kopf zu vertreiben.
Nach einer schnellen Dusche – das kalte Wasser tat gut – zog ich mir frische Kleidung an: eine lockere Jeans und einen Kapuzen Hoodie. Ich wählte bewusst etwas Unauffälliges, etwas, das keine Aufmerksamkeit auf mich lenken würde. Außerdem konnte ich so meine Haare nötigenfalls unter der Kapuze verbergen. Meine Jacke warf ich mir über die Schulter, während ich meine Schlüssel und mein Handy einsteckte.
Mattis wartete auf mich. Er war bei seinem besten Freund Jakob, und ich hatte versprochen, ihn gegen Mittag abzuholen. Ich sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, bis ich los musste. Genug Zeit, um noch ein bisschen durchzuatmen.
Ich ließ mich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und starrte an die Decke. Die Ereignisse der letzten Nacht fühlten sich plötzlich so weit weg an. Die Freude, die Euphorie – alles war von einer ernüchternden Realität überlagert worden.
Ich griff nach meinem Handy und tippte eine Nachricht an Elias.
„Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich hab's getan. Ich hab mir die Haare abschneiden lassen."
Ich starrte auf den Bildschirm, aber die drei Punkte, die anzeigten, dass Elias schrieb, tauchten nicht auf. Natürlich, er war unterwegs und hatte wahrscheinlich keinen Empfang. Ein Teil von mir wünschte sich, er würde sofort antworten, mir sagen, dass alles okay ist und dass ich mir keine Sorgen machen muss.
Seufzend ließ ich das Handy sinken.
Die Fahrt zu Jakob war kurz, aber ich hatte das Gefühl, dass jeder Blick, der mir von den anderen Menschen auf der Straße zugeworfen wurde, mich durchbohrte. War ich paranoid? Oder starrten sie mich tatsächlich an?
Als ich mein Fahrrad vor Jakobs Haus abstellte blieb ich einen Moment stehen und atmete tief durch. „Alles wird gut", flüsterte ich mir selbst zu, bevor ich abstieg und zur Tür ging.
Mattis kam fröhlich herausgelaufen, sein Rucksack auf dem Rücken und ein breites Grinsen im Gesicht. „Hey, Leo!" rief er und winkte.
Mein Herz setzte kurz aus. Er hatte mich „Leo" genannt. Nicht „Marie". Ich hatte ihm den Namen zwar schon vor ein paar Wochen gesagt, aber ich wusste nie, ob er ihn tatsächlich akzeptierte oder einfach nur still duldete.
„Hey, Mattis", sagte ich und bemühte mich um ein Lächeln.
Er blieb vor mir stehen und starrte auf meine Haare. Mein Magen verkrampfte sich.
„Wow, du hast dir echt die Haare abschneiden lassen", sagte er schließlich und grinste. „Sieht cool aus!"
Ich blinzelte ihn an, unfähig, sofort zu antworten. „Ehrlich?"
„Ja, warum nicht? Viel besser als vorher."
Ich wusste nicht, ob er das wirklich meinte oder einfach nur nett sein wollte, aber in diesem Moment war mir das egal. Seine Reaktion war so viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte.
Die Heimfahrt verlief ruhig. Seine kleinen Hände klammerten sich an meine Jacke damit er den Halt auf dem Gepäckträger nicht verlor. Mattis erzählte von seinem Wochenende bei Jakob, während ich ihm halb zuhörte und halb mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war.
Wieder zu Hause ließ ich mich ins Wohnzimmer fallen, während Mattis nach oben in sein Zimmer verschwand. Ich starrte auf meine Hände, die sich leicht verkrampft in meinen Jeans vergruben.
Die Angst vor den Reaktionen meiner Eltern nagte an mir. Mattis war locker und unterstützend gewesen, aber meine Mutter und mein Vater waren eine andere Geschichte. Ich wusste, dass sie es nicht verstehen würden. Für sie war es einfach „eine Phase", wie alles andere, was ich jemals gesagt oder getan hatte, das nicht in ihr Bild von mir passte.
Ich stand auf, ging in den Flur und betrachtete mich erneut im Spiegel. Diesmal ließ ich den Blick länger auf meiner Reflexion ruhen.
„Das bist du", sagte ich leise zu mir selbst.
Es fühlte sich immer noch seltsam an, so anders auszusehen, aber tief in mir wusste ich, dass es der richtige Schritt war. Die Zweifel, die mich quälten, waren nur die Stimmen der anderen – meiner Eltern, der Gesellschaft. Aber die Wahrheit war: Ich war stolz.
Ich war stolz auf den Mut, den ich letzte Nacht hatte. Stolz darauf, dass ich endlich etwas getan hatte, was mich mir selbst näher brachte.
Ich griff nach meinem Handy und schrieb Elias noch eine Nachricht:
„Danke, dass du immer hinter mir stehst. Ohne dich hätte ich mich das nie getraut."
Diesmal antwortete er fast sofort.
„Ich bin so stolz auf dich, Leo. Das bist du – und das ist perfekt."
Ich lächelte und spürte, wie eine kleine Welle der Erleichterung über mich hinwegrollte. Vielleicht würde nicht alles einfach werden, aber das war okay. Ich würde meinen Weg finden – einen Schritt nach dem anderen.
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