Kapitel 30-drunk
Ich stand vor meinem Kleiderschrank und wühlte durch die wenigen Lieblingsstücke, die ich hatte. Der Abend der Party war endlich gekommen, und in mir tobte ein Sturm aus Euphorie und Nervosität. Es fühlte sich an wie ein seltener Triumph: Meine Eltern waren für zwei Tage verreist, und mein Bruder Mattis übernachtete bei einem Freund. Zum ersten Mal war ich allein zu Hause – kein lautes Streiten, keine bohrenden Blicke meiner Mutter, keine Kommentare meines Vaters, die mich dazu bringen sollten, „normal" zu sein. Die Leere des Hauses war keine Einsamkeit, sondern Freiheit.
Ich zog ein schwarzes T-Shirt mit einem Punk-Print heraus, das ich normalerweise nie getragen hätte, weil meine Mutter meinte, es sähe „rebellisch" aus. Dazu wählte ich eine Jeans mit Rissen, die ich selbst hineingeschnitten hatte, und eine alte Lederjacke, welche ich mal neben anderem alten Zeug wie Schränken, Matratzen und Sofas am Straßenrand gefunden hatte und die mir ein bisschen zu groß war. Jedoch konnte ich es nicht übers Herz bringen sie dort einfach vergammeln zu lassen. Außerdem war sie noch relativ gut in Schuss. Ich betrachtete mein Outfit im Spiegel. Es fühlte sich nicht nur cool an, sondern irgendwie auch richtig.
Mein Blick wanderte zu meinen Haaren. Sie waren viel zu lang, viel zu... falsch. Ich strich sie mir aus dem Gesicht und wünschte mir einmal mehr, sie wären kürzer. Doch die Angst vor der Reaktion meiner Eltern hatte mich bisher immer davon abgehalten. Heute Abend war das anders. Heute fühlte ich mich, als könnte ich ein kleines Stück von mir selbst leben.
„Das wird eine Nacht, die ich nie vergesse", murmelte ich und spürte, wie ein Kribbeln durch meinen Körper lief.
Mein Handy vibrierte. Eine Nachricht von Elias.
„Ich bin da. Komm raus!"
Ich schnappte mir meine Jacke, schloss die Haustür hinter mir und trat hinaus in die kühle Abendluft. Vor dem Gartenzaun stand Elias mit einem breiten Grinsen und stützte sich auf sein Fahrrad.
„Wow, du siehst gut aus!" sagte er und ließ seinen Blick über mich wandern.
„Danke", murmelte ich und spürte, wie ich rot wurde.
„Bereit für die beste Party deines Lebens?" Er schubste mich spielerisch in Richtung Straße, und ich lachte.
„Ich hoffe es."
Er küsste mich sanft und wir machten uns zu Fuß auf den Weg, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Gedanke, gemeinsam auf eine queere Party zu gehen, fühlte sich wie eine kleine Revolution an. Zum ersten Mal wollte ich wirklich ich selbst sein, ohne Angst vor den Konsequenzen.
Als wir die Party erreichten, pochte mein Herz wie verrückt. Ich folgte Elias durch eine bunte, leicht geöffnete Tür. Drinnen war der Raum voller Leute, die redeten, lachten und tanzten. Überall hingen Regenbogenfahnen, Girlanden und bunte Lichter. Die Musik war sanft, und die Atmosphäre fühlte sich so leicht an, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und die Schwere der Welt draußen gelassen.
„Keine Sorge, hier sind alle so wie wir", sagte Elias und drückte kurz meine Hand.
Ich nickte und folgte ihm weiter. Innerhalb weniger Minuten wurden wir von einem Typen in einem Glitzerhemd begrüßt.
„Hey! Elias! Schön, dass du da bist. Und wer ist das?"
Das war mein Moment. Mein Herz schlug schneller, und ich spürte, wie eine Mischung aus Aufregung und Angst in mir hochstieg. Aber ich wusste, dass ich es sagen musste.
„Ich bin Leo", sagte ich, und die Worte fühlten sich wie eine Befreiung an.
„Freut mich, dich kennenzulernen, Leo. Ich bin Louis."
Das war's. Kein Zögern, keine komischen Fragen – nur ein Lächeln und eine freundliche Begrüßung. Ich hätte weinen können vor Erleichterung.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Wir sprachen mit unzähligen Leuten, tranken ein paar Bier, und ich lernte mehr über die queere Community, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich war umgeben von Menschen, die alle unterschiedlich waren – trans, nicht-binär, schwul, lesbisch – und niemand wurde hinterfragt oder verurteilt.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich völlig entspannt. Die Gespräche drehten sich nicht um unsere Identitäten, sondern um Musik, Filme, Bücher und alles Mögliche. Es war, als wäre die Tatsache, queer zu sein, hier nur eine Selbstverständlichkeit, kein Grund für Diskussionen oder neugierige Fragen.
In einer Ecke hatte sich eine kleine Gruppe versammelt, die laut lachte. Elias zog mich zu ihnen, und bald waren wir mitten im Gespräch.
„Also, Leo", fragte eine junge Frau mit pinken Haaren. „Woher kommst du?"
„Hier aus der Stadt", antwortete ich und lächelte.
„Cool. Ich bin Tina. Schön, dich kennenzulernen."
Das Lächeln wich nicht von meinem Gesicht. Ich fühlte mich, als hätte ich endlich meinen Platz gefunden – einen Ort, an dem ich nicht erklären musste, wer ich bin. Ich war einfach Leo, und das war genug.
Ein paar Stunden später war die Stimmung noch ausgelassener. Die Musik war lauter, die Gespräche lebhafter, und die Hemmungen waren verschwunden. Ich saß mit Elias und ein paar neuen Bekannten auf einer alten Couch, als das Thema schließlich doch auf meine Haare kam.
„Also, Leo", begann Louis, „was nervt dich am meisten?"
Ich lachte, leicht angetrunken. „Wo soll ich anfangen? Meine Haare zum Beispiel. Ich hasse es, dass sie so lang sind. Aber meine Eltern würden durchdrehen, wenn ich sie abschneiden lasse."
„Dann schneiden wir sie einfach!" rief Louis plötzlich und sprang auf.
„Was?!" Ich starrte ihn an, halb lachend, halb ungläubig.
„Komm schon! Ich hab eine Schermaschine zu Hause. Ich schneide dir die Haare, und du wirst dich wie ein neuer Mensch fühlen."
„Das ist keine gute Idee", warf Elias ein. „Leos Eltern werden ausrasten."
Ich atmete tief durch und spürte eine neue Entschlossenheit in mir aufsteigen. „Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Wenn sie einmal kurz sind, können sie nichts mehr dagegen tun."
Die Gruppe jubelte, und bevor ich es mir anders überlegen konnte, waren wir schon auf dem Weg zu Louis' WG.
Die kalte Nachtluft machte mich ein bisschen nüchterner, aber die Aufregung blieb. Elias ging neben mir und sah mich an. „Bist du sicher, dass du das willst?"
Ich nickte. „Ja. Ich will es. Ich hab es satt, ständig Rücksicht zu nehmen. Das hier ist meine Entscheidung."
„Dann bin ich bei dir."
Als wir Louis' WG erreichten, führte er uns in ein kleines Badezimmer, das mit Postern und bunten Lichtern dekoriert war. Er holte eine Schere und eine Schermaschine hervor und grinste.
„Bereit?"
Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne und nickte. Meine Hände zitterten, aber es war keine Angst – es war Vorfreude.
Die erste Strähne fiel, und ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung überkam mich. Mit jedem Schnitt fühlte ich mich leichter. Elias hielt meine Hand und sah mich an, als wollte er mir versichern, dass alles gut werden würde.
„Und... fertig!" sagte Louis schließlich und hielt mir einen kleinen Spiegel hin.
Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Mein Gesicht wirkte schärfer, kantiger – als hätte ich endlich mein wahres Ich vor mir.
„Das bist du", sagte Elias leise.
Ich nickte, Tränen in den Augen. „Ja. Das bin ich."
Alle jubelten, und ich fühlte mich, als würde mein Herz explodieren. Es war, als hätte ich einen weiteren, entscheidenden Schritt auf meinem Weg gemacht. Nicht nur der Haarschnitt, sondern das Gefühl, endlich ein Stück von mir selbst gefunden zu haben, machte diese Nacht unvergesslich.
Und ich wusste, dass dies erst der Anfang war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top