Kapitel 29-bunt

Nach einem langen Tag in der Schule sehnte ich mich nach einem Ort, an dem ich einfach nur ich selbst sein konnte. Zuhause fühlte es sich oft an, als wäre ich ein Eindringling in meinem eigenen Leben. Doch die Bibliothek... die war anders. Es war ein stiller Zufluchtsort, ein Ort, an dem die Welt für einen Moment stillstand und ich atmen konnte. Ich öffnete die schwere Glastür, und die vertraute Stille umfing mich. Der Duft von Büchern – alt und neu – war wie eine warme Umarmung, die mir sagte: Hier bist du sicher.

Ich ließ meinen Blick durch die hohen Regale schweifen, meine Finger glitten über Buchrücken, während ich langsam zwischen den Reihen entlangging. Es war beruhigend, in dieser Welt aus Geschichten und Wissen einzutauchen, wo niemand Fragen stellte und niemand urteilte. Nach einer Weile stieß ich auf einen Tisch mit Büchern, die scheinbar zufällig ausgewählt und ausgestellt worden waren. Inmitten von Reiseliteratur und Kochbüchern fiel mein Blick auf ein Buch, das mich wie ein Magnet anzog.

Der Titel in großen, glänzenden Buchstaben: The Pride Atlas. Die Farben des Regenbogens schimmerten im Licht der Lampe darüber, und auf dem Cover waren fröhliche Menschen zu sehen, die tanzten, lachten, lebten. Mein Herz schlug schneller, während ich das Buch vorsichtig aufhob, als wäre es etwas Kostbares, das man mit Ehrfurcht behandeln musste.

Ich setzte mich an einen kleinen Tisch in einer abgelegenen Ecke der Bibliothek, öffnete das Buch und begann zu blättern. Von der ersten Seite an zog es mich in seinen Bann. Es war eine Sammlung von Orten, Veranstaltungen, Geschichten und Erfahrungen aus aller Welt, die alle eines gemeinsam hatten: Sie waren queer.

Jede Seite war ein Feuerwerk aus Farben, ein Kaleidoskop aus Gesichtern, Kulturen und Geschichten. Es gab Fotos von Pride-Paraden in großen Metropolen wie New York und London, aber auch Berichte über kleinere, intimere Veranstaltungen in Orten, von denen ich noch nie gehört hatte. Menschen tanzten, hielten sich an den Händen, lachten in die Kamera. Sie trugen Regenbogenfahnen, glitzernde Outfits oder einfach nur Jeans und T-Shirts, aber das Strahlen in ihren Augen war überall das Gleiche.

Ich las von einem kleinen Dorf in Spanien, das jedes Jahr ein queeres Filmfestival veranstaltete. Von einem Café in Berlin, das speziell für queere Jugendliche eingerichtet worden war, die sich dort austauschen konnten. Von einer Pride-Parade in Südafrika, die Menschen aus den unterschiedlichsten Hintergründen zusammenbrachte. Es war, als würde eine neue Welt vor mir aufgehen – eine Welt, von der ich bisher nicht gewusst hatte, dass sie existierte.

Und dann traf es mich mit voller Wucht: Diese Menschen lebten ihr Leben, sie existierten in einer Freiheit, die ich mir kaum vorstellen konnte. Sie waren nicht allein – und ich war es auch nicht. Ich fühlte, wie sich meine Kehle zuschnürte, während mir klar wurde, dass all diese Menschen, all diese Orte, all diese Geschichten, auf eine seltsame Weise auch meine waren. Ich gehörte dazu.

Die Worte in meinem Kopf waren plötzlich laut und klar: Wir sind bunt. Wir sind laut. Wir sind stark. Wir sind da. Wir sind überall.

Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ein warmes, kribbelndes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, so mächtig, dass es mich fast überwältigte. Es war, als hätte jemand eine Tür geöffnet, die ich mein Leben lang gesucht hatte, ohne zu wissen, dass sie existierte. Hinter dieser Tür lag ein Raum voller Menschen, die mich mit offenen Armen empfingen.

Ich lehnte mich zurück und ließ den Moment auf mich wirken. Die Euphorie war fast überwältigend, doch gleichzeitig fühlte es sich an wie das erste Mal, dass ich wirklich durchatmen konnte. Ein Leben lang hatte ich versucht, irgendwo hineinzupassen, mich kleiner zu machen, weniger „anders" zu sein. Und jetzt verstand ich: Es gab einen Ort, an dem ich nicht kleiner sein musste. Einen Ort, an dem ich genauso willkommen war, wie ich war.

Ich blätterte weiter. Jede neue Seite war ein weiterer Beweis dafür, dass ich nicht allein war. Ich las Geschichten von Menschen, die gegen alle Widrigkeiten ihre Identität gefunden und gefeiert hatten. Menschen, die mit ihrer Existenz bewiesen, dass es Hoffnung gab, auch wenn der Weg steinig war.

Ich sah ein Foto von einer Gruppe junger Leute, die bei einer Pride-Parade in Australien lachten und die Arme um die Schultern der anderen gelegt hatten. Es war ein so simples Bild, und doch traf es mich mitten ins Herz. So etwas wollte ich auch erleben – das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die mich verstand, ohne dass ich mich erklären musste.

Mein Blick fiel auf den Umschlag des Buches, den ich inzwischen halb zerdrückt hatte, weil ich es so festgehalten hatte. Darauf war eine bunte Collage mit regenbogenfarbenen Häusern, einer Pride flag und einer drag queen zu sehen. Es war ein Symbol für Stolz, aber für mich bedeutete es noch mehr: Es war ein Symbol für Hoffnung.

Und doch, so sehr ich das Buch liebte, wusste ich, dass ich es nicht mitnehmen konnte. Der Gedanke, es mit nach Hause zu bringen, wo meine Mutter es finden könnte, war zu riskant. Ich stellte mir vor, wie sie es in ihren Händen hielt, ihr missbilligender Blick, ihre harten Worte. Der Gedanke schnürte mir die Brust zu, und für einen Moment drohte die Euphorie, von Angst überschattet zu werden.

Aber ich ließ das nicht zu. Nicht heute. Stattdessen beschloss ich, jede freie Minute in der Bibliothek zu verbringen, um weiter in diesem Buch zu lesen. Es war, als hätte ich einen Schatz gefunden, den ich nicht loslassen wollte, selbst wenn ich ihn nicht besitzen konnte.

Bevor ich ging, blätterte ich zu einer Seite zurück, die mich besonders berührt hatte. Darauf stand ein Zitat:

„Es gibt kein falsches Ich. Nur die Suche nach dem, was du immer gewesen bist."

Ich schrieb es schnell auf einen kleinen Notizzettel, den ich in meinem Journal versteckte. Es war eine Erinnerung daran, dass ich auf dem richtigen Weg war, auch wenn ich noch so viele Fragen hatte.

Als ich das Buch zurück auf den Tisch legte, fühlte es sich an, als würde ich einen Freund zurücklassen. Aber ich wusste, dass ich bald zurückkommen würde. Und bis dahin würde dieses Gefühl in mir weiterleben – dieses Wissen, dass ich nicht allein war und dass es einen Platz gab, an dem ich dazugehörte.

Auf dem Heimweg war die Welt ein bisschen heller, die Luft ein bisschen klarer, und mein Herz ein bisschen leichter

Erstmal: Sorry dass jetzt mehrere Tage kein Update kam. Mir ging es psychisch echt Scheiße und der gescheiterte outing Versuch meinen Eltern gegenüber hat die Situation nicht gerade verbessert. Naja, nevermind, ich wollte noch erzählen dass dieses Kapitel wirklich fast genau so passiert ist. Ich bin gerade in Oslo im Urlaub und in einer Bibliothek habe ich exakt dieses Buch gefunden und dieses Kapitel spiegelt meine Gefühle wieder die ich bei durchblättern hatte. Ich hoffe ihr kommt gut ins neue Jahr :)

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