Kapitel 22-der erste Schritt
Ich saß wieder in dem vertrauten Raum gegenüber von Herrn Seidel. Der Teppichboden dämpfte jedes Geräusch, und das leise Summen der Heizung füllte die Stille, während ich meine Hände ineinander verschränkte und wieder löste. Herr Seidel hatte wie immer ein einladendes Lächeln auf den Lippen, aber heute konnte ich es kaum erwidern.
„Wie geht es dir heute, Marie?" Seine Stimme war ruhig und warm.
Ich schluckte. Die Worte, die ich sagen wollte, hatten sich die ganze Woche über in meinem Kopf gestaut, und jetzt, wo ich hier saß, fühlte ich mich plötzlich wie eingefroren.
„Ganz okay... denke ich", murmelte ich schließlich.
„Ganz okay", wiederholte er sanft, als würde er das Gewicht hinter den Worten spüren. „Das klingt, als gäbe es etwas, worüber du sprechen möchtest."
Ich nickte langsam, ohne ihn direkt anzusehen. Mein Blick haftete an den Notizblättern vor ihm auf dem Tisch. Irgendwann musste ich es einfach sagen. Ich atmete tief durch, sammelte all meinen Mut und hörte mich selbst sprechen, bevor ich es überhaupt realisierte.
„Herr Seidel, könnten Sie mich... Leo nennen?"
Er blinzelte kurz, dann kam ein Lächeln über sein Gesicht – kein Überraschtes, sondern ein Verstehendes, als hätte er geahnt, dass ich das eines Tages fragen würde.
„Natürlich, Leo", sagte er mit der gleichen Ruhe wie immer. „Es freut mich, dass du mir das sagst."
Mein Herz schlug schneller. Es war das erste Mal, dass ich diesen Namen laut gehört hatte, aus dem Mund eines anderen. Es fühlte sich irgendwie... richtig an.
„Danke", flüsterte ich.
Er wartete ein paar Augenblicke, ließ die Stille zwischen uns Raum geben. „Möchtest du mir mehr darüber erzählen?" fragte er schließlich.
Ich nickte wieder, tastete mich vorsichtig vor. „Ich... ich bin mir sicher, dass ich nicht Marie bin. Ich fühle mich nicht wie ein Mädchen. Und Leo fühlt sich... wie ich. Aber es ist so schwer, das jemandem zu sagen. Ich habe solche Angst davor, dass Elias... dass er mich vielleicht nicht mehr mag, wenn ich es ihm erzähle."
Herr Seidel lehnte sich leicht vor, seine Ellenbogen auf die Lehnen seines Stuhls gestützt. „Das sind große, mutige Schritte, Leo. Es ist verständlich, dass das Angst macht. Aber es ist auch ein Teil von dir, und ich denke, es ist wichtig, dass die Menschen, die dir nahe stehen, dich so kennen, wie du wirklich bist."
Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. „Aber was, wenn er es nicht akzeptiert? Was, wenn er mich verlässt?"
„Das ist eine berechtigte Sorge", sagte Herr Seidel. „Aber lass mich dir etwas sagen: Wenn jemand wirklich in deinem Leben sein möchte, wird er dich so lieben und respektieren, wie du bist – nicht nur, wie er dich vielleicht sieht oder erwartet. Elias scheint dir sehr wichtig zu sein. Vielleicht gibst du ihm die Chance, zu zeigen, dass er dich wirklich sieht."
Ich schluckte. Es klang so einfach, wenn er es sagte, aber die Vorstellung, Elias in die Augen zu sehen und ihm diese Wahrheit zu offenbaren, machte mich fast krank vor Angst.
„Wie... wie soll ich es ihm überhaupt sagen?" fragte ich schließlich. „Ich kann nicht einfach zu ihm hingehen und sagen: ‚Hey, übrigens, ich bin trans.'"
Herr Seidel lächelte leicht. „Das musst du auch nicht. Du kannst dir Zeit lassen und einen Weg finden, der sich für dich richtig anfühlt. Vielleicht beginnst du damit, ihm zu erzählen, dass du dich in deinem Körper oder mit deinem Namen nicht wohlfühlst. Du musst nicht alles auf einmal sagen. Es ist okay, wenn du das in deinem Tempo machst."
Ich nickte langsam, auch wenn ich mich noch immer unsicher fühlte.
„Und wenn du möchtest, können wir uns gemeinsam überlegen, wie du es ihm sagen könntest", bot Herr Seidel an. „Ich kann dir helfen, die richtigen Worte zu finden."
Seine Worte fühlten sich wie ein kleiner Lichtstrahl an, der durch die Dunkelheit in meinem Kopf brach. Vielleicht musste ich es nicht alleine schaffen. Vielleicht konnte ich Schritt für Schritt gehen.
„Danke", sagte ich leise, meine Stimme brüchig.
Herr Seidel lächelte. „Das ist, was ich hier bin, Leo. Um dich zu unterstützen. Du machst das großartig."
Für einen Moment war ich still, ließ die Worte nachklingen. Es war ein langer Weg, das wusste ich. Aber vielleicht war das der Anfang, den ich brauchte.
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