Kapitel 20-Klugheit

Die Tür zu meinem Zimmer war kaum ins Schloss gefallen, als die ersten Tränen über meine Wangen liefen. Ich ließ mich auf mein Bett fallen, zog die Decke über meinen Kopf und vergrub mein Gesicht im Kissen. Alles in mir war ein Chaos: die Wut, die Trauer, die Scham – und diese schreckliche Hilflosigkeit.

Die Szene von unten spielte sich immer wieder in meinem Kopf ab. Die Worte meiner Eltern hallten nach, schärfer und verletzender als je zuvor. Das verbrannte Handbuch, die Flammen, die es verschlungen hatten – als wäre es nicht nur ein Buch, sondern auch ein Stück von mir, das sie zerstört hatten.

Ich weiß nicht, wie lange ich so da lag. Vielleicht Minuten, vielleicht Stunden. Aber irgendwann hörte ich ein leises Klopfen an der Tür.

„Marie?" Es war Mattis, mein kleiner Bruder.

Ich wischte hastig die Tränen weg und rief: „Was ist denn?"

Die Tür öffnete sich vorsichtig, und Mattis' Kopf erschien im Spalt. Seine großen, neugierigen Augen musterten mich besorgt. „Geht es dir nicht gut?"

Ich setzte mich auf, zog die Knie an die Brust und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten. „Mir geht's gut, Mattis. Geh wieder schlafen, okay?"

Aber er ließ sich nicht abschütteln. Stattdessen schlüpfte er ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und kam zu mir ans Bett. „Du hast geweint", stellte er fest, während er sich neben mich setzte.

Ich konnte ihn nicht anlügen, also nickte ich.

„Warum?" Seine Stimme war leise, vorsichtig.

Ich zögerte. Was sollte ich ihm sagen? Mattis war erst neun. Er war zu jung, um in diese hässliche Welt hineingezogen zu werden, dachte ich. Aber sein Blick war so ehrlich, so offen, dass ich nicht anders konnte, als ihm die Wahrheit zu sagen.

„Unsere Eltern... sie mögen keine Leute, die anders sind", begann ich.

„Anders wie?"

Ich holte tief Luft. „Anders wie... Männer, die Männer lieben. Oder Frauen, die Frauen lieben. Oder Menschen, die sich nicht wie ein Junge oder ein Mädchen fühlen."

Mattis runzelte die Stirn. „Und was ist daran schlimm?"

„Nichts", sagte ich schnell. „Es ist nichts daran schlimm. Es ist normal und okay. Aber Mama und Papa denken, dass es falsch ist."

Er schwieg eine Weile und schien nachzudenken. Schließlich fragte er: „Warum denken sie das?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Manche Menschen haben einfach Angst vor Dingen, die sie nicht verstehen."

Mattis nickte langsam. „Aber du findest das nicht schlimm, oder?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich finde, Liebe ist Liebe. Egal, wer wen liebt. Was zählt, ist, dass die Menschen glücklich sind."

Er lächelte. „Ich auch. Ich finde, es ist schön, wenn ein Mann einen Mann liebt. Oder eine Frau eine Frau. Warum sollte das falsch sein?"

Meine Kehle zog sich zusammen, und ich musste blinzeln, um die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. „Du bist wirklich schlau, weißt du das?"

Er grinste und lehnte sich gegen mich. „Natürlich bin ich das."

Wir redeten noch eine Weile. Mattis stellte viele Fragen – was queer genau bedeutet, ob er schon jemanden kennt, der queer ist, und warum die Leute so gemein sein können. Ich versuchte, ihm alles so einfach wie möglich zu erklären.

„Gibt es viele queere Menschen?", fragte er schließlich.

„Ja", sagte ich. „Mehr, als du vielleicht denkst. Manchmal trauen sie sich nur nicht, darüber zu sprechen, weil sie Angst haben, dass andere sie nicht akzeptieren."

„Das ist blöd", meinte er entschieden. „Wenn ich jemanden kenne, der queer ist, dann bin ich nett zu ihm. Und wenn jemand gemein zu ihm ist, dann beschütze ich ihn."

Ich lächelte und zog ihn in eine Umarmung. „Das ist eine gute Einstellung."

Er kuschelte sich an mich, sein Kopf auf meiner Schulter. „Weißt du was, Marie? Ich mag dich. Egal, was Mama und Papa sagen."

Das war zu viel für mich. Die Tränen, die ich den ganzen Abend zurückgehalten hatte, flossen wieder, diesmal leise und befreiend. Ich hielt Mattis fest, als ob er mich vor der Welt beschützen könnte, und er ließ es einfach zu.

„Danke", flüsterte ich schließlich.

„Gern geschehen", murmelte er schläfrig.

Irgendwann wurden seine Atemzüge langsamer und tiefer. Ich merkte, dass er eingeschlafen war, sein kleiner Körper warm und schwer in meinen Armen. Ich lehnte mich zurück, zog die Decke über uns beide und schloss die Augen.

In diesem Moment, mit Mattis an meiner Seite, fühlte ich mich nicht ganz so allein. Egal, was morgen kommen würde – ich hatte ihn. Und das war mehr, als ich jemals erwartet hatte.

Ihr lieben Menschis, ich hoffe ihr fühlt das Kapitel auch so wie ich. Ich hab beim Schreiben richtig geheult 🥲

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