Kapitel 2-eine Hand?

Die Tränen ließen langsam nach, aber die Schwere blieb. Sie lag wie ein nasser Mantel auf meinen Schultern, kalt und klamm. Mein Kopf pochte von der Anstrengung, das Schluchzen zu unterdrücken.

Ich zog das Blatt mit Elias' Notizen aus meiner Jackentasche. Es war zerknittert, die Ecken eingerissen, und an den Rändern hatte er kleine Strichmännchen gemalt, die scheinbar durch die Gleichungen spazierten. Es war so typisch Elias – als ob Mathe bloß ein Hintergrund für seine Gedanken war.

Warum kümmerte er sich um mich? Es machte keinen Sinn. Elias war beliebt, nicht wie Emma und ihre Clique, sondern auf eine echte Art. Er war nett zu allen. Nicht aufdringlich nett, sondern so, dass man es ihm abkaufte.

Ich hätte ihm egal sein sollen.

Ein Klopfen an der Kabinentür riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen, mein Herz schlug schneller.

„Hey, bist du da drin?"

Elias.

Natürlich war es Elias.

Kurz wunderte ich mich, was er auf der Mädchentoilette machte aber dann war es mir egal.

„Ähm ... ja", sagte ich schließlich, aber meine Stimme klang dünn, als hätte ich sie in der Kabine vergessen.

„Okay." Eine Pause. „Du hast deinen Rucksack in der Klasse vergessen."

Mein Rucksack. Natürlich. Ich war so eilig abgehauen, dass ich ihn liegen gelassen hatte.

„Danke", murmelte ich.

„Willst du rauskommen?" Seine Stimme war sanft, aber nicht drängend.

„Ich ..." Ich starrte auf die Kabinenwand, als könnte sie mir eine Antwort geben. „Ich bleib noch kurz hier."

„Okay." Er klang nicht genervt, sondern einfach ... da. „Ich warte draußen."

Ich hörte Schritte, die sich entfernten.

Für einen Moment saß ich einfach da, starrte auf meine Hände und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte, um in dieser Situation zu landen. Warum konnte ich nicht einfach normal sein? Warum konnte ich nicht einfach ... passen?

Aber Elias wartete.

Ich wischte mir das Gesicht ab, atmete tief durch und öffnete die Tür.

Er lehnte an der Wand gegenüber den Waschbecken, mein Rucksack über seiner Schulter. Als er mich sah, richtete er sich auf.

„Hey." Seine Augen suchten mein Gesicht. Ich wusste, dass ich verheult aussah, aber er sagte nichts dazu.

„Danke", murmelte ich und nahm den Rucksack.

„Kein Ding." Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans.

Die Stille dehnte sich aus, aber sie war nicht unangenehm. Es war eher so, als würde er mir Raum lassen, zu entscheiden, was als Nächstes passierte.

„Ich ... wollte einfach weg", sagte ich schließlich.

„Ich weiß."

Er wusste es immer.

„Ich hasse das", fuhr ich fort, bevor ich mich stoppen konnte. „Ich hasse die Schule. Ich hasse die Leute. Ich hasse ... alles."

Er nickte, als wäre das eine völlig normale Sache zu sagen. „Das dachte ich mir."

„Wieso redest du überhaupt mit mir?" Die Worte kamen schneller, als ich sie zurückhalten konnte. Sie klangen bitter, und das tat mir sofort leid, aber Elias ließ sich davon nicht beirren.

„Weil ich's will", sagte er, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Ich wollte ihm glauben. Wirklich. Aber ich konnte nicht.

„Es lohnt sich nicht", flüsterte ich, kaum hörbar.

„Das kannst du nicht wissen."

„Doch."

Elias trat einen Schritt näher. Nicht bedrohlich, nur so, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. „Vielleicht denkst du, dass du unsichtbar bist. Aber das bist du nicht. Nicht für mich."

Meine Kehle zog sich zusammen, und ich konnte nicht antworten.

„Willst du nach draußen?", fragte er. „Ich kenn einen Ort, wo keiner nervt. Nur für fünf Minuten."

Ich wollte Nein sagen. Ich wollte einfach nach Hause, in mein Bett, und die Welt ausschließen. Aber irgendwas in seinen Augen hielt mich davon ab.

„Okay", flüsterte ich schließlich.

Sein Gesicht hellte sich auf, als hätte ich ihm einen Gefallen getan. „Komm mit."

Ich folgte ihm.

Draußen war die Luft kühl und klar. Er führte mich durch einen Seiteneingang und dann über das leere Fußballfeld. Wir redeten nicht, aber das war okay. Es war fast so, als hätte er gewusst, dass ich keine Worte übrig hatte.

Das Fußballfeld war groß und wir hatten noch nicht einmal die Hälfte überquert als Elias plötzlich stehen blieb.

„Ich komm hierher, wenn ich meine Ruhe will", sagte er und deutete auf die Tribüne am Ende des Feldes.

„Du willst deine Ruhe?" Ich konnte mir das nicht vorstellen. Elias war der Typ, der immer unter Leuten war, immer ein Lachen auf den Lippen hatte.

„Manchmal", sagte er. „Manchmal will ich auch einfach nur sitzen und ... nichts sein."

Das verstand ich. Zu gut.

„Danke", murmelte ich.

„Wofür?"

„Dass du ... weiß nicht. Dass du mich nicht einfach in Ruhe lässt."

Er sah mich an, sein Blick direkt, aber nicht aufdringlich. „Vielleicht bist du es wert, nicht in Ruhe gelassen zu werden."

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

Vielleicht hatte er recht.

Vielleicht.

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