Kapitel 19-Feuer

Schon im Bus auf dem Heimweg spürte ich ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Elias war heute nicht dabei – er hatte irgendetwas mit seinen Eltern vor – und ohne ihn fühlte sich der Weg nach Hause doppelt schwer an. Jeder Kilometer näher zu unserem Haus ließ das Gefühl in mir wachsen, dass irgendetwas nicht stimmen würde.

Als ich die Haustür aufschloss, war es sofort da: diese angespannte, dichte Stimmung, die sich wie ein Schleier über die Räume gelegt hatte. Kein leises Summen aus dem Fernseher, keine Stimmen aus der Küche – nur Stille. Die Art von Stille, die nicht beruhigend ist, sondern vor Unheil knistert.

„Marie ,komm essen!" Die Stimme meiner Mutter kam aus der Küche, scharf und ungeduldig. Ich zog die Schuhe aus und ließ meinen Rucksack stehen, bevor ich mit einem mulmigen Gefühl ins Esszimmer ging. Mein kleiner Bruder saß bereits da, schob die Erbsen auf seinem Teller hin und her, ohne sie wirklich zu essen. Mein Vater saß mit verschränkten Armen da, und meine Mutter warf mir einen Blick zu, der sich wie ein Messer in meinen Magen bohrte.

Das Essen begann schweigend. Ich wollte gerade den Löffel zum Mund führen, als meine Mutter plötzlich sprach. Ihr Ton war lauter als nötig, fast vorwurfsvoll: „Man kann heutzutage ja gar nichts mehr sagen, ohne von irgendwelchen Gutmenschen belehrt zu werden."

Mein Vater brummte zustimmend. „Die Welt wird immer verrückter. Früher gab es solche Probleme nicht. Da wusste man noch, was normal war."

Ich senkte den Kopf und starrte auf meinen Teller. Es war, als würde ein Sturm anrollen, und ich saß direkt im Auge.

„Und in den Schulen bringen sie den Kindern jetzt auch noch diesen Unsinn bei," fuhr meine Mutter fort. „Kein Wunder, dass die Jugend so verdorben ist. Diese Leute, diese... Queers, oder wie sie sich nennen – die ziehen doch nur alles in den Dreck, was noch anständig ist."

Mein Atem stockte, und ich fühlte, wie mir die Kehle trocken wurde. Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben in meinem Hals stecken.

Dann passierte es. Ohne jede Vorwarnung drehte sich meine Mutter zu mir, ihre Augen funkelten vor Wut. „Wie lange willst du es noch vor uns geheim halten?"

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Wovon redest du?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Sie holte ein kleines Buch unter den Tisch hervor – das Handbuch aus der Ausstellung. Meine Gedanken rasten. Hatte ich das nicht in meinem Zimmer versteckt?

„Das hier!" Sie hielt es hoch, als wäre es ein Beweisstück in einem Verhör. „Ich habe es in deinem Zimmer gefunden. Willst du mir etwa sagen, das gehört dir nicht?"

Ich konnte nichts sagen. Es fühlte sich an, als würde ich schrumpfen, kleiner und kleiner werden unter ihrem Blick.

„Ich weiß nicht, woher du diesen Mist hast", fuhr sie fort, „aber ich sage dir eins, Marie: Du wirst dir das nicht länger einreden lassen. Diese Leute – diese abartigen Menschen – haben nichts Gutes im Sinn. Sie verdrehen dir den Kopf!"

„Hör auf!" platzte ich schließlich heraus. „Du verstehst das nicht!"

„Verstehen?" Sie lachte kalt. „Was gibt es da zu verstehen? Sie zerstören Familien, sie zerstören Werte. Und du –" Sie fixierte mich mit einem Blick, der mich fast zu Boden drückte. „Du wirst nicht so enden wie diese Leute."

Mein Vater hatte sich bisher zurückgehalten, doch jetzt legte er die Gabel hin und nickte meiner Mutter zu. Er wendete sich an meinen kleinen Bruder und sagte: „Mattis, verschwinde in dein Zimmer. Keine Ausreden"

Mattis, der die ganze Zeit schweigend da gesessen hatte, sah mich mit großen Augen an. Er wollte etwas sagen, aber mein Vater hob eine Hand, und er verstummte. Zögernd stand er auf und ging aus dem Raum.

Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, wandte sich mein Vater an mich. „Deine Mutter hat recht. Was immer du glaubst, was in deinem Kopf vorgeht – das ist Schwachsinn. Du wirst normal sein, ob es dir passt oder nicht."

„Ich bin normal!", rief ich. Tränen brannten in meinen Augen. „Und das", ich deutete auf das Buch, „ist auch normal!"

„Normal?" Meine Mutter lachte bitter. „Das hier?" Sie warf das Handbuch auf den Tisch. „Das ist nicht normal."

„Ist es wohl, du willst es nur nicht akzeptieren!" Mit Tränen der Wut in den Augen starrte ich sie an.

„So redest du nicht mit deiner Mutter!" brüllte sie und holte mit ihrer Hand aus. Ich versuchte mich wegzudrehen doch es war zu spät. Der Schmerz explodierte wie ein Feuerwerk, als ihre Hand meine Wange traf.

Ich wimmerte leise als meine Wange zu brennen begann, wo die Hand meiner Mutter sie getroffen hatte. Ich presste meine meine kühle Hand auf die Stelle um das Brennen zu betäuben.

Bevor ich etwas sagen konnte, griff sie nach einer Schere aus der Schublade. In ein paar schnellen Bewegungen begann sie, das Handbuch in Stücke zu schneiden.

„Nein!" Ich sprang auf, aber mein Vater packte mich am Arm und hielt mich zurück.

„Lass sie", sagte er kühl. „Das ist für dein eigenes Wohl."

Meine Mutter hatte das Buch inzwischen in mehrere Stücke zerlegt und griff nach dem Feuerzeug, das sie für die Kerzen am Tisch benutzte. Vor meinen Augen zündete sie eine Ecke des Papiers an und warf es in die Spüle. Die Flammen fraßen sich durch die Seiten, bis nichts als Asche übrig blieb.

Ich konnte nichts tun, nichts sagen. Ich stand da, mit Tränen auf den Wangen und einem Gefühl, als hätte jemand ein Loch in meine Brust gerissen.

„Das wird dir eine Lektion sein", sagte meine Mutter. „Und jetzt geh auf dein Zimmer. Du wirst diesen Mist hier vergessen." und sie deutete auf den Aschehaufen in der Spüle.

Ich stolperte aus der Küche, die Schritte wie auf Autopilot. Alles in mir schrie, aber meine Stimme war verschwunden. Als ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir schloss, sackte ich auf den Boden und vergrub das Gesicht in meinen Händen.

Sie hatten mir das Buch genommen, aber nicht das, was es mir gezeigt hatte. Tief in mir war ein Funke, der sich nicht so leicht ersticken ließ. Vielleicht war er noch klein und schwach, aber er war da. Und eines Tages würde er brennen.

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