Kapitel 15-das Geheimnis

Die zweite Stunde mit Herrn Seidel begann genauso wie die erste – mit einem Knoten in meinem Magen und der Frage, ob ich überhaupt den Mut hatte, etwas zu sagen. Doch dieses Mal wartete Elias nicht draußen. Er hatte mich zur Tür gebracht, kurz meine Schulter gedrückt und gesagt: „Du schaffst das. Nimm dir Zeit."

Jetzt saß ich wieder auf der gemütlichen Couch in seinem Büro, meine Hände auf meinem Schoß gefaltet, während Herr Seidel mir ein warmes Lächeln zuwarf.

„Schön, dass du wieder da bist, Marie", sagte er, mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme.

Ich nickte. „Danke."

Er wartete einen Moment, bevor er fragte: „Wie fühlst du dich heute? Gibt es etwas, worüber du sprechen möchtest?"

Ich zog meinen Pulli enger um mich, als wäre das ein Schutzschild. Meine Gedanken rasten. Sag es einfach. Sag es. Du bist hier, weil du es sagen willst.

Doch stattdessen murmelte ich: „Ich weiß nicht."

„Das ist okay", sagte er, ohne einen Hauch von Ungeduld. „Manchmal hilft es, mit etwas Kleinem anzufangen. Vielleicht magst du mir erzählen, wie die Woche war?"

Ich atmete tief ein und begann zu erzählen. Von der Schule, den kleinen Freuden mit Elias, aber auch von den scharfen Kommentaren von Emma und ihrer Clique, die immer dann auftauchten, wenn ich dachte, sie hätten mich vergessen. Doch während ich sprach, merkte ich, dass ich nur um das Thema herumtänzelte, das wirklich wichtig war.

Schließlich hielt ich inne, die Worte stockten in meinem Hals.

Herr Seidel beobachtete mich aufmerksam, aber ohne Druck. „Es scheint, als gäbe es etwas, das du sagen möchtest, aber noch nicht bereit bist, auszusprechen."

Ich nickte. Meine Hände begannen, an den Ärmeln meines Pullovers zu ziehen, und meine Augen wanderten zu den kleinen Figuren auf seinem Regal. „Es ist... schwierig", flüsterte ich.

„Das glaube ich dir", sagte er ruhig. „Oft sind die Dinge, die uns am meisten beschäftigen, die schwierigsten, darüber zu sprechen. Aber ich bin hier, um zuzuhören, wann immer du bereit bist."

Seine Worte brachten einen kleinen Riss in die Mauer, die ich so sorgfältig um mich gebaut hatte. Ich wusste, dass ich hier sicher war. Ich wusste, dass er nicht urteilen würde. Und doch war die Angst da, tief in meinem Inneren: Was, wenn ich es sage, und es fühlt sich noch schlimmer an? Was, wenn er es nicht versteht?

Ich atmete tief ein und entschied mich, zu springen. „Es geht um... mich", begann ich, meine Stimme kaum hörbar. „Ich meine, wer ich bin."

Herr Seidel nickte ermutigend, ohne mich zu unterbrechen.

„Ich weiß nicht... ich fühle mich einfach... falsch", sagte ich, meine Hände nervös ineinander verschränkend. „Ich weiß, dass ich für alle Marie bin, ein Mädchen, aber... es fühlt sich nicht richtig an. Es hat sich noch nie richtig angefühlt."

Die Worte sprudelten plötzlich aus mir heraus, so schnell, dass ich nicht einmal sicher war, ob sie Sinn ergaben. „Ich sehe mich selbst nicht so, wie andere mich sehen. Ich hasse es, wenn Leute mich Mädchen nennen oder Dinge sagen wie: ‚Das ist typisch für ein Mädchen.' Ich weiß nicht, wer ich bin, aber ich bin das nicht."

Meine Stimme brach, und ich spürte, wie die Tränen kamen, die ich so lange zurückgehalten hatte. „Es fühlt sich an, als wäre ich... gefangen in jemandem, der nicht ich bin. Und ich weiß nicht, wie ich das ändern soll."

Herr Seidel wartete einen Moment, ließ die Worte in der Stille nachklingen. „Das klingt sehr schwer", sagte er schließlich, seine Stimme sanft. „Es klingt, als würdest du schon lange mit diesen Gefühlen kämpfen."

Ich nickte und wischte hastig eine Träne weg. „Ich hab es niemandem erzählt. Nicht mal Elias. Weil ich Angst habe... Angst, dass mich niemand mehr mögen wird, wenn sie wissen, wer ich wirklich bin."

„Das ist eine sehr verständliche Angst", sagte Herr Seidel. „Viele Menschen, die sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, fühlen sich genauso. Aber hier bist du sicher. Und ich finde es unglaublich mutig, dass du heute darüber sprichst."

Ich schaute ihn an, zum ersten Mal direkt in seine Augen, und suchte nach einem Zeichen, dass er wirklich meinte, was er sagte. Es war da – keine Spur von Zweifel oder Verurteilung. Nur Mitgefühl.

„Ich... ich denke, dass ich vielleicht... ein Junge bin", flüsterte ich, die Worte kaum hörbar, als hätte ich Angst, dass die Wände sie zurückwerfen könnten.

Herr Seidel nickte, als wäre das, was ich gesagt hatte, das Normalste der Welt. „Das ist ein sehr wichtiger Schritt, Marie. Zu erkennen, wie du dich fühlst, und das in Worte zu fassen, ist unglaublich kraftvoll."

„Es fühlt sich nicht kraftvoll an", murmelte ich. „Es fühlt sich an, als würde ich auseinanderbrechen."

„Manchmal fühlt sich Wachstum genauso an", sagte er. „Es kann beängstigend und überwältigend sein. Aber du bist nicht allein darin. Wir können gemeinsam herausfinden, wie du dich sicherer fühlst und wie du dein Leben so gestalten kannst, dass es zu dir passt."

Ich nickte langsam, während ich die Worte sacken ließ. Es war nicht, als wären alle Ängste verschwunden – sie waren noch da, wie ein dunkler Schatten. Aber zum ersten Mal fühlte ich mich, als könnte ich sie vielleicht irgendwann loswerden.

„Danke", flüsterte ich schließlich.

Herr Seidel lächelte. „Danke, dass du das mit mir geteilt hast. Ich bin stolz auf dich, dass du diesen Schritt gemacht hast."

Ich verließ das Büro mit einem kleinen Funken Hoffnung in meiner Brust. Es war noch ein weiter Weg, aber ich hatte ihn begonnen. Und das war mehr, als ich je von mir erwartet hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top