Kapitel 12- Schritte
Die letzten Wochen waren fast wie ein Traum. Elias und ich verbrachten fast jeden Nachmittag zusammen, meistens bei ihm zu Hause. Es fühlte sich an wie ein zweites Zuhause, ein Ort, an dem ich fast frei sein konnte – oder zumindest ein bisschen mehr ich selbst. Aber immer war da dieser Schatten, dieses unausgesprochene Geheimnis, das in mir wuchs und mich innerlich auffraß.
An diesem Nachmittag saßen wir auf dem Boden seines Zimmers, umgeben von Büchern, Stiften und Notizblöcken, die wir schon längst ignorierten. Elias blätterte gedankenverloren in einem alten Zeichenblock, während ich an meinem Ärmel zog und in Gedanken versunken aus dem Fenster starrte.
„Marie?" Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Ich drehte mich zu ihm um. „Hm?"
Er sah mich ernst an, fast ein bisschen zögerlich – ein Ausdruck, den ich bei ihm nicht oft sah. „Ich wollte dich was fragen."
Ich runzelte die Stirn. „Das klingt ernst."
„Ist es irgendwie", gab er zu und schob den Zeichenblock zur Seite. „Aber wenn du nicht drüber reden willst, ist das okay. Ich mache mir nur Gedanken."
Mein Magen zog sich zusammen. „Worüber?"
Elias zog die Knie an und verschränkte die Arme darauf, ein Zeichen, dass er sich konzentrierte. „Über dich. Du bist manchmal so... ich weiß nicht... ich habe das Gefühl, dass da viel in dir ist, über das du nicht sprichst. Und ich weiß, dass du das nicht musst, okay? Aber ich will dir helfen, so gut ich kann. Nur... ich glaube, ich bin nicht genug."
Seine Worte trafen mich. „Du bist genug", sagte ich schnell, fast ein bisschen zu hastig.
Er schüttelte den Kopf. „Ich meine nicht so. Ich meine, ich kann dich auffangen, dir zuhören, dich ablenken – aber ich bin kein Profi. Und wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass es vielleicht helfen könnte, mit jemandem zu reden, der wirklich darauf spezialisiert ist. Jemanden, der dir Werkzeuge geben kann, um mit den Sachen klarzukommen, die dich belasten."
„Ich brauche keine Therapie", sagte ich reflexartig und wandte den Blick ab.
„Vielleicht nicht", gab er ruhig zurück. „Aber was, wenn sie dir helfen könnte? Nur einen Versuch. Es muss nichts Großes sein."
„Meine Eltern würden das nie erlauben", sagte ich leise. „Sie... sie sehen das nicht so. Sie denken, man muss einfach durchhalten."
Elias runzelte die Stirn. „Okay, das verstehe ich. Aber es gibt Wege, ohne dass sie davon erfahren. Vielleicht könntest du mit der Schulpsychologin reden? Es wäre komplett vertraulich, und es wäre ein Anfang."
Ich kaute auf meiner Lippe. Der Gedanke, jemandem meine Gefühle anzuvertrauen, war fast unerträglich. Aber Elias' Worte ließen mich nicht los. „Wie soll das überhaupt gehen? Ich meine, wie fängt man sowas an?"
Er lächelte ermutigend. „Wir könnten ihr eine Mail schreiben. Nichts Großes, einfach ein erster Schritt. Wir machen das zusammen, okay?"
Ein paar Minuten später saßen wir vor seinem Laptop. Elias hatte die E-Mail-Adresse der Schulpsychologin herausgesucht, und das leere Textfeld flimmerte auf dem Bildschirm.
„Okay", sagte er, die Hände über der Tastatur. „Wie willst du anfangen?"
„Ich weiß nicht." Ich zog meine Knie an die Brust und vergrub mein Gesicht darin. „Vielleicht... einfach, dass ich mich überfordert fühle?"
„Klingt gut. Wie wäre es so: ‚Hallo, mein Name ist Marie, ich bin in der 10. Klasse, und ich wollte mich erkundigen, ob es möglich ist, einen Gesprächstermin bei Ihnen zu bekommen.'"
Ich nickte langsam. „Ja. Aber... vielleicht sollte ich mehr erklären?"
„Okay." Elias tippte ein paar Worte und sah mich dann fragend an. „Wie fühlt es sich an? Kannst du das beschreiben?"
Ich atmete tief ein, unsicher, ob ich das überhaupt in Worte fassen konnte. „Es ist, als ob ich ständig... müde bin. Nicht körperlich, sondern... innerlich. Alles fühlt sich so schwer an. Und ich weiß manchmal nicht, wie ich das alles noch aushalten soll."
Elias nickte, seine Finger flogen über die Tastatur. Dann las er laut vor:
„‚Ich habe oft das Gefühl, dass ich innerlich feststecke. Dinge, die für andere leicht zu sein scheinen, fühlen sich für mich schwer und überwältigend an. Ich bin nicht sicher, wie ich damit umgehen soll, und es fällt mir schwer, darüber zu sprechen. Aber ich hoffe, dass es helfen könnte, mit jemandem zu reden, der sich damit auskennt.'"
Ich biss mir auf die Lippe, während ich über die Worte nachdachte. „Es klingt ehrlich."
„Das ist es auch", sagte er und lächelte aufmunternd. „Willst du noch was hinzufügen?"
„Vielleicht... dass ich nicht will, dass meine Eltern es wissen?"
Elias nickte und fügte hinzu:
„‚Ich wollte noch erwähnen, dass ich es gerne vertraulich halten würde. Es ist mir wichtig, dass meine Eltern davon nichts erfahren.'"
Er lehnte sich zurück und sah mich an. „So? Was denkst du?"
Ich starrte auf den Bildschirm, mein Herz raste. Die Worte waren so klar und offen, dass sie mir fast Angst machten. Aber gleichzeitig fühlte es sich... gut an. Richtig, irgendwie.
„Schick es ab", sagte ich schließlich leise.
Elias klickte auf „Senden", und das kleine Geräusch des verschickten Mailsignals hallte im Raum wider.
„Geschafft", sagte er, drehte sich zu mir um und legte eine Hand auf meine Schulter. „Das war mutig, Marie. Wirklich."
Ich nickte, aber die Mischung aus Nervosität und Erleichterung ließ mich kaum atmen. „Danke, dass du das mit mir gemacht hast."
„Immer", sagte er leise. Und zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich nicht allein.
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