Kapitel 1-verloren in der Dunkelheit

Ich hatte einen weiteren dieser Tage, an denen sich alles falsch anfühlte.
Das Hemd spannte an den Schultern, mein Rock fühlte sich wie eine Schlinge um meine Hüften an, und der Zopf, den ich mir aus Gewohnheit immer noch machte, hing wie ein lächerliches Banner meiner eigenen Unfähigkeit, irgendetwas zu ändern.

Es war erst zehn Uhr morgens, aber die Schule fühlte sich an, als wäre ich schon ein Jahr hier. Ich hatte nichts gesagt, seit ich den Klassenraum betreten hatte. Kein „Hallo" zu den anderen, kein „Guten Morgen" zu meiner Mathelehrerin. Ich war ein Geist.

„Hey, hast du das verstanden?" Elias beugte sich von seinem Platz vor mir zur Seite und sah mich an.

Ich erstarrte. Elias. Natürlich Elias. Der einzige Mensch, der es irgendwie schaffte, mich anzusehen, als wäre ich wirklich da. Sein dunkles Haar fiel ihm über die Stirn, und seine Stimme klang immer ein bisschen zu lässig, als wäre alles, was er sagte, unwichtig. Aber es war nie unwichtig.

„Ähm ..." Ich sah auf mein Heft, in dem ich keine einzige Notiz gemacht hatte. „Nein."

„Ich auch nicht." Er grinste, als wäre das ein Witz, den ich verstehen sollte. Es fühlte sich an, als würde er mich absichtlich zum Lächeln bringen wollen. Aber ich lächelte nicht. Ich konnte nicht.

Elias kramte in seiner Tasche und zog ein zerknittertes Blatt heraus. „Hier, ich hab mir letztes Jahr ein paar Notizen gemacht. Du kannst die abschreiben, wenn du willst."

Ich starrte auf das Blatt Papier, das er mir reichte. Es war vollgekritzelt mit unordentlichen Zahlen und kleinen Zeichnungen am Rand – Smileys, Sterne, sogar ein Drache. Es war dämlich. Es war perfekt.

„Danke", murmelte ich und nahm es vorsichtig entgegen, als könnte es zerbrechen.

Er nickte zufrieden und drehte sich wieder nach vorne.

Ich starrte ihn an, während er sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ, als hätte er gerade nichts Besonderes getan. Aber es war etwas Besonderes. Elias war der einzige Mensch in diesem stickigen Raum, der je mehr als zwei Sekunden an mich verschwendete.

Die Tür zum Klassenzimmer knallte auf, und ich zuckte zusammen. Emma und ihre Gruppe aus schrecklich perfekten Menschen marschierten hinein. Natürlich zu spät. Natürlich kein Wort der Entschuldigung. Emma hatte mich neulich in der Pause gefragt, ob ich „jemals Spaß" hätte. Ich hatte nicht geantwortet.

„Schau mal, da ist unsere Lieblingsstatue", flüsterte sie laut genug, dass alle es hören konnten, während sie an meinem Tisch vorbeiging. „So still, so hübsch. Wie eine Puppe."

Die anderen kicherten, und mein Gesicht brannte. Ich senkte den Kopf und versuchte, mich noch kleiner zu machen.

Elias drehte sich halb um und sah sie an. „Vielleicht wäre es leiser hier, wenn ihr pünktlich kommen würdet."

Die Klasse verstummte. Ich konnte nicht glauben, dass er das gesagt hatte. Niemand sprach so mit Emma. Sie war nicht nur beliebt, sie war unantastbar.

„Entspann dich, Elias", sagte Emma mit einem gezwungenen Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte. „War doch nur ein Witz."

„Klar", erwiderte er, bevor er sich wieder nach vorne wandte.

Mein Herz raste. Es war nicht das erste Mal, dass Elias mich verteidigte, aber es fühlte sich jedes Mal wie eine Schockwelle an.

Der Rest der Stunde verlief wie durch einen Nebel. Ich machte keine Notizen, selbst mit Elias' Blatt Papier vor mir. Es war, als würde mein Kopf durch einen Ozean aus Watte treiben. Alles war dumpf, außer einem Gedanken: Warum hatte Elias das getan?

Warum verteidigte er mich immer? Ich war es nicht wert.

Als der Unterricht vorbei war, war ich der Erste, der den Raum verließ. Elias rief mir etwas nach, aber ich war schon zu weit weg, als dass ich es hätte verstehen können.

Ich floh ins Badezimmer, schloss mich in einer der Kabinen ein und ließ mich auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen. Meine Finger klammerten sich an den Saum meines Rocks. Ich hasste ihn. Ich hasste alles.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und öffnete die Notizen-App. Eine Liste erschien auf dem Bildschirm:

-Haare schneiden
-Hosen statt Röcke
-Neuer Name
-Mut finden

Die Liste war fast ein Jahr alt. Ich hatte keinen einzigen Punkt abgehakt.

„Feigling", murmelte ich zu mir selbst.

Die Tränen kamen plötzlich, heiß und unaufhaltsam. Ich presste meine Hand auf meinen Mund, damit niemand mich hörte, und ließ zu, dass die Wellen mich überrollten.

Draußen klingelte es zum nächsten Unterricht. Aber ich rührte mich nicht. Ich konnte nicht zurück. Nicht jetzt. Nicht als diese Puppe, die Emma in mir sah.

Nicht als jemand, der noch nicht wusste, wer er war.

Aber Elias ... er schien zu glauben, dass ich jemand war. Und das machte es irgendwie noch schlimmer.

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