~9~
Einen Moment lang starre ich ihn nur an, dann realisiere ich, was gerade passiert ist und springe auf.
»Sag mir nicht, du hast die scheiß' Tür zufallen lassen!«, fauche ich ihn an und gehe energisch in seine Richtung.
David verfolgt jede meiner Bewegungen, schüttelt seinen Kopf und hebt abwehrend die Hände. »Ich war das nicht. Sascha hat mich durchgeschoben und ...«
»Sascha?!«, knurre ich und unterbreche ihn. Als ich David erreiche, gehe ich einfach an ihm vorbei und hämmere wutschnaubend gegen das Metall. »Mach auf, Arschloch! Ich weiß, dass du auf der anderen Seite stehst!«
Doch es passiert nichts. Stattdessen vibriert mein Handy, weshalb ich es aus der Hosentasche ziehe. Natürlich leuchtet mir dort der Name meines ›Lieblingskollegen‹ entgegen. Grummelnd nehme ich den Anruf an.
»Mach auf!«, fordere ich erneut, bevor er irgendwas sagen kann und höre ein Seufzen. Das lässt mich jedoch nur noch wütender werden. »Ich meins ernst, Sascha! Das ist echt nicht mehr witzig!«
»Hat auch keiner gesagt, dass das witzig ist, Pchela.«
»Was soll dann die Scheiße?«
»Das ist ja wohl offensichtlich«, brummt er und seufzt erneut. »Und jetzt stell mich auf laut.«
»Wozu das denn?«
»Jammer nicht rum! Mach einfach, ›Darling‹.«
»Du kannst mich mal!« Bevor er antworten kann, lege ich auf und hämmere erneut gegen die Tür. Langsam reicht es mir wirklich! Warum will er nicht verstehen, dass ...
»Ja?«, höre ich hinter mir und halte inne, um mich umzudrehen. David nickt, nimmt sein Smartphone vom Ohr und tippt drauf. Klasse, ›ihn‹ hat Sascha ja echt gut erzogen.
»Spar's dir!«, knurre ich, bevor mein Kollege etwas sagen kann. »Du hast keine Ahnung, was du mir damit antust!«
»So wie bisher kann es aber auch nicht weitergehen. Was auch immer D gemacht hat, ihr müsst endlich darüber reden«, dringt aus dem Telefon und lässt mich schnauben.
David, der bisher kaum ein Wort gesagt hat, seufzt. »Hör mal, Sascha ... Jam und mich verbindet mehr als ...«
»Mir egal. Ihr solltet euch mal sehen. Das ist kaum auszuhalten! Also redet endlich miteinander!«
»Das hast nicht ›du‹ zu entscheiden!«, fauche ich und spüre, wie Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ob vor Wut oder Enttäuschung darüber, dass Sascha mich so hintergeht, weiß ich nicht. Ich dachte, wir sind Freunde, aber das geht zu weit und lässt mich ernsthaft daran zweifeln.
»Außerdem ist heute Land unter«, setze ich nach. »Mandy braucht ...«
»Richtig«, brummt er dazwischen. »Also klärt das so schnell wie möglich!«
Das anschließende Tuten lässt mich fassungslos in Davids Richtung blicken. Nur wenige Schritte trennen uns voneinander, was mein Herz erneut zum Rasen bringt. Ohne zu überlegen, drehe ich mich zurück und schlage mit der Faust gegen die Tür. Verzweiflung mischt sich mit meiner Wut und lässt mich nicht mehr klar denken.
»Jam ... Hör auf damit!«
»Nerv nicht!« Meine Worte gleichen einem Schluchzen und meine Finger brennen, aber ich gebe nicht nach. Ich ertrage lieber körperliche Schmerzen als ...
Plötzlich werde ich von der Tür weggezogen und pralle mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Arme umschließen mich, der Duft von Mango umhüllt mich und bringt alles in mir zum Beben. Alarmglocken läuten laut in meinem Kopf, aber auch die wenigen Nervenzellen, die sich nicht gegen ihn wehren wollen. Der erbitterte Kampf bringt mich völlig durcheinander. Meine Atmung stockt. Ich schlucke schwer, um einen klaren Kopf zu bewahren, obwohl das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, überwältigend ist.
Wo ist die Wut, wenn ich sie brauche? Nur sie hält mich am Leben, verhindert, dass ich in diesem Schmerz ertrinke.
»Lass los ...«, wimmere ich und versuche mich gegen seinen Griff zu stemmen. Vergeblich.
»Wenn du mir versprichst, aufzuhören ...« Sein warmer Atem streift meinen Nacken und jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Während ich erneut versuche mich zu befreien, überkommt mich dennoch die Hoffnung, dass er mich ›nie wieder‹ loslassen wird. Scheiße!
»Jamie, bitte. Ich will nicht, dass du dich verletzt.«
Mein Name löst diesen Wunsch sofort in Luft auf. Endlich kehrt die Wut zurück. »Warum?«, spucke ich aus. »Hast du Angst, dass ich mich selbst mehr verletze, als du es über all die Jahre getan hast?«
»Jamie ...«
Sein Griff lockert sich, also drücke ich mich ab und trete einige Schritte von ihm weg. »Keine Sorge! Nichts wird an das herankommen, was zwischen uns passiert ist!«
Für einen Moment glaube ich, Reue in seinem Gesicht zu erkennen, doch dann huscht ein Lächeln über seine Lippen. Das gibts ja wohl nicht! Freut er sich ernsthaft darüber?
»Was ist daran bitte witzig?!«, fauche ich und verschränke die Arme vor der Brust.
»Nichts ...«, antwortet er sofort und die Reue kehrt zurück. »Was ich dir angetan habe, ist unverzeihlich und ...«
»Warum zum Teufel grinst du dann?!«
David schließt die Augen und senkt den Kopf. »Tut mir leid. Deine Worte waren natürlich deutlich ... Ich war nur ... Meine Gedanken ... verdammt!« Er fährt sich durch die Haare.
Ich hingegen starre ihn nur an, während der brennende Schmerz der Demütigung mich durchdringt und zittern lässt. Unbeholfen blicke ich auf meine Schuhe hinab und reibe über meine Arme. Wie konnte ich nur so dumm sein?
»Meine Gefühle sind echt.«
Verwirrt sehe ich wieder zu ihm. David schaut mich unverwandt an, was die Gänsehaut zurückbringt.
»Ich habe mich in dich verliebt!«, betont er mit Nachdruck.
Schnell schüttele ich meinen Kopf. Mein Herz pocht schmerzhaft gegen meine Rippen, doch das darf ich nicht zulassen. »Du kannst aufhören, mich anzulügen! Du hast die scheiß' Wette doch gewonnen!«
»Ich habe dich nie belogen, Jamie. Und diese beschissene Wette liegt schon Jahre zurück.«
»Ines ...«
»Ines ist eifersüchtig«, unterbricht er mich. »Und bei dir wusste sie genau, wie sie dich manipulieren kann, damit du mir nicht glaubst. Ich hätte dir alles sagen können, du hättest mir nichts geglaubt.«
»Das ist immer noch so!«
Er schnaubt, rauft sich die Haare und schüttelt seinen Kopf. »Verdammt, Jamie. Was muss ich tun, damit sich das ändert? Bedeutet dir die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, denn gar nichts?«
»Welche Zeit meinst du? Die, als du mich geschlagen hast? Oder die, in der du mir was vorgespielt hast?«
»Ich hab' dir nichts vorgespielt!«, donnert seine Stimme über den Platz und es fühlt sich an, als würde sie auf mich einstechen.
Ich stehe regungslos da, ohne zu wissen, wohin mit mir. Sein wütender Ton weckt meine Ängste. Doch etwas in mir hört die Bedeutung seiner Worte und klammert sich an ihnen fest, als wären sie ein Rettungsanker. Ich öffne meinen Mund, schließe ihn wieder, unschlüssig darüber, was ich erwidern soll. Schnell senke ich den Blick zum Boden.
Ich verstehe immer noch nicht, warum ausgerechnet ›ich‹. Nach all den Jahren, wie konnte es passieren, dass er ausgerechnet ›mich‹ will? Das macht einfach keinen Sinn!
»Diese Wette ... ich bin damals nur darauf eingegangen, um endlich wieder in deiner Nähe sein zu können ...«
»Wieder?«, frage ich verwirrt und blinzele mehrfach.
Plötzlich höre ich ein sanftes Summen. Überrascht schaue ich zu David, von dem die Melodie ausgeht.
Die Schwingungen erreichen mich und durchdringen meine Seele. Sprachlos lausche ich dem geheimnisvollen und dennoch vertrauten Klang. Es ist, als ob die Luft um mich herum zum Leben erwacht und mich mit einer beruhigenden Wärme umhüllt. Jeder Ton scheint eine Geschichte zu erzählen, unsere Geschichte. Die Welt um mich herum verschwimmt und ich sehe ihn vor mir, als wäre es gestern gewesen ...
»Oje, das hat bestimmt wehgetan!« Schnell renne ich zu dem Jungen, der gerade gestolpert ist und schaue mir sein Knie an. Es ist aufgeschürft. »Aber weißt du was? So Schrammen sind ganz schnell wieder weg!« Ich halte ihm meine Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Der Junge schaut mich nur an, also hocke ich mich vor ihn und nehme meinen Ranzen ab. Seine Augen sind hübsch, wie Glasmurmeln in der Sonne.
»Willst du ein Pflaster haben? Ich hab' immer welche dabei, weil ich manchmal tollpatschig bin.« Langsam streiche ich mir den Pony aus der Stirn und zeige auf die dicke Beule. »Gestern bin ich vom Klettergerüst gefallen.«
Er sieht mich erst komisch an, dann lächelt er plötzlich. Als ich die Packung Pflaster herausziehe, nickt er zaghaft, also gebe ich ihm eins. Beim Öffnen rutsche ich ab und schneide mir versehentlich in den Finger.
»O nein!«, quietsche ich und schüttele ihn aus. Jetzt habe ich nicht nur meine Latzhose ruiniert, sondern auch seine weißen Schuhe. »Ah! Ich bin wirklich ein Tollpatsch! Es tut mir so leid!«
Der Junge blinzelt mehrmals, dann lacht er laut auf und ich muss einfach mitlachen.
»Du bist lustig«, sagt er, nachdem er sich beruhigt hat, was mich freut. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.
Lächelnd klebe ich das Pflaster fest und halte ihm wieder meine Hand hin. Diesmal nimmt er sie. Als er steht, verzieht er das Gesicht. »Es tut immer noch weh ...«
»Dann lass mich zaubern!«
»Zaubern?«
»Jawohl!« Ich nehme seine Hände und schiebe meine Finger zwischen seine. Dann summe ich das Lied, das Mama immer gesungen hat – ein Zauberlied gegen Schmerzen und Sorgen.
»Das ist schön«, sagt er, als ich fertig bin und lächelt mich an. »Danke.«
Ich nicke eifrig. Es fühlt sich gut an, jemandem zu helfen. Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden, damit niemand mehr sterben muss.
»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich ihn und ziehe ihn mit mir zum Schulgebäude.
»David, und du?«
»Ich bin ...«
»Jamie?«
Überrascht schaue ich auf und bemerke plötzlich, dass David direkt vor mir steht. Die Erinnerung überwältigt mich und Tränen laufen unkontrolliert über meine Wangen. Instinktiv hebe ich die Hände, um mein Gesicht zu verbergen, doch er ist schneller. In einem Augenblick hat er meine Handgelenke fest im Griff.
Eine seltsame Wärme durchströmt mich, und ich weiß nicht genau, ob sie von der Erinnerung oder von David selbst kommt. Der innere Kampf entbrennt erneut in mir. Die Stimme, die ihm vergeben will, wird lauter. Mein Herz dröhnt laut in meinen Ohren.
»Jamie ... es tut mir so leid.« Behutsam legt er meine Hände auf seine Brust. »Ich ... Ich kann nie wiedergutmachen, was ich dir angetan habe. Aber ich würde alles dafür geben.« Sein Herzschlag unter meinen Fingern fühlt sich echt an, seine Stimme aufrichtig. Tief in mir drinnen weiß ich, dass jedes Wort wahr ist, auch wenn ich es nicht akzeptieren will.
Trotz meiner Angst spüre ich plötzlich weniger Furcht davor, dass er mir körperlichen Schaden zufügen könnte. Dafür ist etwas ganz anderes in Gefahr.
Weitere Tränen fließen, und eine ungewollte Hoffnung keimt in mir auf. Lange Zeit ist mein Groll gegen ihn unüberwindbar gewesen. Doch er hat recht: Unsere gemeinsame Zeit hat diesen bröckeln lassen. Er hat oft genug bewiesen, dass er sich geändert hat. Aber habe auch ich mich verändert?
David lässt meine Hände los und streicht sanft über meine Wange. Mit dem Daumen wischt er sie trocken. Ein angenehmes Prickeln breitet sich aus, als ich mich in seine Berührung rein lehne.
»Wenn du mir eine Chance gibst, werde ich dir alles erzählen ...«, flüstert er und streicht auch über die andere Wange. »Aber dafür brauchen wir Zeit.« Mein Körper reagiert auf seine Nähe. Er kribbelt unaufhörlich.
Was meint er mit ›alles‹? Bin ich wirklich bereit dafür? Ich spüre sein schneller werdendes Herz unter meinen Händen und seinen unruhigen Atem. Bevor ich es verhindern kann, nicke ich zögerlich.
»Im Park bei unserer Bank? Nach deiner Schicht?«
Ich nicke erneut, unfähig, Worte zu formulieren. Was antwortet man, wenn einem plötzlich klar wird, dass der andere einem schon viel mehr bedeutet, als man sich selbst eingestehen will?
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