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Kim steht in der Küche und späht durch das Bullauge in den leeren Hauptraum. Obwohl sie ihre Tränen weggewischt hat, ist die Angst noch deutlich in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Los gehts?«, frage ich und strecke ihr meine Hand entgegen. Ihr Blick wird unsicher, als sie zwischen dem Hauptraum und meiner Hand hin- und herschaut.
»Ihr könnt auch hinten raus. Ich hab' einen Schlüssel für das Tor«, schlägt Sascha vor, der mit verschränkten Armen am Küchentresen lehnt.
Unsere Kollegin quiekt schrill und wird augenblicklich rot. Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken, während Sascha einfach seinen Schlüsselbund hervorholt und sich abstößt, um zum Hinterhof zu gehen. Kim folgt meinem Zeichen zögerlich und kaum sind wir draußen, zittert sie von Neuem. Auch ihre Augen suchen die Umgebung direkt wieder ab. Dabei kann niemand hier sein – der einzige Zugang ist durch die Bar oder das große Tor, an dem Sascha gerade steht.
»Jam?«, flüstert Kim plötzlich und greift nach meiner Hand. »Tust du mil einen Gefallen?«
»Natürlich«, antworte ich sofort und schaue sie an.
»Lass mich nicht los, ja?« Sie drückt meine Hand, woraufhin ich lächele.
»Versprochen.« Um ihr ein bisschen Sicherheit zu geben, verflechte ich meine Finger mit ihren. Augenblicklich klammert sie sich an mich und ich spüre ihren schnellen Herzschlag an meinem Unterarm.
»Wenn es dir nicht besser geht ...«, sagt Sascha und tätschelt ihren Kopf, als wir neben ihm stehen, um uns zu verabschieden, »... dann bleib' später zu Hause.«
»Abel ... da hat Velo ...«
»Das ist egal. Es ist wichtiger, dass es dir gut geht.«
Kurz lässt Kim mich los, drückt unseren Kollegen erneut und umschließt meinen Arm abermals.
»Pass gut auf sie auf, Pchela«, sagt er zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, weshalb ich automatisch nicke. Ich weiß, dass es ihm nicht gefällt, uns alleine zu lassen. Aber er muss auf Piet warten.
»Mach' ich.«
»Und meld' dich später.«
»Klar.«
Er drückt mich noch einmal fest an sich, dann gehen Kim und ich los und er schließt hinter uns das Tor.
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Stunden später, die Morgendämmerung setzt bereits ein, stehen wir endlich vor ihrer Wohnung. Den ganzen Weg über hat sie sich die Kapuze ihres Hoodies tief ins Gesicht gezogen und vehement darauf bestanden, dass wir die Hauptstraßen meiden. Ansonsten hat sie jedoch kein Wort gesprochen.
Zittrig steckt Kim den Schlüssel ins Schloss und schiebt die Haustür auf. Erst nachdem ich sie hinter uns zugemacht habe, lässt sie mich los, atmet hörbar aus und sackt gegen die Wand.
Nach einer Weile bricht sie das Schweigen und räuspert sich. »Danke«, haucht sie leise, fast unhörbar.
»Keine Ursache«, erwidere ich mit einem Lächeln.
»Das alles tut mil fulchtbal leid ...« Sichtlich nervös knetet sie ihre Finger, weshalb ich nach ihnen greife und ihre Hand wieder einmal drücke.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Panikattacken können jeden treffen.« Zumindest vermute ich, dass es eine war, denn die Symptome sprechen für sich. Und auch wenn ich selbst weiß, wie es sich anfühlt, ist es eine ganz andere Sache, jemandem dabei zusehen zu müssen.
Kim drückt sich von der Wand ab, lässt mich los und bedeutet mir, ihr zu folgen. Gemeinsam gehen wir durch den langen Flur, bis wir in der gemütlichen Wohnküche ankommen.
»Tee?«, fragt sie mich und macht sich sofort am Wasserhahn zu schaffen. Kurz schaut sie zu mir rüber, ich nicke zustimmend und sie kramt in der Schublade links von sich.
Dann kehrt Ruhe ein, abgesehen vom Geräusch des Wasserkochers, der mit jeder Sekunde lauter wird und schließlich mit einem lauten Ploppen endet. Nebenbei betritt eine kleine orangerote Katze die Küche, springt auf die Anrichte und stupst Kim mit ihrem Kopf an.
»Lass das«, murmelt sie leise, nimmt das Tier dennoch auf den Arm und drückt ihr Gesicht in dessen weiches Fell. Dann lässt sie es wieder runter, füllt die Tassen mit Wasser und setzt sich mir gegenüber.
Die Katze macht es sich sofort auf Kims Schoß gemütlich. Trotzdem rutscht sie unruhig auf ihrem Stuhl herum und sieht mich nicht an. Vermutlich ist es ihr unangenehm, dass ich all das mitbekommen habe. Zumindest geht es mir so, wenn meine inneren Dämonen mal wieder ausgebrochen sind.
»Weißt du ...«, flüstere ich schließlich und sehe, wie sie zusammenzuckt. Vorsichtig schaue ich in ihr Gesicht. Kims Augen sind noch immer gerötet und ihre Lippen blass. »Ich will nicht aufdringlich sein, aber ... du kannst immer mit mir reden, okay?«
Zuerst nickt sie langsam, dann schnaubt sie plötzlich. Etwas in ihrem Blick ändert sich. »Du ledest doch auch nicht!«, wirft sie mir vor und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr kleiner Ausbruch lässt mich schmunzeln. Das ist definitiv mehr die Kim, die ich kenne.
»Daran solltest du dir wirklich kein Beispiel nehmen«, antworte ich sanft und sehe, wie sie ihre Nase kraus zieht.
»Hmpf ...« ist alles, was sie herausbringt. Wir sehen uns an, ich ziehe eine Augenbraue hoch und obwohl die Situation alles andere als angemessen ist, brechen wir beide in Gelächter aus. Einfach so. Es sprudelt nur so aus uns heraus.
Irgendwo geht eine Tür auf, weshalb wir abrupt verstummen. Kurz darauf steht Mandy im Türrahmen, schläfrig von einem zum anderen blickend.
»Mädels ... geht das auch leiser?«, nörgelt sie, woraufhin Kim erneut losprustet. Sie kugelt sich förmlich vor Lachen, versucht es zu unterdrücken und scheitert kläglich. Ihr Lachen ist so ansteckend, dass auch ich wieder einstimme. Der Rotschopf betrachtet uns nur wie zwei Verrückte, schüttelt den Kopf und geht wieder. Ihre energischen Schritte hallen an der Wand wider, aber auch das kann uns nicht stoppen. Tränen sammeln sich in meinen Augen und mein Bauch schmerzt. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir uns beruhigt haben.
Schwer atmend lehne ich mich zurück und fühle mich irgendwie erleichtert. Ein Blick zu Kim zeigt mir, dass es ihr ähnlich geht. Sie sieht besser aus als zuvor. Nicht unbedingt ›gut‹, aber auch nicht mehr so verängstigt.
Langsam erwidert sie meinen Blick und schenkt mir ein kleines Lächeln. Dann verschwindet es plötzlich wieder. »Du hast lecht«, murmelt sie und nickt entschieden. »Ich bin dil eine Antwolt schuldig.«
»Das hab' ich nicht gesagt.«
»Ich weiß. Abel ... ich will es ... Du bist meine Fleundin, Jam.«
Ihre Worte lösen eine unglaubliche Wärme in mir aus. Auch wenn sie für mich seit einiger Zeit schon mehr als nur eine Kollegin ist, fühlt es sich gut an, dass sie es genauso sieht.
Kim springt auf, wodurch die Katze von ihrem Schoß fällt und beleidigt den Raum verlässt. Das stört die Japanerin jedoch nicht. Mit schnellen Schritten tigert sie hin und her. Zwischendurch wirft sie immer wieder einen Blick aus dem Fenster, bis sie schließlich die Jalousie herunterlässt.
»Mein ...« Sie seufzt und streicht sich einige Haare aus dem Gesicht. »Mein ... Mann ist hiel ...«
»Dein was?!«, entfährt es mir überrascht und glaube fast, mich verhört zu haben – doch sie seufzt und schließt die Augen.
»Mein Mann«, wiederholt sie leise und macht eine kurze Pause, um tief Luft zu holen. »El ist vermutlich hiel, um mich zulückzuholen ...«
»Zurück? Du meinst, nach Japan?«
Diesmal nickt Kim, bevor sie die Lippen zusammenpresst. »Es wal nul eine Flage del Zeit ...«
Einen Moment lang herrscht Stille zwischen uns, nur das leise Ticken der Uhr ist zu hören. Ich bin sprachlos angesichts der Tatsache, dass Kim verheiratet ist und uns verlassen wird. Diese Neuigkeiten überfordern meinen Verstand. Doch dann setzt mein Gehirn wieder ein und eine erschreckende Erkenntnis drängt sich mir auf.
»Warst du nicht noch ein Kind, als du aus Japan hergekommen bist?« Sie nickt erneut. »Ist die Ehe dann überhaupt rechtens?«
Ihr mildes Lächeln schockiert mich. Ich bin mir sicher, dass man auch in Japan erst ab der Volljährigkeit heiraten darf. Zumindest habe ich das mal in einer dieser Dokus mitbekommen, die Felix gern anschaut.
»Ich bin so dumm ...«, murmelt sie und reibt sich über die Arme. Dann seufzt sie und geht in die Hocke, vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Schnell stehe ich auf, knie mich vor Kim und lege ihr beruhigend meine Hand auf die Schulter. »Bist du nicht«, versichere ich ihr, woraufhin sie aufblickt und wieder Tränen in ihren sonst so wachen Augen stehen. Bevor ich irgendwas sagen kann, rollen diese bereits über ihre Wangen.
»Doch, bin ich. Es wäle so einfach, wenn ich ihn lieben wülde ...«, schluchzt sie leise und schüttelt den Kopf. »Abel, ich dumme Kuh musste mich ja in jemand andelen vellieben ...«
Immer mehr Tränen fließen, und obwohl sie versucht, sie wegzuwischen, gelingt es ihr nicht. »Wieso ist das nul passielt? Wil haben uns doch ständig gestlitten ... eigentlich müsste ich ihn doch hassen ...«
Schluchzer durchschütteln sie, daher umarme ich Kim vorsichtig und streiche ihr beruhigend über den Rücken. Ihre Worte lassen das Bild von Davids lächelndem Gesicht in meinem Inneren erscheinen, das sich schmerzhaft in mein Gedächtnis eingebrannt hat.
Mit einem Seufzen schüttele ich den Kopf. »Ich versteh' dich ...«, entfährt es mir und überrascht mich selbst. »Weißt du ...«, setze ich zögernd an, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. »Wir können uns solche Gefühle nicht einfach aussuchen. Sie sind eben da ... ganz egal, wie sehr wir uns dagegen wehren oder darauf hoffen, jemanden zu hassen ...« Verdammt! Was ist nur los mit mir?!
Kim lacht frustriert auf und ich kann sie nur allzu gut verstehen. Diese Gefühle sind scheiße! Und das Schlimmste ist: Sie lassen sich nicht einfach auslöschen, wie ein unerwünschtes Foto.
»Und wieso tut das so weh?«, haucht sie verzweifelt. »Wann hölt das endlich auf?«
Hilflos zucke ich mit den Schultern. »Ich hab' keine Ahnung ...«
Mit einem Schnauben lässt sie sich nach hinten fallen und landet mit dem Hintern auf dem Boden. Ich rutsche neben sie und lehne mich ebenfalls gegen die Küchenschränke.
Gerne würde ich ihr eine bessere Antwort geben, doch das kann ich nicht. Wenn ich ehrlich zu mir bin, kämpfe ich selbst tagtäglich damit, nicht an diesem furchtbaren Schmerz zu ersticken. Dabei bin ich mir immer noch unsicher, ob das wirklich ›Liebe‹ sein soll.
»Ich bin eine Schande, Jam ...«, platzt es aus ihr heraus und reißt mich aus meinen Gedanken.
Entgeistert starre ich sie an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Mein Otōsan ... also mein Vatel ... El hat auf diese Hochzeit bestanden. Makoto ist del Sohn seines Geschäftspaltnels und wil kennen uns schon unsel ganzes Leben lang. El ist kein schlechtel Kell ... abel einfach nicht ...« Sie bricht ab und schüttelt den Kopf. Trotzdem kann ich nachvollziehen, was sie sagen wollte. Vermutlich mag sie diesen ›Makoto‹, wenn sie ihn so lange kennt, aber eben nur als Freund.
»Jedenfalls ...«, setzt sie fort und sieht auf ihre Füße. »Als ich mit achtzehn fül eine Weile in Japan wal, weil Otōsan dolthin zulückgekehlt ist und meine Hilfe im Familienuntelnehmen blauchte, fand auch die Hochzeit statt. Nul deshalb dulfte ich zum Studielen zulück nach Deutschland.«
»Für mich klingt das nach Erpressung ...«
»Vielleicht ... Abel das wal mil egal. Ich wollte nul hielhel zulück. Ich mag das Land und seine Bläuche. Deutschland ist meine Heimat, auch wenn das komisch klingt ...«
»Tut es nicht, du bist hier aufgewachsen.«
Sie lächelt mich an, nimmt meine Hand und drückt sie sanft. Dann seufzt Kim jedoch schwer. »Die Abmachung wal ... wenn ich mein Studium beendet habe, komme ich nach Hause und nehme meinen Platz in der Filma ein ... Veldammt!«
Ihr plötzlicher Ausruf lässt mich zusammenzucken. Obwohl ihr Ton nüchtern klingt, sehe ich erneut die Tränen, die sie kaum trocknen konnte. Energisch reibt sich Kim mit der freien Hand über die Augen und flucht weiter vor sich hin.
»Scheiß Jimal! Ich hasse ihn!«, knurrt sie laut, lässt mich los und wirft die Hände in die Luft. Dann springt sie auf und tigert wieder durch den Raum.
»Jimal?«, frage ich perplex, während Kim bereits nickt.
»Mein blödel altel Mitbewohnel! Seinetwegen hatte ich ständig Älgel ...«
»Was hat dein alter Mitbewohner damit zu tun?« Jetzt bin ich endgültig verwirrt.
»Das habe ich doch gesagt!«, brummt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich hab' mich in ihn velliebt ...«
»Oh«, gebe ich leise von mir und kaue auf meiner Unterlippe. »Bist du deshalb ausgezogen?«
»Nein ...« Plötzlich errötet Kim stark, sodass sogar ihre Ohren zu leuchten scheinen. Sie reibt nervös ihre Hände aneinander und dann an ihrer Jeans ab. »Ich habe echt Scheiße gebaut, Jam ...«
»Sich in jemanden zu ... zu ...« Genervt von mir selbst, schiebe ich meine Brille hoch und fasse mir an die Nasenwurzel. Es kann doch nicht so schwer sein, dieses dumme Wort auszusprechen! »Jedenfalls ist das keine Schande ...«, greife ich ihre Worte wieder auf und hoffe, sie versteht, was ich meine.
»Mag sein ... abel mit ihm zu schlafen, schon.«
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