~26~
Erneut streiche ich mir über die Stirn und lasse einen leisen Seufzer entweichen.
Obwohl ich mich eigentlich auf die Unterlagen vor mir konzentrieren sollte, gelingt es mir mal wieder nicht. Viel zu sehr kreisen meine Gedanken um das Gespräch mit Kim – oder vielmehr um die Frage, ob es nicht doch irgendeine Möglichkeit gibt, ihre Situation zu verändern.
Leider kenne ich mich mit der japanischen Kultur zu wenig aus und auch meine Recherchen haben nichts Brauchbares ergeben. Da sind die vier Tage Googeln echt umsonst gewesen. Woher soll ich wissen, welche Bräuche und Traditionen ihrer Familie besonders wichtig sind und wo sie bereit wären, Kompromisse einzugehen? Es ist frustrierend!
Und dass sich Kims Vorahnung bewahrheitet hat und uns nur noch knapp drei Tage bleiben, bis sie tatsächlich fliegt, macht alles nur noch schlimmer.
Mein Blick wandert zurück zu den Papieren vor mir. Nachdem sie unserem Chef gestanden hat, dass sie nicht mehr lange bleiben kann, hat er mich beauftragt, schnellstmöglich einen Ersatz für sie zu suchen. Es ist ja nicht so, als wäre ich bereits überfordert genug damit, jemanden zu finden, der meine Schichten übernimmt.
Außerdem ist mir schleierhaft, nach welchen Kriterien Piet einstellt. Genau deshalb liegen die Personalakten vor mir – hoffentlich geben sie mir einen Anhaltspunkt.
Warum muss sich Sascha eigentlich nicht mit so einem Mist rumschlagen? Wäre das nicht seine Aufgabe als zukünftiger Chef?
Seufzend greife ich zur ersten Akte und blättere darin rum. Die wenigen Informationen, die Piet sich über Anna notiert hat, helfen mir überhaupt nicht weiter. Neben dem Arbeitsvertrag und dem Personalbogen liegt ein kurzer Steckbrief bei, auf dem ein Post-it mit ihren Arbeitstagen klebt – und natürlich ein Foto von ihr. Kein klassisches Bewerbungsbild, sondern eines in Arbeitskleidung, in der Bar.
Ich klappe Annas Akte wieder zu und nehme die nächste zur Hand, die etwas dicker ist: die von Kim.
Hier hat Piet neben den gleichen Unterlagen wie bei Anna auch Post-its mit ihren Stärken und Schwächen auf den Steckbrief geklebt. Zudem finde ich einen handgeschriebenen Zettel, der festhält, dass Kim jederzeit innerhalb eines Tages der Arbeit fernbleiben oder kündigen kann. Beide haben ihn unterschrieben. Offenbar weiß Piet also über ihre Situation Bescheid.
Mandys Unterlagen sind ähnlich aufgebaut. Zusätzlich gibt es ein paar Notizen zu ihrem Studium und ihren Familienverhältnissen in Irland.
Seufzend lege ich ihre Papiere zurück auf den Couchtisch und stehe auf. Es ist mir unangenehm, die Dokumente meiner Freunde so genau durchsehen zu müssen. Egal, ob das Teil meines Jobs ist oder nicht – es fühlt sich an, als müssten sie sich nackt ausziehen, ohne es zu wissen. Zum Glück habe ich das meiste vorher von ihnen persönlich erfahren.
Mein Blick wandert zu den Kladden, die noch vor mir liegen. Neben meinen eigenen, Saschas und Felix' Unterlagen sind auch die von Vero dabei. Bei ihr bin ich mir allerdings unsicher, ob ich sie wirklich öffnen soll.
Ich gehe ein paar Schritte durch mein Wohnzimmer und merke, dass es in den letzten Minuten deutlich wärmer geworden ist. Liegt das an meinem Unwohlsein oder ...? Ich schaue zur Klimaanlage, die überraschend still ist.
»Oh nein ...«, murmle ich und krame in einer Schublade nach der Fernbedienung. Hastig drücke ich die Taste und bestätige damit meinen Verdacht: Sie scheint tatsächlich kaputt zu sein.
»Das kann ja nicht wahr sein ...«, fluche ich leise, schnappe mir mein Handy und rufe den Hausmeisterservice an.
Nachdem sich eine tiefe, leicht rauchige Stimme meldet, erkläre ich das Problem und höre ihn seufzen. »Die Störung ist uns bereits bekannt und betrifft ihr gesamtes Wohnhaus. Wir melden uns, wenn wir sie behoben haben.«
Damit legt er auf und lässt mich ein wenig frustriert zurück.
~~~~~
Knapp eine Stunde später stehe ich mit den restlichen Personalakten in meiner Tasche vor Davids Wohnungstür und bin unsicher, ob ich wirklich klingeln soll.
Es ist nicht so, dass ich David und DJ nicht sehen möchte; stören würde ich sie auch nicht. Schließlich hat David mir am Telefon gesagt, dass ich vorbeikommen soll, und ich habe deutlich gehört, dass DJ sich ebenso darüber freuen würde.
Trotzdem bin ich nervös – es ist das erste Mal seit meiner Flucht aus seiner Wohnung, dass ich wieder hier bin. Irgendwie hat sich vorher nie die Gelegenheit ergeben.
Von drinnen höre ich gedämpfte Stimmen und atme tief ein. Jetzt oder nie – sonst traue ich mich nicht mehr. Schnell drücke ich auf die Taste, und es gibt ein lautes Gepolter.
»Ich geh' schon, Papa!«
Kaum eine Sekunde später steht DJ vor mir, lässt die Tür los und springt in meine Arme. »Jam! Du bist endlich da!« Er grinst mich überglücklich an und gibt mir einen Schmatzer auf die Wange, während ich ihn hochnehme. »Ich muss gleich zum Training. Kommst du mit?«
David taucht ebenfalls in der Tür auf und lächelt uns an. »Nein, Jam bleibt hier, wenn ich dich hinbringe.«
»Aber warum denn?« DJ zappelt so wild auf meinem Arm, dass David ihn mir schmunzelnd abnimmt und gekonnt auf seiner Hüfte absetzt.
»Weil sie noch arbeiten muss. Darüber haben wir doch gerade erst gesprochen.«
»Dafür bin ich am Samstag bei deiner Prüfung dabei.«
»Wirklich?« Seine Augen weiten sich vor Freude.
»Klar! Ich muss dich doch anfeuern.«
»Papa, hast du gehört? Jam kommt mich anfeuern!« Er dreht sich begeistert zu seinem Vater, der bisher still geblieben ist.
Mir fällt auf, dass Davids Gesichtsausdruck etwas angespannt wirkt.
»Das ist super, aber lass uns Jam erstmal reinlassen.« Er setzt DJ wieder ab und tritt zur Seite. »Und jetzt machst du deine Matheaufgaben zu Ende. Sonst bist du heute Abend nach dem Training wieder zu müde.«
Der kleine Mann nickt eifrig und flitzt davon.
Ich trete über die Schwelle und bleibe wie angewurzelt stehen. Für einen kurzen Moment höre ich sowohl Ines' als auch Davids Stimme in meinen Ohren und spüre den Schmerz von vor Wochen wieder aufleben. Doch dann zieht David mich in seine Arme und küsst mich.
»Alles okay?«, fragt er, kaum, dass er sich von mir gelöst hat. Ich nicke. »Sicher? Du wirkst nicht so.«
»Nur ein bisschen überhitzt ...«, winke ich ab und versuche zu lächeln. Schon allein, weil ich weiß, dass so etwas nie wieder passieren wird und ich nicht will, dass er sich schlecht fühlt. Also atme ich tief ein und schaue ihm ins Gesicht. »Aber was ist mit dir? Haben sich unsere Pläne für Samstag geändert?«
Er seufzt und fährt sich durch die Haare. »Grundsätzlich nicht ... nur hat Ines mir gestern geschrieben, dass sie auch dabei sein wird.« Seine Stimme klingt frustriert.
»Dann ... sagen wir DJ einfach, dass ich arbeiten muss. Das ist nicht mal gelogen, selbst wenn die Schicht erst nach der Prüfung beginnt.«
»Was? Ich dachte, du hast dieses Wochenende als Ausgleich frei?«
»Ist leider nicht machbar. Denn abgesehen davon, dass ich sowieso nicht möchte, dass Piet meine Schichten übernimmt, haben wir ja gerade akuten Personalmangel.« Ich klopfe leicht auf meine Tasche. »Deshalb die zusätzliche Arbeit an beiden Fronten.« Mein Grinsen bringt ihn zum Kopfschütteln.
»Du übernimmst dich noch.«
»Ach was! Mach dir keine Sorgen, mir geht's super.«
Seine Augenbraue hebt sich skeptisch. »Du arbeitest seit mehreren Wochen fast ununterbrochen und hast deutlich sichtbaren Schlafmangel. Natürlich mache ich mir Sorgen.« David zieht mich weiter in den Raum bis zu den Barhockern an der breiten Thekeninsel. Sie trennt die Küche optisch vom Wohnzimmer.
Nachdem ich mich auf einem der Hocker niedergelassen habe, mustert er mich unruhig. »Euer Chef hat im Übrigen auch nichts davon, wenn du wegen Überarbeitung umkippst.«
»Das bleibt ja nicht ewig so ... sobald ich neues Personal gefunden habe, wird das besser.«
Er startet die Kaffeemaschine und lächelt mild, während er seine Hand auf meine legt und sanft über meinen Handrücken streicht. Sofort läuft eine Gänsehaut über meinen Körper.
»Bis man geeignete Kandidaten findet, kann es manchmal eine ganze Weile dauern.«
»Na dann ...« Schmunzelnd ziehe ich meine Hand zurück und beiße mir kurz auf die Lippe. »Hör auf, mich abzulenken und lass mich endlich anfangen zu arbeiten.«
Jetzt lacht er; in seinen Augen blitzt Schalk auf. »Sag bloß, du hast Schwierigkeiten, dich bei Berührungen zu konzentrieren.«
»Quatsch!« Ich mache eine spielerisch wegwerfende Handbewegung. »Das lässt mich natürlich total kalt – weißt du doch.«
Wir grinsen uns an; gerade als er etwas erwidern will, öffnet sich eine Tür hinter mir und DJ stürzt zu uns.
»Bin fertig!«, ruft er begeistert und knallt sein Rechenheft auf den Tresen.
»Na dann lass mal sehen, ob du das auch ordentlich gemacht hast.«
»Hab ich!«, protestiert der kleine Mann sofort, woraufhin sein Vater das Heft zu sich zieht und die Aufgaben fokussiert durchgeht. Ihm dabei zuzusehen, lässt mein Herz plötzlich schneller schlagen.
»Du, Jam?« DJ hat sich neben mich auf den anderen Barhocker gesetzt und tippt mich an. »Spielen wir gleich wieder ein Gesellschaftsspiel?«
»Wenn dein Papa mit deinen Aufgaben zufrieden ist, können wir das gerne machen.«
»Musst du jetzt doch nicht mehr arbeiten?« David guckt mir verschmitzt in die Augen und ich werde ungewollt rot.
»Schon ... aber das könnte ich auch einfach gleich machen, wenn DJ beim Training ist ...«
»Soso.« Er lächelt weiterhin und wendet seinen Blick seinem Sohn zu. »Du hast das toll gerechnet.« Mit einer sanften Handbewegung streicht er ihm über den Kopf, was diesen regelrecht zum Strahlen bringt. »Jetzt fehlt nur noch das Lesen, dann bist du fertig.«
»Kann ich mit Jam lesen?«
Beide schauen mich an.
»Ähm ... klar. Hol' deinen Text.«
DJ springt vom Stuhl und flitzt in sein Zimmer. Kaum ist er zurück, hält er mir seinen roten Schnellhefter vor die Nase. Ich nehme ihn ihm ab und er klettert wieder neben mich. Nachdem er sich gesetzt hat, beginnt er zu lesen. Es ist ein Sachtext über Igel, den er so flüssig vorträgt, dass ich ziemlich erstaunt bin. Ich kann mich nicht erinnern, in seinem Alter so gut darin gewesen zu sein.
Als er die unten stehende Frage: ›Woran erkennst du einen Igel?‹ beantwortet und aufgeschrieben hat, sieht er mich mit großen Augen an. »Können wir jetzt spielen?«
»Wenn du mit allem fertig bist?«
DJ dreht sich zappelnd zu seinem Papa, der lächelnd nickt. »Du brauchst nur noch deinen Tornister für morgen vorzubereiten.«
»Mach' ich!« Der kleine Mann sieht wieder zurück zu mir. »Suchst du schon mal ein Spiel aus?«
»Ich?!«, entweicht mir überfordert – doch DJ hört gar nicht mehr hin und rennt bereits los.
David lacht derweil leise und umrundet die Thekeninsel. »Er mag dich wirklich gern. Dass du ein Spiel aussuchen darfst, ist ein ziemliches Zugeständnis.«
Mir entweicht ein nervöses Schnauben. »Das erhöht den Druck, das richtige Spiel auszusuchen, natürlich gar nicht ...«
Jetzt lacht David richtig, tritt an mich heran und streicht mir über den Rücken. »DJ ist sieben, Jamie. Mach dir nicht so einen Kopf darüber, was richtig oder falsch sein könnte.«
»Und wenn ich ihn mit meiner Wahl enttäusche?«
»Wirst du nicht.« Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen. »DJ freut sich einfach über deine Aufmerksamkeit und darüber, dass du Zeit mit ihm verbringst.«
Ich seufze erneut. Irgendwie kann ich nicht glauben, dass es wirklich so einfach sein soll. Da ich nichts erwidere, nimmt David sanft meine Hand und zieht mich zum Wohnzimmerschrank, in dem eine ganze Sammlung an Gesellschaftsspielen steht. Das macht die Entscheidung allerdings auch nicht leichter.
DJ kommt zurück in den Raum, platziert seinen Ranzen an der Wohnungstür und gesellt sich zu uns. »Hast du schon was ausgesucht?« Seine erwartungsvollen Augen scheinen mich förmlich zu durchdringen.
»Ähm ...«
»Wie wäre es mit einem Kartenspiel? So viel Zeit bleibt ja nicht mehr, bis wir losmüssen«, schlägt David vor.
»Gute Idee«, stimme ich zu – auch DJ nickt begeistert. »Wie wäre es dann noch mal mit Uno Flip? Das kenne ich ja jetzt.«
»Au ja!«
Erleichterung durchflutet mich. Wann ist es mir das letzte Mal so schwergefallen, etwas auszusuchen? Und warum ist das eigentlich so?
»Papa, spielst du auch mit?«
»Klar.«
»Juhu!«
Schnell schiebe ich all diese Gedanken beiseite und setze mich gemeinsam mit den beiden auf die Couch. Über diese Fragen kann ich mir später noch den Kopf zerbrechen – jetzt wird erstmal gespielt.
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