»Lust auf einen Kaffee?«
Piet steht in der Tür zu seinem Büro, während ich am Boden sitze und seit über zwei Stunden die Papiere sortiere. Inzwischen habe ich David und Sascha abgesagt, denn sonst schaffe ich es nie, bis Ende der Woche fertig zu werden.
»Nein, danke.«
Unter den vielen normalen Unterlagen wie Rechnungen und Lieferscheinen türmen sich ausgedruckte, teils private E-Mails sowie Mitteilungen von Behörden und andere Posteingänge. Sogar einen Gerichtsbeschluss habe ich entdeckt. Allein das alles auseinanderzuhalten wird eine gefühlte Ewigkeit in Anspruch nehmen.
»Komm schon, Jam. Mach mal eine Pause.«
Mein Blick huscht kurz nach oben, aber nur, um sicherzustellen, dass er mein Kopfschütteln bemerkt hat.
»Als dein Chef ordne ich dir eine Pause an ...«
Schnaubend rolle ich mit den Augen. »Als mein Chef solltest du, angesichts deiner eigenen Situation, froh über meinen Arbeitseinsatz sein.« Außerdem reicht es schon, dass er Felix und mich im Flur gesehen hat. Das ist mir unangenehm genug und ehrlich gesagt will ich gar nicht wissen, wie viel er darüber hinaus mitbekommen hat.
Während ich einen weiteren Stapel zu mir ziehe, fallen zwei andere – eigentlich bereits sortierte – Haufen um und verteilen die Blätter quer durch den Raum.
»So eine Scheiße!«, fluche ich und reibe mir frustriert über das Gesicht. Grummelnd springe ich auf, um die verstreuten Papiere wieder einzusammeln. Warum sage ich eigentlich immer zu allem ›Ja‹? Hätte ich abgelehnt, wäre das gar nicht erst passiert! Wütend nehme ich meine Brille ab und wische mir die neu aufsteigenden Tränen aus den Augen.
»Er hat dich mal wieder ganz schön verletzt, was?«
Obwohl ich nicht darüber sprechen will, verrät mein Körper mit seinem Zittern, wie sehr mich das Ganze mitnimmt. Verdammt, ich hasse es, so schwach zu sein!
Piet seufzt leise. »Es ist okay, wütend zu sein. Felix macht sich gerade wirklich nicht beliebt.«
»Gerade?«, entgleitet mir und lässt Piet schief lächeln. Ich will ihm nicht von meinen Problemen mit seinem Sohn erzählen; er hat schließlich genug eigene. Immerhin bin ich genau deswegen überhaupt hier gelandet.
Erneut knie ich mich hin, lege die Papiere in mehrere Haufen und beschwere sie mit zwei herumliegenden Büchern.
»Übrigens, er hat die Wahrheit gesagt.«
Verwundert schaue ich auf. »Was meinst du?«
»Ein Kind mit dir hätte ihn nicht gestört.«
Frustriert rolle ich erneut mit den Augen und widme mich wieder dem Boden. Piet hat offensichtlich lange genug an der Tür gestanden, um unser ganzes Gespräch mitzubekommen – ein weiterer Grund, ihm nicht zu antworten. Schließlich hat er demnach auch gehört, dass sein Sohn kurz darauf gesagt hat, er wollte mich lediglich für meine Naivität büßen lassen.
Fuck! Der Gedanke daran schmerzt und macht mir unmissverständlich klar, dass Felix mich mal wieder nur benutzt hat. Wann ist aus unserer Freundschaft nur so ein großer Haufen Scheiße geworden? Heiße Tränen der Enttäuschung steigen in mir auf und lassen mich schluchzen. Als ich versuche, das Geräusch zu unterdrücken, entweicht mir dennoch ein leiser Ton, was meinen Frust nur noch verstärkt.
»Jam ...« Piet betritt den Raum und klopft mir fest auf den Rücken, was etwas unbeholfen wirkt. »Es tut mir leid, wie er dich behandelt hat. Wenn es etwas bringen würde, würde ich ihn schütteln, damit er zur Vernunft kommt ...«
Schniefend reibe ich mir über die Wangen. »Du ... du brauchst dich nicht entschuldigen.« Ich schaffe es sogar, mir ein Lächeln abzuringen, als ich ihn ansehe. »Schließlich kannst du nichts dafür, wie Felix sich verhält.«
Er röchelt leise und räuspert sich. »Allerdings wäre es wahrscheinlich einfacher für ihn, wenn ich ihm ein besseres Vorbild gewesen wäre.«
Auch wenn seine Worte gut gemeint sind, sehe ich das etwas anders. »Nimm's mir nicht übel, Piet, aber ich hatte in dieser Hinsicht gar keine Vorbilder. Und ich weiß auch, dass man andere nicht wie Dreck behandelt – vor allem nicht die Menschen, die einem angeblich wichtig sind.«
»Ja, da hast du recht und eigentlich will ich sein Verhalten auch nicht entschuldigen ... aber vielleicht hilft es dir, ihn besser zu verstehen, wenn ich dir ein wenig dazu erkläre.«
»Sich zu erklären, wäre ebenfalls seine eigene Aufgabe. Leider kommt seit Wochen nur noch Müll raus, wenn er den Mund aufmacht.«
»Wie ich sehe, möchtest du gerade nichts hören – und das ist okay.« Er klopft mir erneut auf den Rücken, was langsam unangenehm wird. »Falls doch, findest du mich in der Küche.«
Ich nicke schweigend und halte die Luft an, bis mein Chef den Raum verlassen hat. Erst dann atme ich tief aus und schließe die Lider.
Kann Piet mir wirklich die Antworten geben, die ich brauche, um Felix besser zu verstehen? Will ich das überhaupt noch, nach allem, was passiert ist? Doch was, wenn ich zu Unrecht wütend auf ihn bin? Vielleicht braucht er tatsächlich meine Hilfe – schließlich hat er auch früher nie darüber gesprochen, wenn es ihm schlecht ging, und trotzdem haben wir immer einen Weg gefunden. Gebe ich vielleicht zu schnell auf?
Plötzlich erinnere ich mich an eine Situation im Wohnheim, als er betrunken und ohne ersichtlichen Grund völlig ausgerastet ist und unsere Wohnung verwüstet hat. Danach hat er sich in seinem Zimmer verschanzt und weiter getrunken. Dennoch bin ich hartnäckig geblieben und wollte ihm helfen – trotz der Angst, die ich vor ihm hatte. Es ist das erste Mal gewesen, dass er sich verletzlich gezeigt und in meinen Armen geweint hat. Doch auch damals hat er nichts erzählt. Erst nachdem Felix eingeschlafen ist und ich seinen Vater erreicht hatte, habe ich erfahren, dass es der Todestag von Darcy gewesen ist.
Es wäre also nicht das erste Mal, dass Piet mir helfen kann. Dennoch bleibt die Frage, ob ich das wirklich will. Früher hat Felix zumindest nicht absichtlich in meine wunden Punkte gestochen; jetzt scheint es fast so, als würde er mich mit Vorsatz von sich wegschieben.
Genau dieser Gedanke bringt mich schließlich dazu, aufzustehen und leise in die Küche zu schleichen. Irgendetwas muss doch hinter seinem Verhalten stecken!
Als ich eintrete, steht Piet dort, als hätte er nur auf mich gewartet. Er lächelt mich an und deutet stumm auf einen Stuhl an dem kleinen runden Tisch. Zögernd nehme ich Platz.
Während er in der Küche beschäftigt ist, schaue ich mich um. Seit dem letzten Mal hat sich einiges verändert. Die neuen Vorhänge fallen mir sofort ins Auge, und auch die Möbel sind ein wenig umgestellt. Am auffälligsten ist jedoch das Chaos, das den Raum beherrscht. Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Irritiert betrachte ich das Durcheinander – da bin selbst ich ordentlicher.
»Mit Milch und Zucker?«
»J-ja, bitte.«
Er stellt beides auf den Tisch, gießt dann Wasser in das Unterteil einer silbernen Kanne, schraubt sie zusammen und stellt sie auf den Herd. Als er sich mir gegenübersetzt, überkommt mich plötzlich Nervosität. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, aber zurück kann ich jetzt auch nicht mehr.
»Früher habe ich vor solchen Gesprächen gerne etwas Hochprozentiges getrunken. Leider verträgt sich das nicht gut mit meinen Medikamenten, also muss ich passen. Aber du kannst etwas haben, wenn du willst, Jam?«
Perplex öffne ich den Mund, schließe ihn aber schnell wieder und schüttele den Kopf. »Ähm ... Kaffee reicht, danke.«
»Okay.« Er nickt bedächtig. »Dann muss ich mir nur noch überlegen, wo ich anfange.«
»Vielleicht damit, warum Felix keine Kinder mag, es aber offensichtlich darauf anlegt, eins mit mir zu bekommen.«
Piet hebt eine Augenbraue, doch ich ziehe meine Aussage nicht zurück – nicht einmal teilweise. Wir wissen beide, dass es stimmt. Dennoch werde ich rot.
»Was den ersten Teil angeht ... das liegt vermutlich an mir. Früher habe ich oft darüber gesprochen, wie viel Arbeit Kinder machen. Es ist nicht nur die Verantwortung, die man übernimmt; es ist auch die Zeit, die man opfern muss. Mit der Eröffnung der Bar hatten wir schon alle Hände voll zu tun.« Er macht eine kurze Pause und sieht mich ernst an. »Es ist nicht so, dass ich Felix nicht wollte, aber als Darcy schwanger wurde, war das ungeplant und wir hatten ohnehin kaum Zeit. Neben der Bar blieben Hobbys und Zweisamkeit praktisch auf der Strecke. Gerade als Felix klein war, haben wir uns ständig über Prioritäten gestritten, und er hat das oft genug mitbekommen.« Piet schüttelt den Kopf und fährt fort: »Ich war jung, egoistisch und zu sehr auf meine eigenen Bedürfnisse fokussiert.«
Geschockt von seinen Worten sage ich nichts dazu, kann jedoch Felix' Einstellung und viele seiner Kommentare jetzt zumindest ein Stück weit nachvollziehen. Gleichzeitig tauchen immer mehr Fragezeichen auf.
»Aber ...« Ich schüttle den Kopf. »Warum ...?« Es fällt mir schwer, diese Info richtig zu verarbeiten und gleichzeitig nachzudenken.
»Warum er es darauf angelegt hat?« Ich nicke mechanisch, und er seufzt. »Das ist doch offensichtlich, Jam. Er liebt dich.«
Plötzlich gibt die Kanne auf dem Herd seltsame Geräusche von sich, weshalb Piet aufsteht und sich darum kümmert – was mir ganz gelegen kommt. Wie im Zeitraffer laufen all meine Begegnungen der letzten Wochen mit Felix vor meinem inneren Auge ab. Jede Zärtlichkeit und jeder Streit. Letzteres hatten wir deutlich mehr.
Mein Chef kommt mit der Kanne an den Tisch, gießt uns beiden eine Tasse des schwarzen Gebräus ein und stellt sie zurück. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee breitet sich im Raum aus. Normalerweise mag ich diesen Geruch, doch heute wird mir davon übel.
Bevor Piet sich wieder setzen kann, schüttele ich energisch den Kopf. »Das tut er nicht ...« Ich beiße mir auf die Lippe, während Felix' Stimme in meinem Ohr widerhallt und mir diese Worte zuflüstert. »Vielleicht war es einmal so, aber inzwischen ...«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass er Ivy nicht liebt«, unterbricht Piet mich und hustet mehrmals, bevor er laut seufzt, als er sich wieder gefangen hat.
»Und warum bleibt er dann bei ihr?«
»Diese Antwort kann nur er dir geben.« Sein Blick bohrt sich in meinen und jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Aber ich vermute einfach mal, dass er etwas oder jemanden beschützen will ...«
»Das macht absolut keinen Sinn! Ich habe ihm doch angeboten, ihm zu helfen.«
»Hör zu, Jam. Mein Sohn hat viele meiner Macken übernommen und ist mir damit oft ähnlicher, als ich es mir wünschen würde. Dazu gehört auch, keine Schwäche zu zeigen.«
»Ach, wirklich? Das wäre mir nie aufgefallen ...«
Während Piet lacht, bricht er erneut in Husten aus und greift nach einem Glas Wasser, das er hastig leert. Danach wischt er sich über den Bart, doch bei jedem Atemzug höre ich ihn röcheln.
»Felix hat definitiv ein Problem und ich denke, du bist nach wie vor die Einzige, die er an sich heranlässt – so wie in den letzten Jahren auch.«
Zögerlich senke ich meinen Blick auf die schwarze Plörre in meiner Tasse. »Und wenn ich das nicht mehr will?«
Er seufzt wieder; es klingt nach Enttäuschung und Resignation. »Dann ist das dein gutes Recht – auch wenn ich es mir natürlich anders wünschen würde.«
»Und was ist mit dir?«
»Von mir lässt Felix sich schon lange nicht mehr helfen.«
»Das meinte ich nicht.« Ich atme tief ein. »Was hast du?« Langsam deute ich auf das Taschentuch, das er sich beim Husten immer wieder vor den Mund hält.
»Darum mach dir mal keine Gedanken.«
»Tu' ich aber. Denn abgesehen davon, dass du mein Chef bist und mein Job von dir abhängt, mag ich dich.«
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Ich mag dich auch, Jam. Aber die Probleme eines alten Mannes sollten wirklich nicht deine Sorgen sein.«
Was er nicht sagt: Immerhin arbeite ich bereits an einem Teil seiner Probleme. Schnaubend schließe ich die Augen. Wie bekomme ich ihn dazu, mit mir zu reden? Plötzlich kommt mir eine Idee, denn wenn er und sein Sohn sich wirklich so ähnlich sind, klappt es vielleicht auch bei ihm. »Wie wärs mit einem Deal, Piet?«
Skeptisch schürzt er die Lippen und lehnt sich zurück. »Dann lass mal hören.«
»Wenn ich es schaffe, wirklich alles fürs Finanzamt bis Freitag vorzubereiten, bist du ehrlich zu mir – keine Geheimnisse mehr über deinen Gesundheitszustand.«
Eine Weile bleibt er still und sieht aus, als würde er darüber nachdenken, doch schließlich nickt er zustimmend. »Na dann ... versuch dein Glück und mach dich mal wieder an die Arbeit.«
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