~19~

»Wow! Du hast während der ganzen Schicht heller gestrahlt als die Sonne, Pchela.«

Lachend strecke ich Sascha die Zunge raus und nehme meine Schürze ab. »Du kannst mich mal, du Spinner.«

»Ähm, nein. ›Das‹ überlasse ich lieber jemand anderem.« Sofort werde ich rot, und die Mädels fangen an zu lachen, während der Russe mir einen Arm um die Schulter legt. »Ich freue mich wirklich, dass du glücklich bist«, flüstert er in mein Ohr und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe.

»Bin ich«, antworte ich leise und kann nicht anders, als zu lächeln. Trotz der ganzen ungeplanten Vorfälle gestern ist der Tag mit David schön gewesen.

Wir verlassen den Abstellraum und schalten die Lichter in der Bar aus. Plötzlich hüpft Mandy an uns vorbei und grinst unseren Kollegen vielsagend an. »Jetzt müssen wir ja nur noch einen unter die Haube kriegen!«

Sascha schaut sofort grimmig und hält ihr den Mittelfinger entgegen, während wir die Treppenstufen hochsteigen. »Ich brauche keine Beziehung. Auf euch verrückte Hühner aufzupassen ist schon genug Arbeit.«

»Hast du das gehört, Jam? Sascha sieht uns als Belastung!«

Grinsend mache ich eine wegwerfende Handbewegung und halte Kim, die nach mir kommt, die Tür auf. »Quatsch. Das ist Saschas Art, seine Zuneigung auszudrücken.«

»Du meinst abgesehen von dem ganzen Geknuddel?«, murmelt die Japanerin, die damit noch ein wenig überfordert ist, woraufhin wir alle wieder lachen. Vor allem, weil Anna mit jeder unserer komischen Arten ohne Probleme klarkommt; sie scheint sich überall ziemlich schnell integrieren zu können.

Schmunzelnd betrachte ich meine Kollegen, die nun alle draußen sind und sich immer noch gegenseitig foppen. Es macht Spaß, ihnen dabei zuzusehen – und noch mehr, ein Teil davon zu sein.

»Jam?« Erschrocken zucke ich zusammen und schaue die Treppe hinauf, wo Piet steht und mich gerufen hat. Da ich ihn während der ganzen Schicht nicht gesehen habe, wusste ich gar nicht, dass er überhaupt da ist. »Hast du kurz einen Moment für mich?«

»Ähm, klar. Soll ich hochkommen?« Ohne es zu wollen, überkommt mich ein kaltes Gefühl. Oft, wenn Piet mit mir sprechen möchte, geht es um Felix. Im Grunde hatte ich nie etwas dagegen, aber jetzt ...

»Ja, bitte. Dauert auch nicht lang.«

Ich nicke zur Bestätigung und lehne mich ein Stück aus der Tür. »Ich muss noch kurz zu Piet. Bis Montag!«, rufe ich und nachdem meine Freunde mir gewunken haben, steige ich die Stufen rauf und schiebe die angelehnte Tür auf. Wie immer schlägt mir der Geruch von kaltem Rauch entgegen, obwohl Piet selbst Nichtraucher ist – zumindest seit dem Tod seiner Frau. Dennoch sind Wände Zeugen vergangener Zeiten.

»Piet?«, rufe ich, weil es seltsam wäre, einfach durchzulaufen, auch wenn ich hier schon oft genug gewesen bin – selbst bevor ich für ihn gearbeitet habe.

»Bin im Büro!«, tönt es von hinten, also mache ich mich auf den Weg dorthin. Mein Chef sitzt an seinem Schreibtisch und scheint in die Blätter vor ihm vertieft zu sein, weshalb ich stumm auf dem Stuhl gegenüber Platz nehme. Sofort erinnere ich mich an das letzte Mal, als ich hier gesessen habe. Obwohl das noch nicht lange her ist, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor – und gleichzeitig höre ich Felix' Stimme in meinem Ohr, wie er lebhaft mit seinem Vater diskutiert.

»Alles okay, Jam?« Erschrocken blicke ich auf. Piet scheint mich aufmerksam zu beobachten.

»Ja, sicher«, bringe ich hervor und zwinge mich zu einem Lächeln. Seit dem Schwangerschaftsverdacht ist mein Verhältnis zu ihm ein wenig angespannt – zumindest kommt es mir so vor.

Ich warte gespannt auf die Frage, die er mir fast immer stellt, wenn er mich zu sich ruft. Doch diesmal räuspert er sich, hustet kurz und lehnt sich dann zurück. Für einen Moment sieht es so aus, als würde ihn etwas schmerzen, aber dann wird sein Gesicht wieder normal. Plötzlich fällt mir auf, wie schmal er geworden ist. Liegt das am gedämpften Licht oder ist es wirklich so? Wie kann er in diesem Raum überhaupt arbeiten?

Er tippt ein paar Mal auf das Papier vor sich. »Du hast studiert, richtig?«

Überrascht hebe ich eine Augenbraue und schaue auf das Blatt. Meine Personalakte liegt vor ihm. »Ja ...«, antworte ich und sehe ihn nicken.

»Dasselbe wie Felix, oder?«

»Genau.«

»Okay.« Er atmet tief ein und schließt die Augen. Wieder sieht es so aus, als hätte er Schmerzen, die er zu verbergen versucht, aber ich frage nicht nach. Wenn ich das tue, lenkt er sowieso ab.

»Ich bräuchte mal deine Hilfe.« Das ist neu für mich. Trotzdem nicke ich sofort und beobachte, wie er seine Hände vor dem Bauch faltet.

»Im Grunde geht es darum: Zahlen waren nie mein Ding, und seit ... seit dem Tod meiner Frau habe ich das ehrlich gesagt ein bisschen schleifen lassen. Jetzt will das Finanzamt irgendwelche Nachweise von mir und ... na ja, du würdest mir echt einen großen Gefallen tun, wenn du dich um das Ganze kümmern könntest.« Er hebt eine Hand und dreht seinen Finger in der Luft; damit wird mir klar, was er mit »das Ganze« meint. In diesem Raum liegen so viele Stapel an Papieren; zuerst müsste ich herausfinden, was davon überhaupt zur Bar gehört.

»Du hast aber einen Steuerberater, oder?«

»Ja, klar. Deshalb brauche ich ja deine Hilfe. Irgendetwas, was er berechnet hat, passt dem Finanzamt scheinbar nicht, und ich habe keine Ahnung, was deren Problem ist ...«

»Okay ...?« Tausende Fragen schießen mir durch den Kopf, vor allem die, warum Piet nicht einfach seinen Sohn fragt. »Haben sie einen bestimmten Zeitraum angegeben? Bis wann ist denn die Abgabefrist?«

Er zieht einen Zettel aus einem der Stapel und reicht ihn mir. Das fettgedruckte Datum springt mir sofort ins Auge. Als ich einen Blick auf den Kalender werfe, wird mir klar, dass es sich um Ende nächster Woche handelt.

»Fuck ...«, entfährt es mir, was Piet zum Schnauben bringt. Ich überfliege die restlichen Informationen und seufze erneut. Da das Amt Nachweise und Buchungen der letzten drei Jahre beanstandet, kommt das hier einer Betriebsprüfung gleich. Was hat Piets Steuerberater da nur angestellt?

»Und? Schaffst du das?«

Ich schaue auf und scanne die Stapel an Papieren im Raum, während ich mir über das Gesicht reibe. Vermutlich hat er Felix nicht gefragt, weil dieser sofort einen Streit anfangen würde – ganz im Sinne der »Ordnung« seines Vaters.

Ein Gähnen entweicht mir. »Ich werde es versuchen, kann aber nichts versprechen. Ist es okay, wenn ich morgen Vormittag vorbeikomme, um mir einen groben Überblick zu verschaffen? Jetzt bin ich ehrlich gesagt zu müde.«

»Ja, natürlich. Schlaf dich erstmal aus und danke, Jam.«

»Keine Ursache.«

~~~~~

Gute fünf Stunden später steige ich aus dem Bus und lasse für einen kurzen Moment die warmen Sonnenstrahlen auf mich wirken, bevor ich mich zur Bar aufmache.

Als ich Piet gestern angeboten habe, vorbeizukommen, ist mir entfallen, dass Sascha David und mich heute zum Mittagessen eingeladen hat. Wobei ›herbeordert‹ besser passt, aber ich will mal nicht so sein. Genau deshalb habe ich beiden auch nach dem Aufstehen geschrieben, dass ich mich etwas verspäten werde. Sascha hat mir sofort angeboten, mich abzuholen, aber ich wollte nicht, dass er mich an der Bar einsammelt. In diesem Fall müsste ich ihm erklären, was ich dort mache, und ich bin mir nicht sicher, ob Piet damit einverstanden wäre. Dennoch fühle ich mich unwohl dabei, einfach nichts zu sagen. Vor allem möchte ich nicht, dass sich beide unnötig Sorgen machen. Aber zu lügen kommt für mich auch nicht infrage.

Seufzend überquere ich den Parkplatz und ziehe an der Tür, die mit einem leisen Knacken nachgibt. Für einen Moment bin ich überrascht, kann aber nicht genau sagen, warum, steige die Stufen nach oben und komme schließlich vor der Haustür an. Dort bemerke ich die beiden lauten Stimmen, die durch das Holz dringen.

Eine gehört eindeutig zu Piet, die andere ist von ... Felix. Wie festgefroren stehe ich auf dem Absatz und weiß nicht, was ich tun soll. Da Piet mich erwartet, kann ich schlecht einfach wieder gehen. Trotzdem wäre es mir lieber, Felix nicht zu begegnen – zwischen uns gibt es einfach viel zu viele ungeklärte Dinge. Außerdem sind wir in der Vergangenheit nicht gerade freundlich auseinandergegangen.

Fuck! Jetzt weiß ich auch, warum ich eben irritiert gewesen bin! Warum sollte Piet die Bartür am Sonntagvormittag aufsperren?

In dem Moment, als ich mich umdrehen will und beschließe, unten zu warten, bis Felix gegangen ist, öffnet sich plötzlich die Tür.

»Das kannst du nicht machen! Mum hat gesagt, dass ich ihn bekomme, wenn ich so weit bin!«

»Ganz genau«, dröhnt es von weiter hinten. »Wenn du so weit bist! Davon bist du allerdings noch ganz weit entfernt!«

Weiterhin wie versteinert stehe ich wenige Meter vor der Tür, als Felix sie krachend ins Schloss fallen lässt. Dann schaut er auf und sieht genauso geschockt aus, wie ich mich fühle.

»Hi«, quieke ich unnötigerweise und viel zu hoch – mein Gehirn scheint auf Notstrom umgeschaltet zu haben.

»Jamie?!«

Ich kann nicht genau sagen, warum, aber genau jetzt fällt mir auf, dass David mich die letzten Male immer mit meinem vollen Namen angesprochen hat. Er sagt ihn sanft, ja sogar fast liebevoll, als wäre es ein Kosename. Bei Felix hingegen klingt es ganz anders – eher wie eine Mischung aus Wut und Frustration.

»Was willst du hier?«, schnauzt er mich an und ich zucke zusammen. Mist! Ich will nicht schon wieder wie eine Salzsäule vor ihm stehen. Wieso ist das so?

»Hey!« Er macht zwei Schritte auf mich zu und schnippst mit den Fingern vor meinem Gesicht rum. »Ich hab' mit dir geredet!«

Irgendwie macht mich genau das wütend und weckt meinen Kampfgeist. »Geht dich 'n Scheiß an!«

Felix verzieht die Lippen zu einem schmalen Strich, sieht an mir runter und bleibt einen Moment lang an meinem Bauch hängen. Mein Gehirn – scheinbar immer noch auf Standby – lässt mich mein T-Shirt anheben und auf die freiliegende Haut deuten. »Wie du siehst, habe ich nicht gelogen. Du kannst also beruhigt sein.« Ich lasse den Stoff wieder fallen und atme schwer aus. »Also sei so gut und lass mich durch, ja?«

Statt zur Seite zu treten, schließt er die Augen und fasst sich an die Nasenwurzel. »Beruhigt sein ...«, murmelt er und schnaubt ebenfalls, was eher wie ein Knurren klingt. Als er die Augen wieder öffnet, sieht es aus, als wolle er mich mit seinem Blick erdolchen. »Dir ist nie in den Sinn gekommen, dass ein Kind mit dir mich nicht gestört hätte, oder?«

In mir spannt sich alles an; seine Worte lösen ein Wirrwarr von Emotionen aus. Zuerst Schmerz und Scham – ich habe wirklich nie darüber nachgedacht und so verletzt, wie er klingt, tut es mir ehrlich leid. Dann kommt der Schock. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das tatsächlich gewollt hätte! Bei allem, was er über Kinder gesagt hat, macht das einfach keinen Sinn!

Felix' Blick wird milder; er streckt seine Finger aus und berührt zaghaft meine Wange. Da ich nicht zurückweiche, scheint er das als Einladung zu sehen und legt seine ganze Hand auf meine Haut. Mit dem Daumen streicht er darüber. Wie versteinert stehe ich da und lasse es geschehen, obwohl in mir alles schreit und das Gefühl aufkommt, etwas falsch zu machen. Angst und Wut vermischen sich in mir: Belügt er mich etwa schon wieder oder meint er seine Worte ernst?

»Ein Baby hätte uns miteinander verbunden, Jam.«

Neben all den Gefühlen, die ich bisher gespürt habe, wird mir plötzlich so übel, dass ich seine Hand wegschlage. »Dadurch klingst du keinen Deut besser als Ivy!«

»Was?!«

»Sie hat sich doch schwängern lassen, um dich an sich zu binden. Wolltest du etwa das Gleiche mit mir machen?«

Zunächst sieht er aus, als hätte ich ihn geohrfeigt, doch dann breitet sich ein süffisantes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Fuck! Das kann nicht wahr sein! »Ich hab dir vertraut, Felix!«

Er zuckt nur mit den Schultern. »Tja, manchmal muss man für Naivität eben büßen.«

Bevor ich es verhindern kann, steigen mir Tränen in die Augen. »Du bist so ein Arsch!« Schnell wische ich sie weg, bevor sie wirklich fließen können.

»Jam?« Hinter Felix öffnet sich die Tür und Piet steht im Rahmen. »Felix, was machst du noch hier?«

Der Lockenkopf dreht sich und ich nutze die Gelegenheit, um mich an ihm vorbeizuzwängen. Wenn ich aus all meinen letzten Begegnungen mit ihm etwas gelernt habe, dann ist es das: Reden bringt nichts. Am Ende tut es nur noch mehr weh!

Ohne mich noch einmal umzudrehen, schiebe ich mich auch an Piet vorbei und marschiere ins Bad, wo ich die Tür hinter mir abschließe.

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