~18~

Nachdem wir zwei Straßen weiter sind und David immer noch kein Wort gesagt hat, wird die Stille zwischen uns unerträglich. Zögerlich zupfe ich an seinem T-Shirt, was ihn zwar zum Stehenbleiben bringt, aber nicht dazu, mich anzusehen. Unsicher wechsele ich von einem Bein aufs andere.

»Es tut mir leid ...«, flüstere ich und spüre einen unangenehmen Stich im Körper. Wenn er wegen meines dämlichen Verhaltens sauer auf mich ist, wäre es mir lieber, er würde es einfach sagen.

Stattdessen atmet er tief aus und sieht mit einer hochgezogenen Augenbraue zu mir runter. »Wofür entschuldigst du dich?«

»Ich ... ich hätte nicht auf ihre Provokation eingehen sollen ... das war dumm von mir ...«

Zunächst wirkt er verwirrt, doch dann huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht. »Du hast mich verteidigt, das nehme ich dir bestimmt nicht übel.«

»Aber enttäuscht bist du trotzdem?«

Sein langgezogenes Seufzen lässt meine Muskeln anspannen. Er hat jedes Recht dazu, doch es macht mich trotzdem nervös.

»Bin ich ...«, bestätigt er, »aber nicht deinetwegen.« Sein Blick wird sanfter, was mich noch mehr verwirrt. »Du hast impulsiv gehandelt und das war nach allem, was wir dir angetan haben, längst überfällig.« Er stockt kurz und schüttelt den Kopf, nachdem er sich mit einer Hand durch die Haare gefahren ist. »Ines hingegen benimmt sich wirklich wie ein ›bockiges Kleinkind‹. Seit sie uns beide in meiner Wohnung gesehen hat, habe ich echt Probleme mit ihr, bezüglich der Absprachen für DJ ... und nach dem eben wird es sicher noch schwieriger.«

Verdammt! Ich habe gar nicht daran gedacht, dass sowas passieren könnte. »Es tut mir wirklich leid ...«

Kaum habe ich das gesagt, zieht er mich in seine Arme. »Hör auf, dich zu entschuldigen. Das ist etwas, wofür du nichts kannst. Ich hätte es allerdings ahnen müssen. Außerdem hast du mir vor ein paar Wochen doch noch selbst geraten, mich nicht mit anderen Frauen zu treffen, wenn ich Ines' Reaktion kenne.«

Langsam nicke ich; unser Gespräch im Park ist mir noch gut in Erinnerung. »Nur hätte ich damals nie gedacht, dass ich mal der Auslöser dafür sein könnte ...« Mit einem flüchtigen Lächeln lege ich meine Arme um seinen Rücken und atme seinen Duft ein. Kaum zu glauben, wie gerne ich das tue.

»Nicht?« Er lacht leise und küsst meine Stirn. »Also mir war natürlich da schon klar, dass nur du diejenige bist, die an meine Seite gehört.« Seine Worte klingen so schwülstig, dass ich nicht anders kann, als loszulachen. Auch er stimmt mit ein, was mich erleichtert aufatmen lässt.

Dennoch brauche ich Gewissheit – auch wenn es kindisch sein mag. »Du bist mir also wirklich nicht böse?«

»Nein, wofür sollte ich auch?« Sein Lächeln ist warm und seine Hände gleiten sanft über meine Arme. »Und wenn es dir recht ist, würde ich diesen unschönen Zwischenfall jetzt gern abhaken und unser Date fortsetzen – vorausgesetzt, du möchtest das noch?«

Schnell nicke ich; nichts wünsche ich mir sehnlicher.

»Sehr schön. Es ist nämlich wirklich nicht mehr weit.« Diesmal hält er mir seine Hand hin, die ich ohne zu zögern ergreife.

Wir setzen unseren Weg fort und biegen nach der Straße in eine kleine Gasse ein. Die Reihen der Häuser scheinen uns zunächst von beiden Seiten entgegenzukommen, doch am Ende erreichen wir einen überschaubaren, aber offenen Platz.

Fasziniert beobachte ich das lebhafte Treiben um mich herum: Kinder, die fröhlich Fangen spielen, und die wenigen, aber gut besuchten Verkaufsstände. Ein echter Blickfang ist der beeindruckende Springbrunnen in der Mitte, geschmückt mit kunstvollen Verzierungen. Das Wasser glitzert im Sonnenlicht und zaubert Regenbögen, was einfach atemberaubend aussieht.

»Wow ...«, entfährt es mir, während ich David folge, der uns einen Weg durch die Stände bahnt. »Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas gibt.« Irgendwie kommt mir das alles jedoch bekannt vor.

Er lacht leise. »Wie auch? Seit die Einkaufsmeile gebaut wurde, ist der alte Marktplatz ziemlich vernachlässigt worden. Genauso wie die wenigen Läden, die hier geblieben sind und um ihre Existenz kämpfen.«

Ein Schauer überkommt mich. Obwohl hier viele Menschen sind, scheinen sie nicht gestresst zu sein; es wirkt fast so, als würden sie sich bewusst Zeit für ihre Einkäufe nehmen.

»Dabei sind hier die wahren Schätze verborgen. Dort gibt es zum Beispiel das beste Eis der ganzen Stadt.« Er zeigt auf ein kleines Haus mit einem hölzernen Schild über dem Eingang, auf dem ›Gelato di Nonna‹ steht.

Wir steuern darauf zu und stellen uns ans Ende der Schlange, wo er mich anlächelt. »Immer noch P und A, oder hat sich das inzwischen geändert?«

Verwirrt schaue ich zu ihm auf. »Ähm, was?!«

»Pistazie und After Eight? Das waren doch deine Lieblingseissorten, richtig?«

»Ja.« Ich nicke langsam. »Und ... nein. Es hat sich nichts geändert ... und ich mag kein ...«

»... Hörnchen, ich weiß«, vollendet er meinen Satz.

Schnaubend schürze ich die Lippen. »Dir ist schon klar, dass das ein bisschen unheimlich ist, oder?«

»Was? Dass ich deine Vorlieben kenne?«

Augenblicklich werde ich rot, obwohl mir klar ist, wie er das meint. »Es ist einfach unnormal, wie viel du über mich weißt ...«

»Mhh ...« Nachdenklich reibt er über sein Kinn und ich sehe seine Mundwinkel zucken. »Muss wirklich schlimm sein, wenn jemand Interesse an dir zeigt.« Kaum hat er seinen Satz beendet, kann er sein Grinsen nicht mehr unterdrücken.

»Blödmann ...«, murmele ich und muss zwar schmunzeln, schaue aber trotzdem zu Boden. ›Das‹ ist gar nicht mein Problem – auch wenn es sich immer noch komisch anfühlt. Viel eher wurmt mich der Gedanke, dass er einen Vorteil hat; immerhin kann ich mich an nichts erinnern.

Während wir weiter vorrücken, entdecke ich Kinder, die sich ein Eis teilen. Lächelnd beobachte ich sie. Das eine Kind gestikuliert wild, während das andere stürmisch nickt.

Plötzlich höre ich für einen kurzen Moment eine hohe Stimme in meinem Ohr – sie klingt bekannt und doch so fremd, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Alles in mir beginnt zu kribbeln und beim darauffolgenden Kinderlachen kann ich nicht mehr ausmachen, ob das nur in meinem Kopf passiert oder ob es wirklich da ist.

»Hier.«

Verwundert schaue ich auf und bemerke nur am Rande, dass David mir einen Eisbecher hinhält. Wie in Trance nehme ich ihn entgegen und bin so durcheinander, dass ich schweigend zusehe, wie er bezahlt. Erst als er sich seinen eigenen Becher schnappt und uns zu einer kleinen Bank vor dem Springbrunnen führt, komme ich wieder im Hier und Jetzt an. Nachdem wir Platz genommen haben, atme ich tief ein und schließe die Augen. Was war das gerade? Mein Herz klopft wie verrückt, obwohl ich kaum ein Wort verstanden habe.

»Du siehst nicht gerade zufrieden aus. Möchtest du doch etwas anderes?«

Während ich meine Augen wieder öffne, gleitet mein Blick von meinem Becher zu Davids Gesicht und zurück. »Nein. Ich ...« Ich räuspere mich, da meine Stimme belegt klingt und hebe meinen Becher leicht an. »Ich mag das Eis wirklich.« Doch er scheint mir nicht zu glauben. Sein intensiver Blick lässt mich nervös werden.

Um ihm zu zeigen, dass es stimmt, stecke ich mir kurzerhand einen großen Löffel Eis in den Mund – und stocke. Die Geschmäcker von frischer Minze, herber Schokolade und gerösteter Nuss fluten meine Zunge und lassen mich nicht nur irgendwas hören, sondern plötzlich auch sehen.

Es ist fast so, als säße David gleich zweimal neben mir: der Große, der mich weiterhin skeptisch betrachtet, und der kleine Sechsjährige, der mir mit einem breiten Grinsen seinen vollen Löffel vor die Nase hält und darauf wartet, dass ich sein Eis probiere. Perplex blinzele ich mehrmals und strecke langsam meinen Finger aus; sofort verschwindet die Miniaturversion.

»Wir sind schon mal hier gewesen«, murmele ich leise. David presst die Lippen aufeinander, nickt aber zustimmend. Einem plötzlichen Impuls folgend stelle ich das Eis zur Seite, stehe auf und scanne erneut meine Umgebung ab. Kein Wunder, dass mir dieser Ort irgendwie bekannt vorgekommen ist.

Als ich mich umdrehe, entdecke ich den kleinen David erneut. Er balanciert mutig auf dem Rand des Brunnens. In meinem Kopf ertönt meine eigene kindliche Stimme, die ihn lachend herausfordert, einen Handstand zu machen. Als er es versucht, strauchelt und ins Wasser plumpst, bin ich für einen kurzen Moment so erschrocken, dass ich beide Hände auf den Rand lege und mich leicht darüber lehne, um nach ihm zu sehen. Natürlich ist der Brunnen leer.

Wenige Sekunden später spüre ich etwas an meinem Arm. David, diesmal der Erwachsene, steht neben mir und sieht mich eindringlich an. »Ist alles okay mit dir?«

Langsam nicke ich und weiß nicht recht, wohin mit mir. »Das ...« Ich schaue an ihm vorbei zum Brunnen. »Wie ...?« Verdammt, was will ich eigentlich sagen? Ich bin verwirrt, aber gleichzeitig fühle ich mich wie berauscht – als hätte ich Alkohol getrunken. Ja, genau so fühlt es sich an. Ich blicke zurück in sein Gesicht. »Wie hast du das gemacht?«

»Was meinst du?«

»Diese Bilder ...?« Meine Hände beginnen zu zittern. »Das waren doch Erinnerungen, oder?«

An seinem irritierten Blick merke ich, wie verrückt ich klingen muss und werde rot. Doch dann lächelt er mich an – auch wenn es ein wenig schief wirkt. »Du hast dich an etwas erinnert?«

»Ich hab's förmlich gesehen.« Meine Stimme überschlägt sich fast, während ich zum Wasser deute. »Deinen Handstand, der voll in die Hose gegangen ist ...« Wow, ich klinge wirklich so, als wäre ich nicht mehr ganz bei Sinnen.

»Hey, der war richtig gut! Ich habe nur das Gleichgewicht verloren, weil du mich abgelenkt hast.« Er klingt ein klein wenig beleidigt, lacht aber leise und blickt zum Brunnen.

Stürmisch umfasse ich seine Hände und bringe ihn so dazu, mich wieder anzuschauen. In seinem Blick spiegelt sich etwas wider; es scheint fast so, als hätte er Angst vor dem, was ich jetzt sagen oder tun könnte. Bevor ich den Mund öffnen kann, seufzt er. »Es tut mir leid, Jamie. Wenn ich gewusst hätte ...«

»Wofür entschuldigst du dich?«, frage ich diesmal ihn. »Das war unglaublich!« Vor allem zu wissen, dass wir wirklich befreundet gewesen sind. Es ist nicht so, dass ich ihm nicht geglaubt habe, aber ohne Gewissheit war die Vorstellung einfach schwer zu fassen – egal wie sehr ich es gehofft hatte.

Trotzdem seufzt er erneut und legt seine Hand behutsam an meine Wange. »Falls dir schlecht wird oder du dich unwohl fühlst, sag mir bitte Bescheid, okay?«

Jetzt bin ich doch wieder verwirrt. »Warum sollte mir schlecht werden?« Sein sanftes Lächeln verunsichert mich zusätzlich.

»Weißt du, manchmal kann es echt heftig sein, wenn Erinnerungen, die wir tief im Unterbewusstsein vergraben haben, plötzlich wieder hochkommen.«

»Auch wenn sie gar nicht schlimm sind?«

Er nickt. »Auch dann. Sobald man diesen Prozess in Gang gesetzt hat, kann es immer mal wieder passieren, dass Fetzen auftauchen – und die sind nicht unbedingt immer positiv ... vor allem bei uns nicht. Und deswegen tut es mir leid. Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieser Ort sofort etwas in dir wachrüttelt.«

»Genau genommen war es das Eis ...« Ich drehe mich leicht zur Bank um, wodurch er seine Hand sinken lässt und deute auf unsere beiden Becher, die dort stehen und langsam vor sich hin schmelzen. »Außerdem kann ich mich an alles erinnern, was unsere schlechten Momente betrifft.«

»Bist du sicher?«

»Selbst wenn nicht ...« Ich blicke zurück in sein Gesicht und lächle. »Ab jetzt haben wir die Möglichkeit, all das zu übermalen.«

Er lächelt ebenfalls, auch wenn es nach wie vor etwas gehemmt wirkt. Dann nickt er jedoch langsam und küsst mich so sanft, dass ich mir sicher bin, dass wir es gemeinsam schaffen können.

Woher ich plötzlich diese Zuversicht nehme, weiß ich selbst nicht genau. Immerhin bin ich es, die bisher Angst vor einer Beziehung gehabt hat. Vielleicht sind es die Erinnerungen an den kleinen David, die mich so fühlen lassen – so befreit, als könnte mich niemand aufhalten. Die Vorstellung, dass es eine Zeit in meiner Kindheit gegeben hat, in der ich derart glücklich gewesen bin, ist einfach unbeschreiblich. Und auch wenn ich mich mit meinen Dämonen auseinandersetzen muss, um noch mehr von diesem Glück zu spüren, werde ich es tun.

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