~17~

»Hi!« Seit ich David entdeckt habe, tanzen tausende Ameisen in meinem Bauch. Jetzt, wo er mich anlächelt, während ich die letzten Schritte auf ihn zugehe, wird das Gewusel noch chaotischer.

»Hey.« Sofort zieht er mich an sich und beugt sich zu mir runter. Innerhalb von Sekunden berühren sich unsere Lippen und die Kolonie in mir verwandelt sich in einen tobenden Mob, der mir kurzzeitig die Luft zum Atmen raubt. Fast zitternd greife ich nach seinem T-Shirt, um meinen Händen etwas zu tun zu geben. Ich fühle mich berauscht – so sehr, vermutlich könnte ich Bäume ausreißen und dabei habe ich dieses Sprichwort immer für dämlich gehalten.

Langsam löst er sich wieder von mir und strahlt über das ganze Gesicht. Besonders seine Augen leuchten so intensiv, als hätten sie das Sonnenlicht aufgesogen.

»Wollen wir?« Er greift nach meiner Hand, die ich vor Überforderung wieder habe sinken lassen. Sanft schiebt er seine Finger zwischen meine und deutet zum Parkausgang.

Ich nicke und lasse mich von ihm mitziehen. »Wo gehts denn eigentlich hin?«

Ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist ein Geheimnis. Du willst dir die Überraschung beim ›ersten Date‹ doch nicht selbst verderben.« Sein Zwinkern lässt nicht lange auf sich warten.

Ich rolle mit den Augen und schüttele schmunzelnd den Kopf. Wir wissen beide, dass es nicht unser ›erstes Date‹ ist, auch wenn ich ewig gebraucht habe, um mir das einzugestehen.

Kaum verlassen wir den Park, steuert er die Bushaltestelle stadteinwärts an, was mich sowohl verwirrt als auch nervös macht. »Shoppen gehen steht aber nicht auf dem Plan, oder?« Der Versuch, meine Frage scherzhaft klingen zu lassen, misslingt gründlich. Meine viel zu hohe Stimme verrät mich sofort, denn allein die Vorstellung, an einem Samstagnachmittag die Einkaufsmeile der Innenstadt zu betreten, sorgt für ungewollte Schweißausbrüche.

Davids Blick, der einen Moment lang an den Fahrplänen liegen geblieben ist, gleitet zu mir. »Nein.« Er drückt sanft meine Hand. »Dir das anzutun, wäre ziemlich mies.«

Sofort löst sich die Anspannung, die sich in den letzten Sekunden aufgebaut hat, wie von selbst. Dankbar nicke ich und bin gleichzeitig überrascht. Wie hat er sich bei allem, worüber wir gesprochen haben, ausgerechnet das gemerkt?

»In die Richtung müssen wir allerdings trotzdem ... oder soll ich mir etwas anderes überlegen?«

Schnell schüttele ich den Kopf und sehe, wie er erleichtert aufatmet. Was auch immer er geplant hat, ich sollte ihm vertrauen. Alles andere wäre unfair – egal, was diese kleine Stimme in mir sagt, die versucht, mir einzureden, dass das hier nicht die Realität ist. Aber es ist real. Ich muss nur lernen, meine Angst zum Schweigen zu bringen.

Wenig später sitzen wir im Bus, der gemächlich vor sich hin tuckert. David hält weiterhin meine Hand und streicht zwischendurch mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Eine wohlige Wärme durchflutet meinen Körper und jede noch so kleine, weitere Berührung lässt mein Herz schneller schlagen. Im Gegensatz dazu herrscht zwischen uns eine beunruhigende Stille. Dabei wäre jetzt der perfekte Moment für ein Gespräch. Leider finde ich in meinem Kopf nicht ein belangloses Thema, um das Eis zu brechen. Scheiße! Schlussendlich schließe ich die Augen und bevor ich es verhindern kann, entweicht mir ein frustriertes Schnauben.

»Alles okay, Jamie?«

Schlagartig öffne ich die Lider und blicke auf. In Davids Blick spiegelt sich die Unsicherheit wider, die ich fühle. Mist!

»Ja! Ja, natürlich!« Peinlich berührt beiße ich mir auf die Lippe.

»Du wirkst ein bisschen ...«

»Ich bin nur müde«, unterbreche ich ihn hastig und werde rot. Es stimmt zwar, aber trotzdem fühle ich mich seltsam. Er soll bloß nicht denken, dass ich keine Zeit mit ihm verbringen will!

»Ja, genau das wollte ich sagen.« Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. »Sascha hat mich vorhin angerufen ...« Den Rest des Satzes lässt er offen, doch ich weiß genau, was er andeutet.

»Blöde Petze ...«, entgleitet mir und David bricht in Lachen aus, während ich spüre, wie mir noch mehr Röte ins Gesicht schießt.

»Sei nicht so streng mit ihm. Er freut sich einfach für uns.«

»Nee.« Ich puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie fällt sofort wieder zurück. »Das war nur eine Retourkutsche dafür, dass er jetzt samstagsmorgens mit uns frühstücken muss.«

Mit einer sanften Geste schiebt David die Strähne hinter mein Ohr. »Vielleicht auch das ... aber es war trotzdem schön zu hören, wie sehr du dich auf unser Date freust.«

Bevor ich einen weiteren Fauxpas leiste, beschließe ich, den Kurs zu wechseln. »Ach, du findest es also lustig, wenn die Mädels mich stundenlang über uns ausfragen und ich deswegen übermüdet bin?«

Wieder lacht er, diesmal leise. »Ja, schon ein bisschen.« Dann legt er seine Finger unter mein Kinn und hebt es an. »Aber ich hätte das Wort ›spannend‹ gewählt, denn ich möchte einfach jede Seite von dir kennenlernen.« Mein Herz schlägt plötzlich doppelt so schnell. So viel dazu, mit einer anderen Strategie Erfolg zu haben – langsam habe ich das Gefühl, David liest mich wie ein offenes Buch. Doch bevor ich antworten kann, wird über den Lautsprecher die nächste Haltestelle angesagt und er schaut auf.

»Hier müssen wir raus.«

Ich nicke und folge ihm schweigend zu den Türen, obwohl ich eigentlich keine Lust habe, hier auszusteigen. Der ›Hauptbahnhof‹ liegt nicht nur direkt in der Nähe der Innenstadt, auch mein ehemaliges Wohnviertel ist nicht weit entfernt. Die Erinnerungen drängen sich fast gewaltsam in mein Gedächtnis.

»Warum sind wir eigentlich mit dem Bus gefahren?«, frage ich, um mich abzulenken und senke den Kopf. Je weniger ich sehe, desto besser. Doch dann wird mir bewusst, wie ungeschickt meine Frage gewesen ist, und ich würde mich am liebsten selbst ohrfeigen. »Ähm ... also nicht, dass du denkst, ich möchte unbedingt mit dem Auto fahren ... es ist nur ... also ...«

Sein Lachen unterbricht meinen Satz und bringt mich zum Schweigen. »Mein Auto ist in der Werkstatt.« Er legt seinen Arm um meine Schulter und führt mich behutsam durch die Menschenmenge. »Außerdem möchte ich mich nicht auf den Verkehr konzentrieren müssen und jeden Moment mit dir genießen.«

»Schleimer«, murmele ich und puste meine Wangen auf.

»Wieder überfordert?«, fragt er grinsend zurück, was mich dazu bringt, den Kopf zu heben und ihm die Zunge rauszustrecken. Die Quittung lässt nicht lange auf sich warten: Er bleibt kurz stehen und küsst mich mitten im Gewimmel der Passanten, als wäre es das Normalste der Welt. Danach nimmt er wieder meine Hand und zieht mich mit sich.

Ich bin allerdings verwirrter als zuvor, während meine Wangen nur so glühen. Stört es David wirklich nicht? Und warum habe ich damit ein Problem? Vor nicht allzu langer Zeit hat es mich überhaupt nicht gekümmert, mit Felix vor versammelter Mannschaft in der Bar rumzuknutschen. Nervös beiße ich erneut auf meine Lippe. Mist! Warum denke ich ausgerechnet jetzt an Felix?! Ich will die beiden auf keinen Fall vergleichen!

Wir biegen in eine ruhige Seitengasse ein, die parallel zur Einkaufsmeile verläuft. Hier ist es viel weniger voll und ich versuche krampfhaft, meine vorherigen Gedanken beiseite zu schieben. Stattdessen lasse ich meinen Blick über die Häuser schweifen, von denen viele genauso aussehen wie früher. Obwohl ich als Kind nicht oft in der Stadt gewesen bin, haben mich die Fassaden der Altbauhäuser schon immer fasziniert. Leider weckt der Anblick auch wieder die unangenehmen Erinnerungen.

»Du siehst total abwesend aus, Jamie. Ist wirklich alles okay?«

Ich zucke zusammen, zwinge mich zu einem Lächeln und versuche, mich auf den Moment zu konzentrieren. »Ja ... und entschuldige.«

»Du brauchst dich nicht entschuldigen. Mir hätte klar sein müssen, dass du nicht gern hierher zurückkommst.«

»Ach was ...« Mit einer wegwerfenden Handbewegung versuche ich, auch diese negativen Gedanken abzuschütteln. »So haben wir die Chance, alte Erinnerungen mit neuen zu übermalen. Also verrätst du mir jetzt endlich, wo wir hinwollen?«

Ein kleines Schmunzeln huscht über sein Gesicht. »Nein. Aber es ist nicht mehr weit.«

Verwundert hebe ich eine Augenbraue. »Also doch shoppen?« Diesmal klingt meine Frage tatsächlich harmlos.

»Nein. Besser.«

»Puh ... da ich Shoppen nicht gerade als spaßig empfinde, ist so ziemlich alles ›besser‹.«

»Na, dann bist du aber leicht zu befriedigen.«

Das hat er nicht wirklich gesagt, oder? Für einen kurzen Moment bleibt mir der Mund offen stehen, während sich sein Schmunzeln in ein Lachen verwandelt. Heute scheint er besonders viel Freude daran zu haben, mich aufzuziehen – und obwohl es mich stören sollte, tut es das nicht.

Plötzlich bleibt David abrupt stehen und ich stolpere fast über meine eigenen Füße. Als ich mich wieder fange und nach vorne schaue, entdecke ich den Grund für sein Anhalten: Auch ›sie‹ scheint in ihrer Bewegung festgefroren zu sein. Ihre Augen bewegen sich jedoch schnell und bleiben geweitet an unseren Händen hängen.

Während ich den Drang verspüre, David loszulassen, scheint er das Gegenteil zu wollen, denn sein Griff wird fester.

Ines hebt ihren Blick und sieht mich mit einer Mischung aus Verachtung und hochgezogener Augenbraue an. »Du bist wirklich mit ihm zusammen? Nach allem, was er dir angetan hat? Hast du denn gar keine Würde?«

Bevor auch nur ein Laut meine Lippen verlassen kann, schnaubt David neben mir, was eher wie ein wütendes Knurren klingt. »Sag mal, gehts noch? Was fällt dir ein, so mit Jamie zu reden?«

»Was mir einfällt?« Sie zeigt auf sich selbst und sieht ihn ebenso angewidert an wie mich. »Ich bin nicht diejenige, die sie jahrelang geschlagen hat. Dass sie sich überhaupt mit dir abgibt, ist mir schon ein Rätsel, aber das ...« Sie deutet auf unsere Hände und ich bemerke, wie David leicht zittert. Auch seine Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Ihn so zu sehen, tut unglaublich weh. Mein Herz krampft und aus der früheren Angst vor Ines wird Abscheu. Es ist normal für mich, dass sie mich so behandelt, aber mit David kann sie das nur machen, weil er sich das für DJ gefallen lässt. Ohne nachzudenken, lasse ich ihn doch los und gehe einige Schritte auf sie zu.

»Was weißt du schon von Würde? David ist inzwischen ein herzensguter Mensch, der andere nicht mehr wie ein Stück Scheiße behandelt und bereut, was er getan hat. Das kann man von dir offensichtlich nicht behaupten.«

Im ersten Moment scheint sie sprachlos zu sein; dann klatscht sie plötzlich in die Hände und der Ausdruck in ihrem Gesicht könnte nicht abfälliger sein. »Wow, Jamie. Da kamen ja ganze Worte raus. Ich bin beeindruckt.«

»Hör auf damit, Ines!«

»Von dir lasse ich mir sicher nicht den Mund verbieten! Immerhin bist du derjenige, der mich wie ein Spielzeug benutzt und dann fallen gelassen hat.« Plötzlich wird hinter ihrer Maske der Schmerz sichtbar. Sie leidet wirklich darunter, dass David sie nicht so wollte wie sie ihn und trotzdem habe ich nur wenig Mitleid mit ihr. Schon allein, weil sie sich seit früher scheinbar nicht geändert hat.

Seufzend schüttele ich den Kopf. »Kaum zu glauben, dass DJ auch dein Sohn ist. Er ist so ein toller Junge, während du dich wie ein bockiges Kleinkind aufführst.«

»Was weißt du schon von Elternschaft? Du bist weder Mutter noch hattest du eine, die dir etwas hätte beibringen können!«

»Es reicht jetzt wirklich, Ines! Jamie, wir gehen.« David greift schnell nach meiner Hand und zieht mich an Ines vorbei; ich habe keine Zeit mehr zu antworten. Aber was sollte ich auch sagen? Genau in diesem Punkt hat sie nun mal recht.

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