~14~

Seit wir im Auto sitzen, ist Sascha still. Wenn man ihn nicht kennt, würde man es vielleicht nicht merken, aber ich sehe deutlich, dass ihn etwas beschäftigt. Sein Kiefer mahlt unaufhörlich, während er starr nach vorne schaut.

Jetzt ist nur die Frage: Soll ich ihn darauf ansprechen oder ihm einfach seine Ruhe lassen? Eigentlich wäre Letzteres mein Favorit, denn manchmal muss man sich erst selbst über seine Gedanken klar werden. Auf der anderen Seite habe ich durch ihn gelernt, dass es oft hilft, darüber zu reden. Also nehme ich all meinen Mut zusammen. »Alles okay bei dir?«

Er nickt schnell, doch ein leises Schnauben verrät mir, dass er lügt.

»Ganz sicher?« Sein Blick wandert kurz zu mir und dann wieder nach vorn. Das reicht aus, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt.

»Komm schon. Rede mit mir.« Ich weiß nicht genau, woher diese plötzliche Hartnäckigkeit kommt.

Ein langes Seufzen entweicht ihm und er presst die Lippen zusammen. Normalerweise würde mich das nervös machen, aber bei Sascha weiß ich, dass er immer einen Moment braucht, um sich zu sammeln.

»Ich ... ich ärgere mich ...«, platzt es schließlich aus ihm heraus und ich muss lächeln – zumindest bis ich verstehe, was er sagt.

»Über mich?«

»Quatsch! Über mich selbst!«, brummt er und schüttelt den Kopf. »Ich hab mich ... echt blöd verhalten und wollte doch nie wieder solche Fehler machen ...«

Da kann ich nicht anders als zu lächeln. »Du hast getan, was du für richtig gehalten hast.« Dass wir nicht immer einer Meinung sind, haben wir inzwischen oft genug gemerkt. Deshalb kann ich ihm seine Art der Herangehensweise nicht übelnehmen – oder zumindest nicht mehr.

Aber für ihn sieht das anders aus. »Ich habe dich Ängsten ausgesetzt, die ich mir nicht mal vorstellen will ...« Er stoppt kurz und legt mir sanft die Hand auf das Bein, drückt es leicht. »Und das nur, weil ich stur war und dachte, ich wüsste es besser ... genauso wie damals bei Angie ...« Der Schmerz in seiner Stimme ist deutlich hörbar und der Selbsthass steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Mist. Mir ist nicht klar gewesen, wie sehr meine Vergangenheit mit David ihn an seine Schwester erinnert. »Sascha ... das beides kann man gar nicht vergleichen ...«

Wieder schaut er zu mir und für einen kurzen Moment blitzt etwas in seinen Augen auf, bevor er sich erneut der Straße zuwendet. Ich glaube, Enttäuschung in seinem Blick gesehen zu haben, aber ist er enttäuscht von dem, was ich gesagt habe, oder von sich selbst?

»Sascha ...«, fange ich abermals an, doch er schnaubt leise und unterbricht mich damit. Verdammt! Wie kann ich ihm klarmachen, dass es okay ist, manchmal stur zu sein? Immerhin war ich diejenige, die ihn wegen seines Verhaltens angefahren und sogar unsere Freundschaft infrage gestellt hat. Scheiße!

»Meinst du, Angie hätte ihrem Mann verziehen?«, fragt er plötzlich, wodurch ich überrascht eine Augenbraue hochziehe. »Immerhin hast du D auch verziehen, obwohl er ...«

»Das kann man immer noch nicht vergleichen ...«, unterbreche ich ihn diesmal, was ihn seufzen lässt.

»Vielleicht nicht ... aber ich verstehe einfach nicht, wie du das geschafft hast.« Ich öffne den Mund, schließe ihn aber gleich wieder. »Versteh mich nicht falsch, Pchela. Ich weiß, wie sehr D sich dafür hasst und mit seinen inneren Dämonen kämpft. Er hat sich wirklich geändert ... es ist nur ... Angie und ihr Mann ...« Sascha bricht ab und klingt völlig verzweifelt.

Ich schaue ihm ins Gesicht und sehe, wie er die Augenbrauen zusammenzieht und tief ein- und ausatmet, als müsste er sich selbst beruhigen. Es muss schmerzhaft für ihn sein, sich vorzustellen, dass seine Schwester vielleicht zu ihrem gewalttätigen Mann zurückgegangen wäre.

Gleichzeitig meldet sich in mir eine Stimme, die ich vorher nicht gehört habe. Sie fragt leise nach dem Grund für das Scheitern ihrer Ehe und ob wirklich nur ihr Mann daran schuld gewesen ist. Obwohl es mich eigentlich nichts angeht, wird diese Frage mit jeder stillen Minute zwischen uns lauter. Irgendwann ist sie so präsent, dass ich mich vorsichtig zu Sascha umdrehe, mir aber die Worte fehlen. Währenddessen trommelt er mit den Fingern der einen Hand auf das Lenkrad.

»Hey, Sascha?«, flüstere ich nach einer gefühlten Ewigkeit und sehe, wie er zusammenzuckt. Offenbar habe ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, als er ein brummendes »Hm?« von sich gibt.

»Hast du nach Angies Tod jemals mit ihrem Mann gesprochen?«

Sein Gesicht verfinstert sich sofort. »Nein. Ich muss mich schon zusammenreißen, ihm nicht an die Gurgel zu gehen, wenn wir uns bei den Gerichtsterminen sehen.«

»Also ... konnte er ... sich nie ... erklären?«

»Wozu soll das gut sein? Er ist und bleibt ein Arsch.«

»Laut Angie auf jeden Fall. Aber viel...«

»Was soll das heißen? Denkst du ernsthaft, meine Schwester belügt mich, während sie bitterlich weint?« Er zieht seine Hand von meinem Bein, als hätte er sich verbrannt. Seine Wut ist deutlich und macht mich nervös.

Ich habe gerade in Saschas wunden Punkt gestochen. Warum mache ich das nur? Mir sollte doch klar sein, dass nur weil David Gründe für sein Verhalten hatte, das nicht für jeden gilt. Vor allem, weil ich nachvollziehen kann, dass Sascha das nicht hören will. Immerhin habe ich oft genug gesehen, wie gut Menschen sich verstellen können – sie perfektionieren ihre Masken und lügen bis zum Himmel, um ihre eigene Haut zu retten – manchmal jedoch auch nicht.

Seufzend knete ich meine Hände. »Ich glaube nicht, dass Angie dich belogen hat. Für sie war das bestimmt der Horror. Genauso wie für mich damals in dieser Situation. Trotzdem kennst du seine Seite nicht und kannst daher nicht beurteilen, wie er sich vielleicht gefühlt hat oder warum er so gehandelt hat.«

»Muss ich auch nicht! Niemand hat das Recht, zuzuschlagen!«

»Wie du schon gesagt hast ... hat dein bester Freund nichts anderes getan ...«, murmele ich leise. »Und ihm hast du offensichtlich verziehen.«

»Du bist ja auch nicht tot!«, platzt es aus ihm heraus, weshalb ich mir auf die Lippe beiße. Langsam werde ich nervös; so wütend habe ich Sascha noch nie erlebt – und ich bin schuld daran.

»Entschuldige ...«, flüstere ich und schaue aus dem Fenster. Einerseits würde ich meine Worte gerne zurücknehmen, andererseits nicht, denn ich dachte, Ehrlichkeit ist ihm wichtig. Vielleicht kann ich aber auch einfach nicht einschätzen, wann genug ist.

Wenig später stehen wir vor Mandys Wohnhaus. Die Stimmung bleibt angespannt und wir haben kein Wort mehr miteinander gesprochen. Als der Motor verstummt, wird die Stille noch unangenehmer.

Plötzlich seufzt Sascha tief, trommelt wieder mit den Händen auf das Lenkrad und dreht sich dann zu mir. »Es tut mir leid, Pchela ... ich hätte dich nicht so anfahren dürfen.«

Ich schlucke kurz, um meine Stimme wiederzufinden. »Du hast jedes Recht, wütend zu sein ... deine Schwester ist schließlich tot ...«

»Ja ... und nein. Denn du hast auch recht. Ich habe nie daran gedacht, mit ihm zu reden. Er hat mir nicht nur meine Schwester genommen, sondern auch meine Nichte – die einzige Verbindung zu Angie, die mir geblieben ist. Ich war immer überzeugt, dass er mich damit provozieren will; dass er Angie auch im Tod noch leiden sehen will. Mir vorzustellen, dass er seine Tochter wirklich lieben könnte ... oder dass er Angie geliebt hat ... das passt einfach nicht in meinen Kopf.«

Ohne es zu wollen, muss ich lächeln. »Das ist auch nicht einfach, glaub mir ... noch gestern Morgen hätte ich alles getan, um David in die Hölle zu schicken.« Langsam hebe ich meinen Blick und treffe auf seine sturmgrauen Augen. »Und ich kann dir nicht versprechen, dass ich richtig liege. Vielleicht ist ihr Mann wirklich das Arschloch, das deine Wut verdient ... Aber warst es nicht du«, sage ich und zeige auf ihn, um meine Worte zu betonen, »der mir beigebracht hat, dass Menschen eine zweite Chance verdienen?«

»Was ist, wenn sich diese Chance als falsch herausstellt?«

»Na ja ... was sie daraus machen, liegt dann an ihnen. Das können wir nicht beeinflussen; wir müssen es einfach hinnehmen.«

»Und was mache ich, wenn ich falsch gelegen habe? Wenn er kein Arschloch ist? Also zumindest nicht nur? Dann habe ich ihm all die Jahre Unrecht getan und ...« Seine Stimme klingt wieder verzweifelt, weshalb ich nach seiner Hand greife und sie sanft drücke.

»Dann weißt du wenigstens, dass deine Nichte in guten Händen ist. Ist es nicht genau das, was deine Schwester am meisten gewollt hätte?«

Er nickt langsam und streicht sich mit der freien Hand über das Gesicht. Sein Bein wippt unruhig auf und ab. »Also sollte ich Charlie einfach mal anrufen?«

»Das musst du selbst entscheiden. Genau wie ich entschieden habe, David zuzuhören.« Er hebt eine Augenbraue und ich grinse, während ich zwinkernd sage: »Nach deinem Schubs, natürlich...«

»Seit wann bist du eigentlich so nervtötend erwachsen?«, brummt er und schüttelt schmunzelnd den Kopf.

Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken. »Vermutlich seit ich einen guten Freund habe, der mir in den Hintern tritt, wenn ich das nicht tue.«

Auch er lacht. »Blöde Zicke...«

»Beim Besten gelernt«, antworte ich und strecke ihm die Zunge raus.

Plötzlich legt er seinen Arm um mich und wuschelt mir mit der anderen Hand durch die Haare. Da ich das überhaupt nicht mag und er das weiß, kneife ich ihn kurzerhand in die Seite. Innerhalb von Sekunden kabbeln wir uns wie kleine Kinder.

Nach einer Weile zieht er sich japsend zurück. »Ich gebe auf«, wispert er grinsend, lehnt sich nach hinten und schließt die Augen. Ich atme ebenfalls tief durch. Unser Gerangel war definitiv nicht erwachsen, aber es hat trotzdem Spaß gemacht.

Irgendwann klatscht er in die Hände und zeigt zur Haustür des Wohnkomplexes. »Jetzt, wo wir das geklärt haben, sollten wir uns um die Probleme direkt vor unserer Nase kümmern.«

Ich bin froh, dass er anscheinend nicht mehr böse ist, aber irgendwie irritiert es mich auch. Wie beim letzten Mal bewundere ich ihn dafür, dass er so leicht das Thema wechseln kann. Oder ist das vielleicht nur eine Fassade? Brodelt es noch in ihm, aber will er nicht mehr darüber reden? Wenn dem so ist, muss ich das wohl akzeptieren. Wenn er meinen Rat noch einmal haben will, wird er schon fragen – hoffe ich zumindest.

»Was genau ist eigentlich ›das Problem‹?«, frage ich, nachdem wir ausgestiegen sind und Sascha zum dritten Mal auf die Klingel gedrückt hat. Doch es passiert nichts. Er schnaubt leise, rollt mit den Augen und klingelt erneut, diesmal ohne die Taste loszulassen. Die armen Mädels – das muss wirklich furchtbar nervig sein.

»Das Problem«, wiederholt er, »ist, dass Mandy sich für heute ›abgemeldet‹ hat und Kim nur in der Küche arbeiten will ...« Er lässt die Klingel los und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Okay ...?«, murmle ich leise und beiße mir auf die Lippe. Bei Kim kann ich das nachvollziehen; sie hat schließlich immer noch Angst, Makoto zu begegnen und die Chancen auf ein gutes Gespräch stehen bei ihr eher schlecht.

»Dass es Kim nicht gut geht, weiß ich selbst, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.« Sascha scheint meine Gedanken zu lesen und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Dann zieht er sein Handy aus der Hosentasche und tippt darauf rum. »Aber Mandy war wieder fit.«

»So eine Lebensmittelvergiftung ...«

»Bei ihr liegt es an etwas anderem ...«, unterbricht er mich und hält sein Handy ans Ohr, doch wir hören nur das Tuten in der Leitung. Kaum hat er aufgelegt, streckt Sascha mir seine Hand entgegen. »Gib mir mal deins.«

Verwundert ziehe ich die Brauen zusammen. »Meinst du echt, das klappt?« Trotzdem hole ich mein Smartphone hervor, entsperre es und halte es ihm hin.

»Einen Versuch ist es wert.« Wieder hören wir das Freizeichen, aber auch bei mir geht niemand ans Telefon. »Dann probieren wir es eben bei Kim«, brummt Sascha, wählt und hält es vor uns. Kaum zwei Sekunden später hören wir schon ihre leise Stimme. 

»Jam?« Sie klingt nervös, im Hintergrund poltert irgendetwas.

»Alles okay bei euch?«, fragt Sascha, woraufhin sie tief Luft holt – offensichtlich hat sie nicht mit ihm gerechnet.

»Ja ... abel es passt gelade nicht ... können wil spätel leden?«

»Wir stehen unten. Lass uns einfach rein, Kim«, brummt Sascha. Seine Stimme klingt so, als würde er keine Widerrede dulden. Im Hintergrund rumpelt es erneut.

»Muss das wilklich sein ...?«

»Besser wäre es. Sonst kommt Piet bestimmt noch persönlich vorbei ... heute ist Freitag.«

Ich höre Kim seufzen, dann murmelt sie: »Gib mil einen Moment ...«, und legt auf.

Verwirrt schaue ich zu meinem Freund, der mir mein Handy zurückgibt. »Wir sind auf Piets Anweisung hier?«

»Genau.« Er lehnt sich gegen die Tür und öffnet sie, als der Summer ertönt. Dann deutet er mir an, voranzugehen. »Er wäre selbst gekommen, musste allerdings kurzfristig zum Arzt.«

»Schon wieder?«

»Leider ja. Aber mach dir keine Sorgen, ihm gehts gut. Konzentrier dich lieber auf die Mädels, damit wir bei der Flut an Kunden heute Abend nicht untergehen.«

Trotz Saschas Worten bleibt ein mulmiges Gefühl. Piets Zustand scheint sich echt zu verschlechtern und nach seinem komischen Verhalten beim letzten Mal frage ich mich langsam, wie schlimm es wirklich um ihn steht. Hat er Felix gesagt, wie es ihm geht? Er würde einen weiteren Verlust nicht verkraften, egal wie angespannt ihr Verhältnis gerade ist.

»Mandy ist nicht gut dlauf ...«, flüstert Kim und holt mich damit aus meinen Gedanken zurück. Sie wartet im Türrahmen auf uns.

Bevor ich etwas antworten kann, zieht die kleine Japanerin mich kurz in eine Umarmung und greift dann nach meiner Hand. Sascha folgt uns schweigend. Kim führt mich am schwach beleuchteten Wohnzimmer vorbei, wo ich einige Dosen auf dem Tisch stehen sehe.

Vor einer bunten Holztür bleiben wir stehen. Sie klopft vorsichtig dagegen, doch ein deutliches »Geh weg!« ist zu hören. Unsicher stehen wir da, bis Sascha sich an uns vorbeischiebt und ohne Zögern die Tür öffnet.

»Hau ab!«, flucht Mandy, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett kauert und bis zur Nase in eine Decke eingewickelt ist. Sascha hat recht – hier gehts nicht um eine Lebensmittelvergiftung.

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