~11~

»Moment ...«, unterbreche ich ihn und bin ehrlich verwirrt. »Du hast mich ... ähm ... der kleine Junge hat ...«

Ich komme nicht weiter, denn David nickt bereits. Sein intensiver Blick sorgt für Unbehagen. Das kann nicht sein. Er muss sich irren! Wenn er mich angeblich so sehr mochte, warum hat er mich dann gequält?!

»Erinnerst du dich gar nicht mehr?«

»Woran?«, frage ich irritiert und durchsuche mein Gedächtnis, aber finde nichts. Alles, woran ich denken kann, sind die Demütigungen und Schläge, die ich versucht habe, zu verdrängen. Schließlich schüttele ich meinen Kopf.

»Das habe ich mir fast gedacht«, sagt er verbittert, was mich nervös macht. »Aber ich bin ja auch selbst schuld ...«

Was zum Teufel habe ich vergessen?! Oder testet er mich nur? Nein, das glaube ich nicht.

»Weißt du, wie das Gehirn mit Traumata umgeht?«

»In der Theorie oder der Praxis?«, schießt es aus mir heraus und lässt ihn zucken.

»Entschuldige. Das war natürlich eine blöde Frage.«

»Nein, war's nicht ... bei einem traumatischen Ereignis wird das Gehirn mit Stresshormonen überflutet«, beginne ich, hole tief Luft und drücke zaghaft seine Hand, während Erinnerungen hochkommen. »Allgemein spricht man von einer lebensbedrohlichen Situation, aber die Empfindung davon ist für jeden unterschiedlich. Der Körper reagiert normalerweise mit Angriff, Flucht oder ... Erstarren.«

Bilder aus der Vergangenheit tauchen auf und machen mir klar: Ich habe alles versucht und bin gescheitert. Am Ende habe ich es einfach aufgegeben und über mich ergehen lassen.

»Genau, das ist der theoretische Teil«, antwortet David und nickt zustimmend.

Ich nicke ebenfalls, doch meine Gedanken sind noch immer wirr. Langsam löse ich meine Hand von seiner und balle sie zur Faust. Mein Herz schlägt schnell. Diesmal nicht vor Aufregung, sondern vor der Panik, die sich wieder breit macht, obwohl ich sie nicht spüren will. David hat sich verändert!

»Jamie?«

Verdammt! Selbst seine tiefe Stimme lässt mich zusammenzucken und die Erinnerungen an das verängstigte Mädchen in mir hochkommen.

»Gib' mir einen Moment ...«, bringe ich mühsam hervor und atme erneut tief ein. Ich hasse es, so schwach zu sein!

Doch anstatt auf meine Bitte einzugehen, dreht sich David zu mir um. Dann berührt er auch noch meinen Arm, woraufhin ich sofort von ihm abrücke. Nicht aus eigenem Willen, sondern aus reinem Instinkt.

Er schürzt die Lippen und weiß vermutlich genau, was mit mir los ist. Scheiße! Sein Blick wird düsterer. Er wirkt unglücklich, fast frustriert und seufzt leise. »Warum hast du eigentlich mit mir geschlafen, Jamie?«

»Was?!«, entfährt es mir überrascht und plötzlich ist die Angst verschwunden. Stattdessen fühle ich Scham. Dabei ist mir das Thema an sich nicht peinlich, aber vor David ... mit David ... was soll ich nur darauf antworten?

Er wendet den Blick ab, lehnt sich leicht nach vorn und atmet tief aus. »Ich ... bereue es inzwischen.«

»Was?«, wiederhole ich fassungslos und bin nicht nur von seinen Worten überrascht, sondern auch von meiner eigenen Reaktion darauf. Warum macht mir so zu schaffen? Es fühlt sich an, als würde sich mein Herz krampfhaft zusammenziehen.

Ein Impuls treibt mich dazu, aufzustehen. Ich will nicht gehen, aber neben ihm sitzen bleiben kann ich auch nicht – und noch immer habe ich keine passende Antwort auf seine Frage gefunden.

»Jamie!« David springt auf und greift nach meinem Arm, obwohl ich keinen Schritt gegangen bin. »Fuck, ich ... das war unglücklich ausgedrückt. Ich bereue es nicht, mit dir geschlafen zu haben! Aber, dass es passiert ist, als wir beide was getrunken haben ...«

Ich senke meinen Blick und schließe die Augen, nur Bruchstücke der Nacht zeigen sich. »Meine Erinnerungen daran sind verschwommen ...«, gestehe ich leise, denn auch dafür schäme ich mich. Nein, ›vor allem‹ dafür schäme ich mich.

»Genau das meine ich«, sagt er behutsam und zieht leicht an meinem Arm, sodass ich mich zu ihm drehen muss und die Augen wieder öffne. Als unsere Blicke sich treffen, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. »Es ist nicht so, dass ich es nicht wollte. Für mich ist es eine schöne Erinnerung. Aber zu wissen, dass es für dich anders ist, weil du es mit dem Chaos danach verbindest ... Ich hätte von Anfang an ehrlich zu dir sein müssen.«

»Ich hab' doch auch nichts gesagt ...«

»Kein Wunder. Wer sagt dem Arschloch von früher auch freiwillig, dass man diejenige ist, die er so unverzeihlich behandelt hat.«

»Aber du hast dich geändert!«

Darauf antwortet er nicht und sieht mich einfach nur an. Mein Herz macht einen Satz. Wie kann dieser Mann so viele Emotionen in mir auslösen? Wann ist das passiert? Und warum macht es mir weniger Angst, als es sollte?

»Und ...«, murmele ich, »weil ich es wollte.« Diese Erkenntnis drängt sich plötzlich unausweichlich in mein Bewusstsein. Die ganzen letzten Wochen habe ich mir eingeredet, dass es am Alkohol lag und wenn ich ehrlich bin, hat er es bestimmt begünstigt. Aber zu lügen ist keine Option mehr. Ich wollte das – mit ihm.

Ein kleines Lächeln huscht über Davids Lippen und ich erwidere es. Ich sehe, wie er langsam die andere Hand hebt und sanft über meine Arme streicht. Es fühlt sich unglaublich gut an, als wäre ich zerbrechlich und doch stark zugleich. Ohne zu zögern, gehe ich einen Schritt auf ihn zu, überbrücke die Lücke zwischen uns und lehne meinen Kopf an seine Brust, die sich gleichmäßig hebt und senkt.

Sanft umschließt David mich und ich erwidere es, indem ich mich fest an ihn schmiege. In diesem Moment scheint die Welt um uns herum zu verblassen. Die Wärme seiner Umarmung durchdringt meinen Körper, und mein Herz schlägt im selben Takt wie seins. Ein prickelndes Gefühl durchströmt mich von Kopf bis Fuß, als ob Ameisen über meine Haut krabbeln würden. Es macht mir klar, dass ich nirgendwo anders sein will als in seinen Armen.

Ist das Liebe? Fühlt es sich so an? Kann ich das überhaupt empfinden? Vielleicht ist es etwas ganz anderes und ...

»Wow ...«, haucht David und drückt mich fester an sich. »Ich hab' so sehr gehofft, dich noch einmal halten zu können.«

Die Ameisen werden unruhig, fast schon unangenehm schnell. »Ich auch«, flüstere ich zurück und hole tief Luft, um seinen Duft aufzusaugen.

»Und deshalb will ich dir die ganze Geschichte erzählen. Damit du entscheiden kannst, ob du danach immer noch bei mir sein möchtest ...«

David lässt meinen Rücken los, streicht jedoch mit seinen Fingern von meinen Armen zu meinen Händen und hält sie behutsam fest. Langsam hebe ich den Blick zu ihm. Seine Augen funkeln und erinnern mich zum ersten Mal an früher – an die Glasmurmeln, mein Lieblingsspielzeug als Kind.

»Okay«, antworte ich leise und spüre trotzdem die Gewissheit, dass es keine Rolle mehr spielt. Zumindest nicht in Bezug auf meinen Wunsch, bei ihm sein zu wollen. Diese Erkenntnis beruhigt und beunruhigt mich zugleich.

Wir setzen uns erneut hin, ohne dass er meine Hand loslässt, während er leicht zittert.

»Ich hoffe, dass du dich irgendwann wieder erinnern kannst ...« Sein Blick huscht zu mir, bevor er zu Boden schaut. »Denn für mich sind diese Erinnerungen wie ein Anker.«

Ein Gefühl der Enge umschließt mein Herz. »Tut mir leid, dass ich das vergessen habe ...«

»Das muss es nicht. So funktioniert das Gehirn eben. Zehn Minuten Schmerz überlagern oft eine Stunde schöner Erinnerungen.« Er seufzt laut und reibt sich mit der freien Hand über sein Bein. Obwohl seine Stimme abgehärtet klingt, strahlt er das nicht aus.

»Aber ... wie ist es dazu gekommen?« Das verstehe ich immer noch nicht ganz.

»Können wir zur Geschichte zurückkehren?« Ich nicke zustimmend und beobachte, wie er sich versteift. »Okay, dann fangen wir an ... also ... der Junge und das Mädchen haben sich angefreundet. Sie haben viel Zeit miteinander verbracht – auch nach der Schule. Manchmal waren sie auf dem Spielplatz, manchmal im Garten ihrer Eltern. Zumindest hat der Junge das damals so empfunden.« David macht eine Pause und blickt mich an.

Ich nicke stumm. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich bei einer Familie gelebt, die wirklich fürsorglich gewesen ist. Sie sind dem Begriff ›Eltern‹ wohl am nächsten gekommen, weil sie sich gut um mich gekümmert haben. Da sie bereits meine vierten Pflegeeltern gewesen sind, hat es mich besonders hart getroffen, als sie mich wieder abgegeben haben. Meine Pflegemutter ist unerwartet schwanger geworden und anscheinend ist kein Platz mehr für mich da gewesen.

»Der Vater des Jungen war nicht begeistert davon, dass sein Sohn ständig woanders war. Es war ein weiterer Verlust für ihn.«

»Warum hat er ihn dann so behandelt?«

Er zuckt mit den Schultern und drückt meine Hand. »Vielleicht wusste er einfach nicht anders damit umzugehen ... was natürlich keine Entschuldigung ist.«

Wieder nicke ich verstehend. Einer meiner Pflegemütter ist oft die Hand ›ausgerutscht‹. Danach hat sie sich zwar immer entschuldigt, aber auch gesagt, dass wir daran schuld sind. Vielleicht hatte sie recht; sonst wäre ich wohl nicht so oft weitergereicht worden.

»Der Vater war neugierig, mit wem sein Sohn seine Zeit verbringt und hat sich nach dem Mädchen erkundigt. Und er hat dem Jungen klargemacht, dass sie keine gute Gesellschaft für ihn ist, doch dieser wollte nicht hören, also wurde er bestraft.«

Wieder stockt er und zuckt zusammen, als ich seine Hand streichele. Ich versuche meine zurückzuziehen, um ihm Raum zu geben, doch er hält mich eisern fest.

»Was denkst du, warum ich nicht mit DJ rutschen gehe?«

»Ähm ...«, stammele ich unsicher und weiß nicht, ob ich das wirklich beantworten soll. Es endet meistens in Problemen, andere auf vermeintliche Fehler oder Schwächen anzusprechen.

»Du hast dir definitiv Gedanken gemacht. Das habe ich gemerkt, als wir auf der Kirmes gewesen sind.«

»Ja ... nun ja ... Ich glaube ... Höhenangst«, gebe ich leise zu und sehe ihn nicken.

»Das denken die meisten und ich lasse es sie auch glauben, weil es einfacher ist.« Jetzt schüttelt er den Kopf. »Sogar mein Sohn glaubt das. Wie könnte ich ihm erklären, dass ich nicht mit ihm rutschen kann, weil sein Opa mich zur Bestrafung stundenlang ins Gästebad gesperrt hat ...«

Ich bin so schockiert, dass mir im ersten Moment die Worte fehlen. »Also hast du Angst vor der Dunkelheit?«, frage ich schließlich.

»Auch. Aber eher vor engen Räumen. Ich war dort oben, als DJ noch klein war. Aber ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, mit ihm zu rutschen ...«

»Ist die Riesenradgondel nicht auch ein enger Raum?«, frage ich vorsichtig.

»Stimmt«, antwortet David und runzelt die Stirn. »Es ist wohl die Kombination aus beidem. Außerdem kann ich dort hinausschauen. Eine Geisterbahn wäre also nichts für mich.« Er lacht kurz auf, doch es klingt eher gequält – offensichtlich versucht er die Stimmung aufzulockern.

»Ich hab’ Angst vor Menschenmassen«, murmele ich, um ihm zu zeigen, dass es keine Schwäche ist, seine Ängste offen anzusprechen. »Und gehe nur einkaufen, wenn es sein muss.«

Sein Blick zuckt zu mir. »Wie schaffst du dann deinen Job?«

»Keine Ahnung. Das funktioniert irgendwie ... Vielleicht liegt es am Klima? In der Bar mag es zwar manchmal laut und wild sein, aber die meisten Gäste wollen einfach nur einen entspannten Abend verbringen. Beim Einkaufen ist das anders. Da wird man fast für die letzte Packung Klopapier niedergetrampelt ...«

David lacht herzlich, sodass ich ihm nicht böse sein kann und ebenfalls grinse.

»Du überraschst mich echt immer wieder«, sagt er und schaut mich lächelnd an. »Wie schaffst du das, Jamie? Du wächst einfach über dich hinaus. Das ist unglaublich.«

»Das sehe ich etwas anders ...«

»Quatsch. Das war schon immer deine Stärke und dafür habe ich dich auch bewundert. Egal, wie oft du gefallen bist, du bist immer wieder aufgestanden.« Sein Lächeln verschwindet plötzlich. »Und trotzdem hat es mir Angst gemacht ...«, gesteht er und lässt mich los, um aufzustehen. Unsicher reibt er seine Hände.

»Ich weiß, es klingt bescheuert ... und egoistisch ... Aber ich hatte mehr Angst davor, dass du mich vergisst, als dass du mich hasst. Ich wollte nicht schon wieder alleine gelassen werden ...«

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