~10~

Ich stehe nervös da, von einem Bein aufs andere tippend und kaue auf meiner Unterlippe. Der Bus bewegt sich gemächlich vorwärts und treibt mich fast in den Wahnsinn.

Mein Inneres ist zum Zerreißen gespannt, denn während der ganzen Schicht konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Immer wieder habe ich mich gefragt, was Davids ›alles‹ bedeuten soll und mir dabei die wildesten Szenarien ausgemalt. Doch letztendlich waren sie alle Murks. Ich kann also nur hingehen und es rausfinden.

Da ich nicht weiß, wohin mit meiner zuckenden Hand, schiebe ich sie unruhig in meine Gesäßtasche. Ein kurzes Lächeln huscht über mein Gesicht. Dort befindet sich der Zettel von ›Gorilla‹ mit seiner Handynummer drauf. Lustigerweise hat er tatsächlich einen Affen auf das Papier gekritzelt, anstatt seinen Namen zu schreiben. Schade, dass er nicht mehr da gewesen ist, als ich zurück hinter den Tresen gekommen bin. Mit ihm wären die restlichen Stunden sicher schnell vergangen.

Stattdessen hat Sascha mich förmlich belagert und nicht locker gelassen, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich gerade absolut nicht reden will – vor allem nicht mit ihm. Er hat versucht, mich mit Fragen über das Gespräch mit David auszuquetschen. Der Typ hat Nerven! Er sollte froh sein, dass ich ihm nicht die Augen ausgekratzt habe für seinen dummen Spruch, als er uns ›befreit‹ hat. Denn das hätte er definitiv verdient!

Mein Lichtblick ist Mandy gewesen, die mich nach kurzer Zeit abgelöst und mir somit etwas Ablenkung im Raum verschafft hat.

Trotzdem kann ich jetzt, wo ich aussteigen muss, meine Unruhe nicht mehr unterdrücken. Die frische Brise umspielt meine Haare und trifft auf mein erhitztes Gesicht. Mein Herz rast, als würde es einen Marathon gewinnen wollen. Mann! Ich bin so aufgeregt wie schon lange nicht mehr!

Um es mir nicht doch noch anders zu überlegen, setze ich meinen Weg fort. Alles ist besser als stehenzubleiben und meinen panischen Gedanken freien Lauf zu lassen. Denn seitdem ich dem Gespräch zugestimmt habe, versuchen mich diese davon zu überzeugen, dass es ein Fehler war.

Kaum passiere ich den eisernen Torbogen, schieben sich unzählige Erinnerungen vor mein geistiges Auge. Sind wirklich nur knapp zehn Wochen vergangen, seit David in der Bar aufgetaucht ist? Ungläubig beschleunige ich meine Schritte.

Als ich den Spielplatz erreiche, halte ich doch inne. Zu dieser frühen Stunde ist er natürlich verlassen und nur die Spitze des Klettergerüsts wird von der sanften Morgensonne beleuchtet. Ein paar Vögel sitzen oben und zwitschern lauthals. Der Erdbeerstand ist noch geschlossen, aber den Duft habe ich bereits in der Nase.

Dieser Moment ist so schön, dass ich zusammen zucke, als ich das Geräusch von knirschendem Kies höre. Überrascht schaue ich auf und sehe direkt in Davids Gesicht. Was macht er denn schon hier? Er ist viel zu früh dran!

»Hey«, sagt er lächelnd und kommt näher. In den Händen trägt er zwei Kaffeebecher.

Da ich wirklich nicht damit gerechnet habe, ihm schon zu begegnen, blinzele ich mehrfach und werde augenblicklich rot. Fuck!

»Möchtest du?« Einen der Becher hält er mir entgegen, weshalb ich ihn nickend entgegennehme.

»Danke ...«, murmele ich und beiße erneut auf meine Lippe. Was mache ich nur? Um meine Nervosität zu überspielen, schnuppere ich am Kaffee und höre ihn lachen.

»Hast du Angst, ich könnte sie vertauscht haben?« Sein Schmunzeln ist so breit, dass mir warm wird, auch wenn ich den Seitenhieb verstanden habe.

»Nein?!« Ich versuche einen Hauch von Empörung in meine Stimme zu legen, was kein bisschen klappt. Es klingt eher wie ein unsicheres Fiepen. Klasse.

»Wollen wir dann? Oder möchtest du vorher noch rutschen?« David deutet zum Gerüst, weshalb ich schnaube und ihm die Zunge rausstrecke.

Wieder grinst er breit, schüttelt den Kopf und hält mir seine Hand hin. Mein Blick gleitet zu ihr und holt die Unruhe zurück. Jede unserer Berührungen flimmert vor meinen Augen, wodurch ich ungewollt nach Luft schnappe. Zudem fragen die gehässigen Gedanken erneut, was genau ich von diesem Treffen erwarte. Selbst wenn er mir eine schlüssige Erklärung für all das liefern kann, was bringt mir diese Info?

»Jamie?« Davids Stimme klingt jetzt genauso unsicher wie meine. Er lässt seine Hand langsam sinken, was irgendwie dafür sorgt, dass ich sie doch ergreife und mich ein Stromschlag erfasst. Alle Nervenzellen zucken und ich bin kurz davor, ihn wieder loszulassen, da erwidert er den Druck und umschließt meine Finger mit seinen.

Das bekannte Kribbeln breitet sich aus und wandert meinen Arm hoch. Verdammt, das habe ich mir irgendwie anders vorgestellt. Mein Gegenüber lächelt jedoch wieder, wenn auch eher zaghaft – fast schüchtern. Dann dreht er sich ein Stück und zieht mich mit sich.

Eine ganze Weile schweigen wir. Nur unsere Schritte, die Vögel, sowie wenige Autos außerhalb des Parks sind zu hören. Und natürlich mein Herzschlag. Der ist so laut in meinen Ohren, dass ich meine, selbst David müsste ihn bemerken. Oder zumindest in meiner Hand spüren, denn mein ganzer Körper pulsiert mit.

Als die Bank in Sichtweite ist, schlucke ich leise. Was erwartet eigentlich ›er‹ von mir? Einfach nur, dass ich ihm zuhöre?

»Alles okay?« David ist stehen geblieben und sieht mich an. Sofort nicke ich und wende den Blick ab. »Sicher?«

»Ja ...«

»Willst du das hier wirklich?«

Überrumpelt von dieser Frage, bleibe ich stumm. Ich weiß nicht einmal, was ich antworten soll. Ein großer Teil von mir will es, aber dennoch spüre ich eine gewisse Angst, wenn auch anders als zuvor.

»Tut mir leid, dass ich dich damit so überfahren habe ...«

»Das hast du nicht ... im Grunde genommen ist es Sascha gewesen ...«, antworte ich endlich und setze »Worüber ich echt sauer bin« nach, während ich nebenbei Davids »Wofür ich ihm echt dankbar bin« höre. Wir beide grinsen und ich schüttele den Kopf.

»Ohne ihn hätten wir sicher nicht miteinander gesprochen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Trotzdem war es nicht in Ordnung. Er weiß nicht, was uns verbindet.«

Kurz sehe ich etwas in seinen Augen aufblitzen, dann senkt er den Blick und verwirrt mich erneut. Was geht nur in seinem Kopf vor?

»Stimmt«, murmelt er und reibt sich über den Bartschatten, »aber aus Erfahrung kann ich sagen: Er will nur helfen. So ist Sascha eben, auch wenn das gewöhnungsbedürftig ist.«

Was er nicht sagt ... diese aufdringliche Art zeigt ›mein Kollege‹ schon, seit dem Tag, als er mich an der Bar eingesammelt hat. Sie gehört irgendwie zu ihm und ist nicht ›gewöhnungsbedürftig‹, sondern extrem nervig. Dennoch hat er mir damit schon mehr als einmal ... den Arsch gerettet. Blöde Zwickmühle. Wie soll man jemandem böse sein, der es nur gut meint? Ist doch ätzend!

»Kommen wir zum eigentlichen Thema ...« David lässt mich los und deutet auf die Bank, wodurch mir sofort kalt wird. »Wollen wir uns setzen?«

Ich nicke und reibe mir unauffällig über die Arme, nachdem ich meinen leeren Kaffeebecher weggeworfen habe. Als wir beide Platz genommen haben, sehe ich ihn an. »Dann leg' mal los.«

Sein leises Lachen ertönt, dieses Mal klingt es jedoch nicht glücklich. Schnell senke ich meinen Blick zu Boden. Sicher fällt es ihm nicht leicht, mit mir zu reden und ich benehmen mich wie ein Trampel ...

»Lass mich dir ... eine Geschichte erzählen.«

Im Augenwinkel sehe ich, wie er sich nach hinten lehnt und zum Himmel guckt. »Eine Geschichte?«, wiederhole ich, woraufhin er nickt. Neugierig folge ich seinem Blick nach oben, wo das dunkle Blau sanft in helle Blau- und Lilatöne übergeht. Selbst die Wolken tragen zarte Schattierungen von Rosa.

»Es war einmal ... ein kleiner Junge«, beginnt er leise und seufzt schwer. »Er hatte eine Mutter, einen Vater und zwei große Schwestern ... und sie waren glücklich.« David stockt erneut, wodurch ich den Kopf senke und sein Profil betrachte. Seine Lider senken sich. »Leider hielt ihr Glück nicht lange an. Seine Mutter starb, da war er knapp fünf Jahre alt.«

Ein automatisches ›Tut mir leid‹ liegt mir bereits auf der Zunge, doch ich halte inne. Diese Floskel hilft niemandem, das weiß ich selbst. Im Grunde sagt man es nur aus Höflichkeit, was in meinen Augen sogar unhöflich ist.

»Vermisst der kleine Junge sie immer noch?«, frage ich stattdessen, denn wenn mir die Therapie etwas beigebracht hat, dann dass es besser ist, direkt über den Schmerz zu sprechen.

»Jeden Tag«, antwortet David mit einem sanften Lächeln. »Sie war ein Engel. Die gute Seele der Familie, die sie zusammengehalten hat.« Sein Gesicht verdunkelt sich und seine Körperhaltung versteift sich plötzlich. »Nach ihrem Tod hat sich der Vater des Jungen verändert. Er war oft schlecht gelaunt und hat die älteren Schwestern des Jungen viel angebrüllt. Beide sind knapp ein Jahr später ausgezogen.«

»Wie das denn?«

»Die Schwestern sind zwölf und fünfzehn Jahre älter und hatten genug von der unberechenbaren Art ihres Vaters. Nur der kleine Junge blieb bei ihm zurück.« Ein Schnauben rutscht ihm raus und lässt mich frösteln. »Allerdings hat der Verlust seiner Frau und Töchter den Vater in ein noch tieferes Loch fallen lassen. Als erwachsener Mann weiß der Junge das jetzt. Damals hat er sich jedoch einfach nur gewünscht, nicht mehr da zu sein ... genauso wie der Rest seiner Familie zu verschwinden.«

Ohne Vorwarnung schießen mir Tränen in die Augen und ich blinzele krampfhaft, um sie zurückzuhalten. Doch zu hören, dass sich David als so kleiner Knirps gewünscht hat, nicht mehr zu leben, schockiert mich nicht nur, es erschüttert mich. Gerade deshalb, weil ich all die Jahre nie für möglich gehalten hätte, dass er sich so fühlen könnte.

Ich versuche vergeblich, ein Schniefen zu unterdrücken, woraufhin er mich ansieht. Schnell wende ich den Blick ab, doch es ist bereits zu spät.

»Alles okay, Jamie?«

»Entschuldige ... ignorier' mich einfach ...«

»Ich ... Ich will nicht, dass du meinetwegen leidest ... nie wieder ...« Er schüttelt den Kopf, während er auf den Boden sieht und neben sich auf die Bank schlägt.

Im ersten Moment zucke ich zusammen, greife dann aber nach seiner Hand und halte sie sanft auf meinem Schoß fest. Mit der einen Hand streiche ich vorsichtig über die Stelle, an der er die Bank getroffen hat, und wische mir mit der anderen die Tränen von den Wangen. »Ich kann dir nicht versprechen, dass deine Worte mich nicht mehr zum Weinen bringen ... aber ich will dir zuhören. Egal, was du sagst, ich werde da sein.«

»Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?«, fragt er und zieht lächelnd eine Augenbraue hoch. Diesmal wirkt es echt.

»Vielleicht ein bisschen von beidem?«

»Sehr gut.« David schiebt seine Finger zwischen meine und jagt damit Wärme durch mich hindurch. Es fühlt sich fast an, als wäre mein Körper süchtig nach seinen Berührungen, was mich irgendwie beunruhigt. Aber das muss ich jetzt ausblenden.

»Also?«, will er wissen. »Bereit für mehr Chaos?«

Ich nicke, er lächelt kurz und nickt ebenfalls.

»Okay ... wo war ich stehen geblieben ...?« Mit der freien Hand reibt er über sein Gesicht. »Ach ja ... als der Junge in die Schule kam, bemerkte die Lehrerin oft ... blaue Flecken an ihm ... Also zog der Vater mit ihm um.« David räuspert sich und schüttelt den Kopf. »Da der Vater sowieso viel von zu Hause aus arbeiten konnte, war das kein Problem ... und obwohl der Junge sein Elternhaus und die damit verbundenen Erinnerungen an seine Familie nicht verlassen wollte, tat ihm der Vater irgendwie einen Gefallen.«

»Hat der Vater sich gebessert?«

»Nein. Aber das macht nichts ...« Sein Blick huscht kurz zu mir und seine Augen leuchten plötzlich auf. »Am ersten Tag an der neuen Schule war der Junge sehr nervös und stolperte. Er schlug sich das Knie auf ... und dann kam plötzlich ein Mädchen mit langen Zöpfen, einer riesigen Brille und einer niedlichen Zahnlücke.«

»Die war nicht niedlich ...«, murmele ich, werde jedoch rot, während David heiser lacht.

»Oh doch. Genauso wie ihre Latzhose.«

»Bestimmt nicht ...«

»Wie auch immer ...«, fährt er fort. »Sie half ihm. Einfach so, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das war neu für den Jungen und er wusste sofort, dass er endlich seinen eigenen Engel gefunden hatte.«

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