~4~
Die Fahrt bis zu mir dauert zum Glück nicht lang.
Um diese Uhrzeit ist auf den Straßen eh nichts los und Felix hatte schon immer einen Bleifuß. Scheinbar hält er sich wohl nur mir zuliebe an die Verkehrsregeln.
Gerade als er dabei ist, den Wagen am Straßenrand einzuparken, blicke ich aufs Armaturenbrett und seufze leise. Ja, meine Wohnung ist von seiner Arbeit nur einen Katzensprung entfernt. Trotzdem mache ich mir Sorgen, weil er müde sein wird.
Als er den Job begonnen hat, war das alles irgendwie einfacher. Felix hat quasi bei mir gewohnt. Zwar bin ich nach dem Studium offiziell alleine eingezogen, aufeinander gehockt haben wir dennoch ständig. Es hat sich einfach so ergeben und keinen von uns gestört. Wieso auch? Im Wohnheim hats ja auch super geklappt.
»Schläfst du schon, Jam?«
Wieder schüttle ich bloß den Kopf und steige anschließend aus. Im Auto war es echt warm und ich freue mich auf mein weiches Bett.
»Sag mal ... Hab' ich noch Klamotten bei dir?« Über den Wagen hinweg blicke ich in Felix' Augen, der mich abwartend ansieht.
»'Ne Jogginghose vielleicht?« Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Da wir seit ein paar Monaten eben nicht mehr permanent aneinanderkleben, habe ich zwar alles gewaschen, aber keinen Überblick, was er inzwischen mitgenommen hat.
»Okay«, murmelt er nachdenklich, öffnet die hintere Tür und zieht eine Sporttasche vom Rücksitz.
»Wow ...«, kommentiere ich den Anblick des Monstrums. »Zum einen: Warum ist die so groß? Und zum anderen: Kann es sein, dass du das im Vorfeld geplant hast?«
Felix zuckt nur grinsend mit den Schultern und holt zusätzlich eine Laptoptasche aus dem Auto.
»Schlag keine Wurzeln, mach lieber die Tür auf.« Er deutet mit dem Kopf Richtung Gebäudekomplex und sieht an der Fassade empor. »Ist der Aufzug mittlerweile eigentlich repariert?«
»Nope.«
»Dann lass mich deinen Vermieter endlich anrufen.«
»Nein, Felix. Das kann ich selbst.«
»Aber du machst es nie.«
»Mich stört es ja auch nicht.«
Er schnaubt. »Kein Wunder, dass du nur Müsli futterst. Niemand hat Bock, Einkäufe bis in den siebten Stock zu schleppen.«
»Verschwende deine Luft nicht zum Meckern, ›Schatz‹ ...« Ich lehne mich gegen die Tür, halte sie ihm grinsend auf und nehme ihm die Laptoptasche ab. »Denn die brauchst du noch zum Laufen.«
Knurrend schiebt er sich an mir vorbei und beginnt mit dem Aufstieg. Dass er auf dieses Wort nichts erwidert, ist neu — zeigt mir aber einmal mehr, dass etwas nicht stimmt. Normalerweise verdreht er zumindest die Augen, wenn ich ihn nenne, wie Ivy es tut. Wobei mir nach wie vor schleierhaft ist, wieso er sich überhaupt so nennen lässt.
»Ich schwör' dir ...«, flucht er nach dem fünften Stockwerk schnaufend und sieht zu mir runter. »Dafür leidest du gleich richtig.«
Ganz entspannt zucke ich mit den Schultern. »Du wolltest mit zu mir. Frag halt beim nächsten Mal vorher, ob der Aufzug geht.«
Endlich oben angekommen – und ja, es ist auch für mich anstrengend, denn ich bin nicht ›Wonder Woman‹ – stecke ich mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss und freue mich, zu Hause zu sein.
Meine kleine chaotische Wohnung, mein eigenes kleines Reich. Niemand kann mich hier einfach so wieder entfernen. Gut, mein Vermieter könnte es. Aber dann müsste er erst mal jemanden finden, der freiwillig in den siebten Stock zieht – und das, wenn der Aufzug mindestens einmal im Monat streikt.
Felix lässt seine Tasche achtlos auf den Boden fallen, zieht die Schuhe aus und verschwindet durch die linke Tür.
Grinsend sehe ich hinterher. Dass sein erster Weg ins Bad geht, ist kein Wunder. In der Bar ist die Angestelltentoilette defekt und auf die für Kunden setzt er freiwillig keinen Fuß.
Ich entledige mich ebenfalls meiner Schuhe, sammle seine ein und verstaue beide in dem großen Schuhschrank. Den habe ich von meinem besten Freund zum Einzug geschenkt bekommen. Allerdings nur, damit meine vielen Treter nicht überall rumfliegen. Ein Aspekt, der ihn, als wir uns die Wohnheim-WG geteilt haben, fürchterlich auf die Palme gebracht hat. Beim Gedanken daran muss ich noch breiter grinsen.
Nur langsam schäle ich mich aus meinem Hoodie und reibe über meine Arme. Aus meinem Einbauschrank, der eine komplette Wand einnimmt, hole ich ein T-Shirt heraus und schmeiße die Türen schnell wieder zu. Nicht, dass der mir Stapel entgegenfällt.
Ob Felix sich aufregt, wenn ich den Hoodie vor der Badezimmertür liegen lasse? Immerhin komme ich nicht an meinen Wäschekorb und sein genervtes Gesicht zu sehen, ist zu lustig. Einen Versuch ist es definitiv wert.
»Kaffee?«, rufe ich und bekomme ein »Bist du irre?« zurück, das mich schmunzeln lässt. Also begebe ich mich durch die Tür vor mir und betrete meinen kleinen gemütlichen Wohnbereich. Eigentlich: Wohn- und Schlafbereich mit angrenzender Kochnische und Balkon.
Während ich meine Kuschelsocken von meinem Bett hole, bleibe ich vor dem Regal davor stehen. Die Pflanzen, die überall in meinem Raum verteilt sind, geben einen kläglichen Eindruck ab. Ich sollte sie dringend gießen.
Deshalb hole ich erst zwei Gläser Wasser und stelle sie auf den Wohnzimmertisch, um anschließend die Gießkanne zu füllen. Das gestaltet sich in meiner Miniküche alles andere als einfach, denn das Waschbecken ist echt mickrig. Das fällt richtig auf, wenn zwei Leute in der Küche stehen. Dann wird das Arbeiten darin absolut ungemütlich, weil man sich ständig in die Quere kommt, was Felix und mir oft genug passiert ist. Aber zumindest habe ich dadurch einen guten Grund, ihm nicht beim Kochen zu helfen.
Nachdem ich es endlich geschafft habe, die Gießkanne zu befüllen, stelle ich leise Musik an und beginne meinen Urwald zu wässern. Auch wenn die Ruhe nach der Lautstärke auf der Arbeit angenehm ist, kann ich mit Stille nicht umgehen. Sie lässt meine Gedanken laut werden und mich klein.
»Wasser? Echt jetzt?« Mein bester Freund fläzt sich aufs Sofa und lehnt sich nach hinten an.
»Du wolltest keinen Kaffee.« Ich zwinkere ihm zu und kann mich an seinem entspannten Anblick kaum sattsehen. Seine Beine liegen auf der L-Seite der Couch und er versinkt fast in den vielen Kissen, die mein buntes Lieblingspolster zieren. Auch bei der Auswahl dieser hatte er die Finger im Spiel. Mir hätte ein kleineres Exemplar gereicht, aber laut Felix muss auch Besuch irgendwo sitzen. Schlussendlich hab' ich nachgegeben.
»Aber auch kein Wasser, Jam. Hast du nicht irgendwas mit ...?«
»Du musst, wann wieder aufstehen? In gut zwei Stunden? Als ob ich dir jetzt was Alkoholisches gebe. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du zu spät zur Arbeit kommst.«
»Das wirst du eh.« Erneut bildet sich dieses süffisante Grinsen auf seinen Lippen. Blöder Mistkerl aber auch. Trotzdem gehe ich zu ihm und lasse mich neben ihm fallen.
Felix greift um mich und schiebt mich auf seinen Schoß, sodass ich rittlings auf ihm sitze. »Bekomme ich jetzt einen Kuss, ohne dass du mir die Eier abtrennst oder mich beißt?«
»Na, was ein Glück, dass dein Funzel nicht funktioniert hat.«
»Ich wollte dich nur ärgern.«
»Ach so?« Ich lege meine Hände auf seine Schultern, bewege mich sanft vor und zurück und kann die Reaktion direkt unter mir fühlen. »Wie war das? Das wird heute definitiv nicht viel Arbeit für mich?«
»Das geht nicht gut für dich aus, Jam«, murmelt er, fasst an mein Becken und hält mich an Ort und Stelle.
»Für mich oder dich, Mister vier Minuten?«
Ehe ich mich versehe, liege ich auf dem Rücken, er über mir und hält meine Hände über meinem Kopf fixiert. Dafür, dass Felix eine schmale Statur hat, ist er verdammt stark. Das jahrelange Schwimmtraining hat durchaus für eine gute Rücken- und Armmuskulatur gesorgt.
»Irgendwelche letzten Worte?«
»Jap.« Ich sehe ihm stur entgegen und bin mir sicher, dass er gleich genervt sein wird, doch das ist mir egal. »Was ist mit dir und Ivy los?«
Wie aufs Stichwort verfinstert sich seine Miene. O Mann. Das sieht wie ein ausgewachsenes Desaster aus. So viele Emotionen spielen sich nur selten in seinem Gesicht ab.
»Können wir bitte mit Runde eins beginnen und danach reden?«
Verwirrt blinzle ich ihn an. »Und das soll genau was bringen?«
»Druck ablassen?«
»Na hör mal, dafür hast du 'ne Hand.«
»Bitte, Jam. Ich will dich einfach spüren.«
Okay, jetzt reicht's. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen seinen Griff, sodass er nachgibt und wir uns aufrichten.
»Entweder du sagst mir, was los ist, oder bei uns läuft heute gar nichts. Meinst du, ich bin blöd oder was? Deine Tasche ist so groß, als wolltest du hier wieder einziehen.«
Felix seufzt frustriert auf und fasst sich an die Nasenwurzel. Reden tut er jedoch nicht. Plötzlich springt er auf, geht zum Regal und schnappt sich das Feuerzeug, das ich dort für meine Duftkerzen liegen habe. »Dann kann ich ja jetzt eine rauchen gehen.«
Ich bin so perplex, dass ich erst schnalle, was gerade abgeht, als er die Balkontür hinter sich zugezogen hat. Wie ein tasmanischer Teufel springe ich auf, hechte hinterher, reiße die Tür auf und schlage ihm die Packung aus der Hand. Im hohen Bogen fliegt sie über die Brüstung.
»Was soll die Scheiße? Kippen sind echt teuer!«
»Wirklich? Ja, Mensch, mir war gar nicht bewusst, dass man für den Tod auf Raten auch noch Geld bezahlen muss!«
»Filmreif, Jam. Wahnsinnig filmreif.« Er klatscht Beifall und verdreht Augen.
»Stell dir vor, deine Mum ist nicht umsonst an Lungenkrebs gestorben!«
»Dünnes Eis!«, knurrt er mich an und baut sich bedrohlich vor mir auf. Ja, das war ein Tritt unter die Gürtellinie und ja, es ist nicht fair von mir, aber auf die eigene Gesundheit zu scheißen ist auch nicht in Ordnung. Gerade Felix, der unter dem Tod seiner Mutter noch immer leidet, sollte das eigentlich wissen.
»Und jetzt?«, halte ich dagegen, sehe ihn an und verschränke die Arme vor der Brust. Noch so eine blöde Angewohnheit von früher, wenn ich Angst habe. Dabei weiß ich, dass er mir nichts tut. Dennoch sind Personen, die sauer sind, schwer einzuschätzen.
»Muss ich mich beruhigen, also lässt du mich entweder endlich ran oder ich geh' mir neue Kippen besorgen.«
Zuerst kommt der Schock. Darüber, dass er mir mit seinen Worten das Gefühl gibt, ich bin für ihn wirklich nur ein Druckablassventil. Anschließend übermannt mich die Wut. Wie blind öffne ich die Balkontür, trete einen Schritt zur Seite, blinzele die Tränen zurück und zeige in Richtung Wohnzimmer. »Tu dir keinen Zwang an, Felix. Aber nimm deine Tasche mit!«
»Fuck ...«
Dafür ist es jetzt definitiv zu spät. »Da ist die Tür!« Mit Nachdruck deute ich auf die Verglasung und versuche, das Zittern zu unterdrücken.
»Jamie ...«
»Hau ab!«
»Bitte, ich ... Fuck, ich hab nicht nachgedacht.«
»Ganz offensichtlich.«
»Lass es mich erklären.«
»Keinen Bedarf, danke. Und deine Zigaretten wachsen auch nicht in meiner Wohnung, also sorg dafür, dass du rauskommst.«
Er geht einen Schritt und ich beobachte ihn dabei. Anstatt jedoch durch die Tür ins Innere zu gehen, kommt er mir näher.
»Ich schwör' dir, wenn du jetzt versuchst, mich zu küssen, sind abgetrennte Eier und eine blutige Zunge dein kleinstes Problem!«
»Hatte ich nicht vor.« Er fährt sich durch die Haare und zerzaust damit seine Locken. Nicht, dass das ein Problem für ihn wäre. Seine Frisur sitzt immer so, als wäre dieser Chaos-Look für ihn geschaffen.
Um mich davon nicht ablenken zu lassen, seufze ich resigniert. Er ist mein bester Freund, nicht mein fucking Schwarm, verdammt! »Ernsthaft, jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst.«
Auch er seufzt. Bei ihm klingt es allerdings verzweifelt. Mal wieder greift er an seine Nasenwurzel. Es sieht aus, als würde er mit sich hadern, doch auch das ist mir egal. Mit Nachdruck deute ich auf die Scheibe.
»Das war dumm von mir ...«, murmelt er kaum hörbar, weshalb ich schnaube. Zeit zu antworten habe ich allerdings nicht. Seine Augen leuchten mir frustriert entgegen.
»Ivy ist schwanger.«
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