~30~

David lässt mich sofort los und dreht sich komplett zu Ines, wodurch sie prompt wieder aus meinem Blickfeld verschwindet. Hat sie mich auch gesehen? Und wenn ja, hat sie mich erkannt? Zitternd warte ich darauf, dass sie reagiert, doch es passiert nichts. Stattdessen regt sich der Kerl vor mir, der so steht, als wollte er mich mit Absicht abschirmen.

»Hey, Ines«, brummt er, was eher einem unterdrückten Knurren gleicht, gleichzeitig aber auch irgendwie unsicher klingt. Eine Mischung, die mich durcheinander bringt.

Ines hingegen schnaubt erneut. »Hallo, ›David‹.« Sie spuckt seinen Namen so verachtend aus, dass ich zusammenzucke. Scheinbar ist sie noch genauso selbstbewusst wie früher und auch ihre Stimme gleicht nach wie vor einem nervtötenden Kreischen.

David seufzt. »Du bist früher dran, als gedacht.«

»Oh, Verzeihung«, faucht sie, ohne eine Spur von Respekt oder auch nur Freundlichkeit. »Ich wollte den ›hinreißenden‹ David natürlich nicht dabei stören, wie er flirtet. Schon traurig, dass du nicht warten kannst, bis ›unser‹ Sohn sich nicht mehr in deiner Obhut befindet.«

Ihre Worte sorgen dafür, dass sich Davids Haltung verändert. Er ist sowieso schon groß, jetzt sieht es allerdings so aus, als würde er sich noch aufrechter hinstellen.

»Ich unterhalte mich nur«, sagt er ruhig, aber bestimmt. Dennoch höre ich die unterdrückte Wut, die Angst in mir aufsteigen lässt. Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder auf; ich weiß, was normalerweise folgt. Panik durchströmt meinen Körper und lässt mich erstarren. Ich kann nicht weglaufen, selbst wenn ich es wollte.

»Natürlich ...«, zischt sie sarkastisch. »Willst du mir ›deine Neue‹ gar nicht vorstellen?«

»Nein.«

Ihr plötzliches Lachen klingt so hoch und gekünstelt, dass mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Fuck! Ich bin hier wirklich mit David und Ines! Den beiden Personen, die mir die Schulzeit zur Hölle gemacht haben! Wie ist das nur passiert?

»Hast du etwa Angst, dass ich ihr erzähle, wie es zu unserem Ehe-Aus kam?«

»Ines ... bitte. Hör auf damit.« Ein Hauch von Verzweiflung schwingt in seiner Stimme mit, doch er kann die unbändige Wut nicht überdecken.

Mir ist vollkommen egal, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Das geht mich gar nichts an. Abhauen kann ich aber immer noch nicht. Meine Beine sind wie gelähmt. Was mache ich jetzt nur?

»Mama?« Der plötzliche Ausruf lässt mich zur Seite blicken. DJ rennt auf uns zu. »Mama!«, wiederholt er freudestrahlend und verschwindet aus meinem Blickfeld.

»Hey, Schätzchen.«

Aus irgendeinem Grund atme ich erleichtert aus. Ines' freundlicher Ton gegenüber ihrem Sohn klingt aufrichtig und obwohl mich auch das nichts angeht, freue ich mich für ihn.

»Sag Papa Tschüss und dann gehen wir, okay?«

»Ich will noch mal mit Jam rutschen.«

Mein Herz schlägt bei seinen Worten schneller und gleichzeitig höre ich David seufzen.

»Mit wem?«, fragt Ines und macht mich so nervös, dass meine Beine endlich reagieren. Der Kies knirscht laut unter meinen Schuhen, als ich einen Schritt zurückweiche. Mist!

»Jam! Meiner Freundin!«, ruft der kleine Mann wütend und klingt dabei genauso wie sein Vater früher.

»David, ist das dein scheiß Ernst?! Du lässt ›unseren‹ Sohn mit deiner Neuen ...?«

»Können wir das bitte nicht vor DJ austragen?«, unterbricht er sie unwirsch und ballt seine Hände zu Fäusten.

Die beiden sind mittlerweile so laut, dass sie die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich ziehen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich neugierige Blicke und Kommentare, die hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht werden. Einige filmen sogar die Szene, und obwohl ich ihnen gerne meine Meinung sagen würde, lässt mich auch meine Stimme im Stich.

Ines schnaubt erneut, bevor sie sich räuspert. »Du hast recht«, sagt sie mit hörbarer Beherrschung in der Stimme. »Wir klären das beim nächsten Mal. DJ, los, sag deinem Vater jetzt Tschüss.«

»Aber ich wollte doch rutschen!«

»Wir gehen jetzt!«

»Papa! Du hast es versprochen!«

»Tja. Papa sollte wohl keine Versprechen machen, die er nicht halten kann.«

Davids »Ines!« überschneidet sich mit DJs »Wie unfair!« Er krakeelt aus vollem Hals. »Ich will mit Jam rutschen. Ihr macht das ja nie mit mir! Ihr seid so gemein!«

»David James! Wirst du dich wohl benehmen!«

»Hör auf, ihn anzuschreien, Ines. DJ kann nichts dafür! Du bist sauer auf mich!«

»Ach!«

Die Situation eskaliert langsam. Ich wollte nicht, dass sie meinetwegen streiten und schon gar nicht, dass der kleine DJ darunter leidet. Es ist meine Schuld! Ein Schmerz breitet sich in mir aus, während ich die Schritte auf dem Kies, das Gebrüll von DJ sowie das Geschimpfe von Ines höre. David steht regungslos da, die Fäuste geballt und den Kopf gesenkt.

Überfordert weiche ich noch weiter zurück, spüre die Steinchen unter meinen Schuhen und beiße mir auf die Lippe. Als David sich zu mir umdreht und eine Augenbraue hochzieht, schaue ich jedoch an ihm vorbei. Der Anblick von Ines, die den tobenden DJ energisch fortschleppt, gibt mir den Rest. Tränen sammeln sich in meinen Augen, während ich verzweifelt versuche, sie zurückzuhalten.

Das ist zu viel! Alles erinnert mich unweigerlich an meine erste Pflegemutter, die keine große Geduld mit mir hatte. Immer wieder hat sie ihren Frust an mir ausgelassen, wenn ich nicht augenblicklich gehört habe. Ohne zu überlegen, drehe ich mich um und laufe los. Wäre ich nicht da gewesen, hätten sie sich nicht gestritten. Wäre ich nicht da gewesen, wäre das nicht passiert!

Plötzlich hallen die Worte meines Pflegebruders in meinen Ohren nach. Wie er mir vorwirft, nur eine Last für alle zu sein. Ich höre seine vor Hass triefende Stimme, als er mir sagt, dass ich ein Kind bin, das sich keiner wünscht. Und auch Felix' Stimme mischt sich darunter. Er hat ebenso in diese Wunde gestochen und mir damit schmerzhaft deutlich gemacht, dass ich wirklich nicht mehr als ein Störfaktor bin.

Die Tränen befreien sich und laufen über meine Wangen. Verzweifelt beschleunige ich meine Schritte. Ich muss hier weg. So weit wie möglich weg von David und ...

»Jam! Was machst du denn? Was soll das?«

Abrupt bleibe ich stehen, hebe irritiert den Kopf und sehe in Davids Gesicht. Die Wut, die ich im ersten Moment entdecke, weicht im nächsten einem anderen Ausdruck, der mich verwirrt. Es ist Sorge.

Warum sieht er mich so an? Warum ist er mir gefolgt, anstatt seinem Sohn hinterherzugehen? Beschämt wandern meine Augen woanders hin und ich blicke auf seine Hand, die meine Schulter umfasst. Erst jetzt realisiere ich, dass er mich gestoppt hat. Nervös weiche ich zurück und reibe mir über die Stelle. Berührungen von ihm kann ich gerade nicht mehr ertragen. Trotzdem war es nicht okay, ihn in diese Situation gebracht zu haben.

»Entschuldige«, würge ich hervor und senke meine Lider. »Ich wollte nicht, dass das ...«

»Es ist nicht deine Schuld«, unterbricht er mich sanft. Mein Kopf schüttelt sich automatisch, woraufhin ich ihn leise seufzen höre. »Ist es wirklich nicht«, setzt er nach. »Meine Ex ist manchmal ... nicht ganz einfach.«

»Mhm ...« Was soll ich dazu auch groß sagen? Ich kann ihm schlecht erzählen, dass das für mich nichts Neues ist.

Erneut formen sich Bilder vor meinen Augen, die mich dazu zwingen, mich zu bewegen. Bevor er mich daran hindern kann, laufe ich los. Leider lässt David sich jedoch nicht abschütteln und läuft einen Augenblick später neben mir her.

Während ich verzweifelt versuche, nicht erneut in Tränen auszubrechen und das mehr schlecht als recht hinbekomme, schweigt er. Aber das ist gut so, denn ehrlich gesagt wüsste ich nicht, worüber ich mit ihm reden sollte. Es reicht vollkommen, dass er mich in diesem Zustand sieht. Irgendwann werde ich langsamer und reibe mir nebenbei über die Wangen.

David seufzt erneut leise. »Bitte, lass es mich erklären.«

»W-was m-meinst du?«, bringe ich mühsam heraus.

»Das, was Ines gesagt hat?«

»I-ich wüsste nicht, w-was es zu erklären gibt«, flüstere ich und schürze die Lippen. Na super, jetzt stottere ich so schlimm wie lange nicht mehr.

»Du willst nicht wissen, wieso ...?«

»Nein. D-das geht m-mich nichts an«, unterbreche ich ihn. Er muss sich nicht rechtfertigen.

»Ja, mag sein«, murmelt er ebenso leise und atmet tief ein. »Aber ich würde es dir trotzdem gerne erklären ... vorausgesetzt, du möchtest das.«

Darauf antworte ich ebenso wenig und wir gehen schweigend weiter. Will ich wissen, was zwischen ihnen passiert ist? Will ich mehr von David erfahren? Die eine Seite in mir antwortet mit einem zaghaften ›Ja‹, während die andere mich unablässig und überaus laut fragt ›Wozu?‹. Was will er mit der Erklärung bezwecken? Gehört das auch zu seinem Plan des Kennenlernens?

Beim See bleibe ich endgültig stehen und knete nervös meine Hände. David stellt sich vor mich und sieht zu mir herunter. Seine Augen sind undurchdringlich und trotzdem leuchtet das Grün in ihnen jetzt gerade viel stärker als das Blau. Kurz glaube ich, das schon einmal gesehen zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern, wann.

»Also?«, fragt er. »Darf ich es dir erklären?« Dabei fährt er sich wieder durch die Haare. Es scheint ihm wichtig zu sein. Ich verstehe zwar nicht ganz warum, nicke aber dennoch.

Ein Lächeln zeigt sich und er deutet auf die Bank, auf der ich vorhin noch alleine gesessen habe. Beide gehen wir hin und lassen uns darauf nieder. Mein Blick wandert zurück zum Wasser, auf dem sich das Sonnenlicht bricht und in vielen kleinen Diamanten über die Oberfläche glitzert.

»Die Kurzfassung ist: Sie hasst mich, weil ich sie nicht geliebt habe.«

»Okay?«

»Ja, na ja ...« David beugt sich vor und schüttelt seinen Kopf. »Als Ines ungeplant schwanger wurde, waren wir noch sehr jung. Ich gerade neunzehn und sie kurz davor.« Sein Blick zuckt zu mir und ich nicke, um ihm zu zeigen, dass ich zuhöre.

»Mein Vater ... er war außer sich.« Schnaubend schüttelt David erneut den Kopf, blinzelt mehrfach und blickt zum See, als wollte er damit den Gedanken schnell wieder vertreiben. »Jedenfalls war ein uneheliches Kind für ihn absolut undenkbar, also musste ich Ines heiraten.«

»D-du warst doch volljährig. W-wieso hast du dich nicht geweigert?«

»Das ... war keine Option.« Abermals schnaubt er und richtet sich ein Stück auf. »Und trotzdem war es ein Fehler.«

»Weil du sie nicht ...?«

Er nickt und ich tue es ihm gleich. Ich mag nicht viel davon verstehen, aber ich weiß trotzdem, dass man nicht aus Zwang heiraten sollte. Nur wenn er nicht so für sie empfunden hat, wie sie für ihn, warum ... »Warum hast du dann mit ihr geschlafen?« Kaum sind die Worte aus meinem Mund raus, frage ich mich, ob ich wirklich so blöd bin. Als ob man dafür Gründe bräuchte.

»Weil ich ein Arsch war.«

Schnell presse ich die Lippen aufeinander, um ihm nicht zuzustimmen.

»Ich wollte mich ablenken, weil die, die ich wollte, unerreichbar für mich war ... und ich wusste, dass Ines auf mich steht.«

Noch immer bin ich still, obwohl ich ihm zustimme. Das ist wirklich arschig und deckt sich perfekt mit meinem Bild von ihm.

»Blöd war nur, dass sie mich wirklich geliebt hat und ich es nicht erwidern konnte. Selbst als sie schwanger war. Ja, sie hat mein Baby ausgetragen, aber für mich war das nur meine Pflicht. Eine Aufgabe, die ich zu bewältigen hatte.«

»D-du siehst DJ nur als Pflicht?«, rutscht mir so schockiert raus, dass David sich zu mir umdreht.

»Nein.« Sein Blick durchbohrt mich förmlich. »Ich liebe ihn. Er macht mich zu einem besseren Menschen und zeigt mir jeden Tag aufs Neue, dass Vatersein mehr bedeutet, als Regeln aufzustellen und durchzusetzen.«

»Zum Glück. Denn er ist ein wirklich toller Junge.« Das ist sogar mir aufgefallen und egal wie furchtbar David auch sein mag oder gewesen ist, bei seinem Sohn gibt er sich Mühe.

»Ist er. Deshalb muss er nicht darunter leiden, dass Ines mich hasst. So etwas wie eben versuche ich eigentlich zu vermeiden.«

»Deswegen lässt du dich von ihr ...?«

»... Anschnauzen?«, vollendet er meinen Satz schmunzelnd, weshalb ich nicke. Obwohl ich andere Worte gewählt hätte, kommt es letztendlich auf dasselbe hinaus.

»Auch ... Aber im Grunde liegt es an meinem schlechten Gewissen. Mit der Hochzeit habe ich ihr noch mehr Hoffnung gemacht und als ich die Scheidung wollte, habe ich ihr Herz gebrochen.«

»Du bestrafst dich also selbst?«

»Wenn du das so ausdrückst, klingt es, als wäre ich ein Heiliger«, entgegnet er leise lachend, was die Stimmung ein wenig hebt. Auch ich stimme mit ein und ziehe meine Beine auf die Bank. Ich bin mir sicher, dass ich die letzte Person auf dieser Welt bin, die in ihm einen Heiligen sieht, aber irgendwie bin ich erleichtert, dass er nicht mehr so niedergeschlagen wirkt.

Langsam lehnt er sich gegen die Parkbank und schaut zum Himmel. »Seit der Trennung ist es nicht einfach für DJ. Ich will es ihm nicht noch schwerer machen, indem ich Ines aufrege.«

»Dann solltest du vielleicht keine anderen Frauen treffen«, murmele ich schulterzuckend. Wenn er weiß, wie sie reagiert, könnte er es ja vermeiden.

»Das sagt ausgerechnet diejenige, die einfach aufgetaucht ist.«

»Nur zur Erinnerung: Ich wollte gerade gehen. Du hast mich aufgehalten.«

»Und ich würde es wieder tun. Egal, was Ines dazu sagt«, setzt er nach und plötzlich werde ich rot. Irritierende Schauer laufen über meine Arme und seine Aussage widerspricht sich selbst. Wenn er seine Ex nicht verärgern will, sollte er solche Dinge definitiv lassen!

Er dreht sich zu mir. »Es mag für sie schwierig sein, aber ich darf mich mit anderen Frauen treffen. Genauso wie sie sich mit anderen Männern treffen darf. Dazu sage ich auch nichts.«

»Für dich ist es ja auch einfacher, weil es dich nicht stört.«

»Irgendwann wird sie verstehen, dass sie jemand Besseren verdient als mich.«

»Vielleicht«, antworte ich und zucke erneut mit den Schultern. »Aber ich kann sie trotzdem verstehen. Sie hat dich verloren, ihre große ... ähm ...« Verdammte Scheiße! »Jedenfalls ... will sie ihren Sohn nicht auch verlieren ... Denke ich zumindest.«

»Da hast du wahrscheinlich recht. Nur kann man nicht verlieren, was man nie besessen hat und Kinder lieben bedingungslos.«

Ich sehe das mit den Kindern anders, behalte es aber für mich. Wie sollte er auch verstehen? Immerhin hatte er eine Familie, die immer für ihn da gewesen ist.

Eine Weile schweigen wir, bis sein Arm meinen plötzlich streift. Vermutlich war es unbedacht und doch durchzucken mich sofort tausend kleine Nadelstiche. Trotz meiner Angst spüre ich etwas Anderes. Dieses ›Etwas‹ macht mich unruhig, denn es fühlt sich nicht nur unangenehm an. Es ist seltsam und frustrierend zugleich. Verdammt! Ich will das nicht und sollte endlich gehen.

»Jam?«, flüstert er leise und reißt mich aus diesem Zustand. »Du hast gesagt, ich soll mein Glück versuchen ... also, wie wäre es mit einem Kaffee?«

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