10. Revier

"Hey, Stanley! Bist du überhaupt bei der Sache? Ich rede hier wie ein Wasserfall über unseren Fall und du hörst überhaupt nicht zu!", beschwerte sich sein Arbeitskollege Ryan lautstark.

"Sei still. Ich habe eine andere Idee, aber von dieser darfst du keinem etwas verraten", begann Stanley zu erzählen. "Wir müssen direkt zum Ort des Geschehens."

Ryan blickte ihn nur verdattert an. "Wohin?"

"Zum Rotlichtviertel."

"Was?! Das dürfen wir nicht!"

"Sei bitte leise", bat Stanley seinen Gegenüber. "Ich bin mir dessen selbst bewusst, aber wir haben keine andere Wahl. Das ist unsere einzige Chance. Hilfst du mir?"

Der Deputy zögerte, rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und begann auf seiner Unterlippe zu kauen. Er hielt es sichtlich für eine schlechte Idee, denn wenn sie auffliegen würden, könnte es ihnen den Job kosten.

"Gut, ich hole dich abends um 21 Uhr ab und dann werden wir einige Menschen befragen, verstanden?"

"Wenn du das für die einzige Lösung hältst ... "

"Ja, halte ich. Also bis nachher."

Stanley ließ oft keine Diskussionen oder andere Vorschläge zu, lieber fing er an, sich um das Choas in seinem Büro zu kümmern. Denn seine Logik bestand darin: wenn er hier Ordnung schaffen könnte, dann vielleicht auch in seinem Kopf. Doch der junge Mann von der Straße benebelte seine eh schon wirren Gedanken.
Hoffentlich meldet er sich.

Frustriert plumpste er in seinen Schreibtischstuhl und nippte an seinem längst kalt gewordenen Kaffee. Angewidert verzog er sein Gesicht.

Die Zeit verging heute gar nicht, auch wenn er noch sehr viel zu tun hatte.

Einige Minuten später ließ der schrille Klingelton seines Handys ihn zusammenfahren; sofort nahm er den Anruf an, ohne auf die Nummer zu achten.
"Stanley Remington. Was gibt es?"

"Stan, hier ist Liv. Du hast dich ja schon ewig nicht mehr bei mir gemeldet. Wie geht es dir? Steigt dir die Arbeit etwa wieder zu Kopf?"
Seine Schwester klang wahrhaftig besorgt. Wie immer, wenn sie ihn anrief.

"Mir geht's gut", murmelte er etwas enttäuscht, da er eigentlich mit einer männlichen Stimme gerechnet hatte. "Und dir?"

"Ah, wortkarg wie sonst auch."

"Ich habe zur Zeit viel zu tun, esse nur Mist in Form von verdammtem Fast Food, schlafe kaum, weil wir den größten Fall des LAPD am Laufen haben und kann die Arbeit eigentlich bereits mein zweites Zuhause nennen. Wie klingt das?"

"Damit habe ich schon gerechnet, denn dafür kenne ich dich zu gut, kleiner Bruder. Aber schön, dass du dich selbst und andere mal nicht belügst."

"Hm. Und bei dir? Was ist da zur Zeit los?"

"Nur das Übliche. Als Friseurin lebt man nun mal ruhiger als du ... ", seufzte sie leise, nachdenklich. "Du musst anfangen, besser auf dich zu achten. Oder du lernst endlich mal jemanden kennen, der auf dich aufpasst."

"Ja, ja. Ich brauche niemanden."

"Hör auf so einen Quatsch zu erzählen. Jeder braucht irgendwen."

"Wenn du meist. Darf ich nun weiterarbeiten?"

"Natürlich, meine Pause ist ohnehin gleich vorbei", meinte sie in einem resignierten Ton. "Aber du kannst ja mal demnächst vorbeischauen. Müssen deine Haare eigentlich wieder geschnitten werden oder kannst du sie noch bändigen?"

Stanley atmete tief aus und legte seinen Kopf in den Nacken, sodass er die weiße Raufasertapete der Decke betrachten konnte.
"Alles in Ordnung, Liv. Wir sehen uns."

"Okay, dann bis bald. Hab dich lieb!", rief sie in das Mikrofon ihres Telefons und legte anschließend auf.

Mit einem leichten Lächeln legte Stanley sein Handy beiseite. Die Bindung zwischen ihm und seiner Schwester war stark. Sie wurde sogar noch stärker, nachdem ihre Eltern gestorben sind.

' ' '

Am Abend holte Stanley seinen Arbeitskollegen wie abgemacht gegen 21 Uhr ab. Die beiden fuhren zum besagten Viertel, wobei Ryan deutlich nervöser wurde, je näher sie diesem kamen.

"Hey, bleib ganz entspannt. Wir befragen ein paar Leute und dann verschwinden wir wieder", meinte Stanley gelassen, denn er war ja bereits einmal hier gewesen und wusste, was ihn erwarten konnte.
"Hast du deine Dienstmarke und deine Waffe dabei?"

"Natürlich." Ryan berührte beides an der Innenseite seines Jacketts.
"Denkst du ich begebe mich ohne diese Sachen in so ein kriminelles und gefährliches Viertel? Vermutlich kommt uns sogar gleich der Leichen- und Drogengeruch entgegen."

Stanley verdrehte kommentarlos die Augen und hielt so wie den Tag davor auch am Straßenrand neben der bekannten dunklen Gasse.
"Da wären wir. Und denk' daran: die Menschen, die ein weißes Armbändchen tragen, haben vermutlich etwas damit zu tun."

"Du bist verrückt, Boss. Wenn wir hier erwischt werden ... "

"Wer soll uns hier erkennen, Ryan?", fragte er rhetorisch, während er bereits seine Autotür öffnete. "Komm jetzt!"

Sie blickten sich auf der Straße um und richteten dabei ihre prüfenden Blicke auf sehr viele Handgelenke. Währenddessen bemerkten sie nicht, wie sich eine junge Frau den beiden näherte.

"Oh, hallo. Waren Sie nicht gestern Abend schon hier? Dieses Auto würde man überall wiedererkennen", sprach sie in einem laszivem Ton und machte Stanley schöne Augen.

Ryan wandte sich schockiert zu Stanley um und starrte diesen mit großen Augen an.
"Was?!"

"Beruhige dich", zischte Stanley leise zurück. "Die Aktion hat gestern keinen Erfolg gebracht. Deshalb bist du nun dabei."

Verständnislos schüttelte der jüngere Polizist seinen Kopf.

"Mein Name ist Chastity und wie ist deiner, Süßer?", fragte sie Ryan, während sie diesen an seinem Oberkörper berührte. Dabei bemerkte er ein weißes Armband an ihrem Gelenk und sofort schlug er innerlich Alarm.

"R-ryan. Wir hätten ein paar Fragen an Sie."

"Ryan? Klingt ja nett. Aber fürs Fragen beantworten werde ich leider nicht bezahlt."

"Heute vielleicht schon", mischte sich Stanley mit ein, der sich diese Chance diesmal nicht entgehen lassen konnte.

Er brauchte diese Antworten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top