07. Ein Missverständnis

Stanley kehrte abends in seinem Privatwagen zu der Straße zurück, in der er mit seinen Kollegen die Razzia durchgeführt hatte. Er war auf der Suche nach Antworten und hoffte, diese hier zu finden, wenn er ein paar Passanten befragte.

Er hielt am Straßenrand und ging noch einmal eine der vielen Akten durch, die er aus seinem Büro mitgenommen hatte, bis es plötzlich an seiner Scheibe klopfte.

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Für Levin lief es heute schlichtweg schlecht. Vielleicht lag es aber daran, dass er aufgrund letzter Nacht keine Kraft hatte und sich eher im Schatten der Straßengassen versteckte.

"Hey, Lev. Was machst du denn noch hier?", kam Chastity langsam auf ihn zu, als wäre er ein verängstigter, obdachloser Hund.
"Hattest du nicht mal gesagt, dein Boss würde dich umbringen, wenn du ohne Geld zurückkommen würdest?"

Levin senkte seinen Blick und nickte leicht, fing kurz darauf aber an, den Kopf zu schütteln.
"Ich kann nicht; mir tut alles weh, ich habe Hunger ... "

"Schau!" Chastity unterbrach ihn inmitten seiner Selbstmitleidstirade und zeigte auf einen Wagen, der genau vor der Gasse zum Stehen kam, in der sich die beiden gerade unterhielten.
"Den Wagen habe ich hier noch nie gesehen, und glaub mir, ich kenne jedes Nummernschild. Vielleicht hast du ja Glück."

Ohne auf Levin's Antwort zu warten, schob sie diesen in die Richtung des fremden Autos; so wie an seinem allerersten Arbeitstag. Und genauso wie an seinem ersten Tag fühlte er sich gerade auf einmal auch -, unwahrscheinlich nervös, als er vorsichtig an die Scheibe des Wagens klopfte und sich herunterlehnte, um seinen potentiellen Kunden zu betrachten. Zu seiner Verwunderung musste er feststellen, dass der Mann in seinem Alter sein musste und tatsächlich attraktiv war. Er trug ein weißes Hemd mit dunkelblauer Krawatte und eine dazu passende Anzughose. Seine Haare schienen dunkelblond zu sein, da war sich Levin aufgrund der dimmen Beleuchtung nicht ganz sicher, aber was er noch erkennen konnte, war ein Dreitagebart und kleine Lachfalten, oder dessen Blick nach zu urteilen eher Sorgenfalten, an Augenwinkeln und Stirn.

Levin hingegen ... Levin trug in kalten Nächten wie diesen bloß eine abgetragende Schicht Kleidung. Zum einen weil er zeigen musste, was er zu bieten hatte und zum anderem weil er sich sowieso nichts besseres und wärmeres hätte leisten können. Also nahm er mit einer zerrissenen Jeans, einem zu kurzen T-Shirt und einem roten Halstuch vorlieb. Letzteres trug er eigentlich nur, wenn er Würgemale verdecken wollte; und heute war eben so ein Tag.

Als sich ihre Blicke trafen, schien deren Welten wie in einem klischeehaft kitschigen Film stehenzubleiben. Der Blick des fremden Mannes wirkte überrascht, als hätte man ihn gerade bei etwas Verbotenem erwischt, (was tatsächlich auch der Wahrheit entsprach - geheime Akten an einem öffentlichen Platz lesen? Ausgerechnet in der Gegend, in der sich der Verbrecher vermutlich versteckte? Zum Glück war Stanley alleine unterwegs), und der Blick von Levin schien unentschlossen.

Stanley drückte den Knopf für das Herunterlassen der Scheibe und setzte zu einer formellen Vorstellung an, doch ihm wurde bereits das erste Wort abgeschnitten.

"Was möchten Sie?", fragte Levin vorsichtig, aber höflich, weil die Männer auf seine devote Art standen. Als der ältere Mann nicht antwortete, seufzte Levin leise und begann nachzudenken.
"Ich kenne hier einige gute Motels und kann Ihnen gerne den Weg dorthin zeigen."

Der Mann öffnete seinen Mund, schloss ihn allerdings wieder, als er keinen Ton herausbrachte. Er sah ihn nur mit weit aufgerissenen dunkelgrünen Augen an. Manchmal würde Levin zu gerne Gedanken lesen können.

Super. Noch so ein versteckter Homosexueller.

Bevor sich Levin weiter in den Wagen hineinlehnen konnte, um den Mann etwas aufzulockern, holte dieser seine Dienstmarke aus der Innenseite seiner Jacke heraus und hielt ihm diese wortlos vor die Nase.

Auf Levin's Gesicht machte sich die blanke Angst breit und er verharrte für einige Sekunden in seiner Position.

Oh.

Nein, warte ... stand dieser Kerl etwa auf Rollenspiele?

"Ich- okay, was haben Sie vor? Mich mit irgendwelchen Handschellen fesseln?", er hob symbolisch die Hände, die er aneinanderpresste, wobei er unbeabsichtigt seine bereits geschundenen Handgelenke und ein dünnes weißes Bändchen preisgab. "Oder eine Verfolgungsjagd? Die kann ich Ihnen heute leider nicht bieten", fing er an, bereute seine Worte aber im selben Moment. Er hatte nie ein Mitspracherecht; er musste immer das machen, was Kunden von ihm verlangten. "Obwohl- obwohl ich es für Sie natürlich versuchen würde."

"Was?", sprach der Mann sichtlich verwirrt und schüttelte den Kopf, als wäre er in einem schlechten Traum gefangen. Er steckte die Dienstmarke wieder weg und drückte den Knopf für die Entriegelung des Wagens, wobei Levin bei diesem Geräusch der Autotür zurückschreckte.

"Steigen Sie erstmal ein, bitte. Ich kläre Sie dann auf ... Es muss ja nicht jeder mit anhören", meinte Stanley ruhig und wartete geduldig, bis Levin das tat, was ihm gesagt wurde.

Der Wagen war sauber und es roch verdammt gut nach einem klischeehaften Vanille-Wunderbaum, den jeder dritte in seinem Wagen zu hängen hatte. Ein Blick zum Rückspiegel bestätigte dies, denn dort hing tatsächlich so ein Baum.

Stanley stellte nebenbei den Motor ab und wandte sich anschließend an Levin.
"Ich bin Detective Stanleyton Wright und ich möchte wirklich bloß einige Fragen stellen und hoffe, dass Sie mir diese ehrlich beantworten können. Und wahrscheinlich stellen Sie sich jetzt auch einige Fragen, zum Beispiel, um was es sich für einen Fall handelt oder besser noch: was ein Detective in so einer Gegend sucht. Nun, der Grund ist ziemlich simpel: ich bin verzweifelt."

"Ich-", setzte Levin panisch an, "tut mir leid", stammelte Levin, als er verstand, dass er es mit einem echten Detective zu tun hatte und nicht mit einem, der sich nur für einen ausgab. Levin machte Anstalten aus dem Wagen auszusteigen, doch die Finger des anderen Mannes schlossen sich um sein wundes Handgelenk und sein Herz schien in seine Hose zu rutschen. Prostitution war illegal, das wusste er, aber er durfte auf keinen Fall verhaftet werden! Die Bestrafungen, die auf ihn zukommen würden, wollte er sich keineswegs ausmalen. Nicht die Bestrafungen der Polizei, sondern die Bestrafungen von seinem eigenen Boss, wenn dieser davon Wind bekommen würde und ihn aus den Knast holen müsste.

Andererseits waren hier des öfteren auch Cops zu sehen, die sich mit Prostituierten vergnügten, obwohl es gegen das Gesetz war.

"Ich möchte nichts ... desgleichen, was Sie vorhin aufgezählt haben. Außerdem klang das ziemlich verstörend, wenn Sie mich fragen. Okay, ich schweife ab", meinte der Detective kurz lachend, um seine Nervosität zu überspielen, riss sich aber kurz darauf wieder zusammen.
"Ich möchte bloß reden", beharrte Stanley noch einmal ausdrücklich und verwirrte Levin damit sichtlich, der seine Augenbrauen zusammenzog.

"Ah, sorry", murmelte der Detective plötzlich als er bemerkte, dass er immer noch dessen Handgelenk mit seinen Fingern umschlossen hatte und es schließlich losließ. "Tut mir leid."

"Ich schwöre, ich nehme keine Drogen, Sir", begann Levin ohne auf das Gesagte einzugehen, um seine Strafe zu mildern, falls es wirklich zu einer Verhaftung kommen würde. Währenddessen presste er seine Hand an seinen Oberkörper und massierte sich mit der anderen Hand das Gelenk, in der Hoffnung, dass es die Schmerzen lindern würde.

Jedenfalls nicht freiwillig.

"Das ist eine strenge Regel meines-", stammelte Levin nervös weiter, verstummte allerdings, bevor er den Satz beenden konnte; er hatte bereits zu viel gesagt und das könnte ihm den Kopf kosten.

"Tut mir leid, aber mit Reden verdient man in meinem Geschäft nun mal kein Geld", fügte er noch hinzu, legte dabei eine Hand vorsichtig an den Türgriff und sah Stanley flehend an, als würde er ihn schweigend fragen wollen, ob er gehen könnte.

Stanley schaute ihn für einen Moment an; für Levin's Geschmack sogar zu lange.

Nach einem resignierten Seufzen sagte der Detective schließlich:

"Heute schon.
Anschnallen, bitte."

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