06. Zuhälter Alastair

Levin.

Levin war müde. Er war so müde, dass man seinen Zustand beinahe als Fatigue hätte bezeichnen können. Außerdem musste er so langsam wieder etwas zu sich nehmen, denn sein Blutzucker war vermutlich im Keller.

Und er musste schlafen, doch er wusste nicht ganz, wo. Meist schlief er in den Motels, die die Kunden für eine Nacht gemietet hatten. Doch heute hatte er keine Chance. Ihm blieb nichts anderes übrig als ihn um Hilfe zu beten.

Und er wollte es kein zweites Mal wagen auf der Straße zu übernachten. Das letzte und erste Mal, als er dies getan hatte, wurde er nicht nur ausgeraubt, sondern aufgrund dessen auch beinahe von den Handlangern seines Bosses totgeprügelt.

Auf dem Weg zum Bordell fing er an zu zittern. Er legte seine Arme um sich, als würde dies irgendwas bessern.

"Levin!", rief eine Stimme von der Seite, der er sofort seine Aufmerksamkeit schenkte.

Es war Everest. Er schien noch jünger zu sein als Levin, aber er hatte nie den Mut gehabt, ihn diesbezüglich zu fragen. Dessen Augen schienen leer, so wie immer, wenn er mit Everest Kontakt hatte. Und manchmal waren seine Pupillen auch geweitet, oder nur so groß wie ein Stecknadelkopf. Es war merkwürdig; genauso merkwürdig wie sein Verhalten.

"Hm? Ja, was willst du?"

"Hast du- hast du Geld für mich? Nur achtzig Dollar! Oder fünfzig."
Seine Unterlippe bebte beim Sprechen und als er bemerkte, wie Levin zu zögern begann, redete er weiter. "Ich habe heute kaum etwas verdient, bitte."

Levin seufzte leise. Er kannte diesen Jungen kaum, wusste aber, dass das Leben auf der Straße hart war. Daher gab er schließlich nach und holte einen fünfzig Dollar Schein aus seiner Jeanstasche heraus.

"Danke!" Kurz erhellte sich die traurige Miene des Jungen, bevor er mit dem Geld von dannen zog.

Levin blickte ihm für einige Sekunden nach und ging dann weiter. Nachdem er in das Bordell eingetreten war, hallten seine Schritte in dem leeren Gang wider. Ruinierte Sohlen auf einem dreckigen Boden. Er brauchte dringend neue Schuhe.

Der Aufzug war (wieder einmal) kaputt, also nahm Levin die Treppe und zählte dies als seine tägliche Bewegung. Auch wenn er die zehntausend Schritte bestimmt schon geschafft hatte.

Die Tür mit der Nummer 512 am Ende des dunkelroten Korridors war weiß und aus hochwertigem Material, aber die Türklinke schien abgegriffen.

Er blieb vor dieser Tür stehen, atmet ein paar Mal tief ein und aus und hob dann die zitternde Hand, um zögerlich zu klopfen.

Es dauerte nicht lange, bis man ihm die Tür öffnete und ein Mann mit stattlicher Statur in sein Sichtfeld trat.

"Oh, Levin."

Dessen Stimme war tief und kratzig, was vermutlich daran lag, dass er am Tage mehrere Zigaretten und teuerste Zigarren rauchte und um die zwanzig Jahre älter war als Levin. Seine Wangen wurden von einem starken Bartschatten bedeckt und seine blauen Augen wirkten kalt, emotionslos.

Zudem trug er nur dunkle maßgeschneiderte Anzüge, die eine gewisse Dominanz auszustrahlten.

"Wie viel hast du verdient?", fragte er, woraufhin Levin aus seiner Starre erwachte. Mit zitternden Fingern holte er die zerknitterten Scheine aus seiner Gesäßtasche hervor und hielt sie seinem Boss anschließend hin. Dieser blickte unbeeindruckt drein und riss sie Levin anschließend aus der Hand.

"Sechshundert? So wenig?"

Ein kalter Schauer lief Levin's Rücken hinab, weil er sofort mit einer Bestrafung rechnete. Obwohl er sich die ganze Nacht abgerackert hatte, war es immer noch nicht genug. Es würde nie genug sein.

Missbilligend gab der Mann hundert Dollar davon zurück, weil es so in ihrem gemeinsam unterschriebenen Arbeitsvertrag
vereinbart wurde.

"Vielleicht solltest du dir davon ein Paar neue Schuhe gönnen", meinte der Zuhälter namens Alastair grinsend.

Levin nickte leicht und warf Alastair zum ersten Mal einen richtigen Blick zu, als dieser ihn fragte, weshalb er immer noch hier herumstehen würde.

"Ich-", begann Levin leise.

"Ja?" Alastair lächelte gekünstelt, während er eine Hand zu Levin's Wange hob, um diese zu liebkosen. Levin schloss angewidert die Augen und versuchte die Erinnerungen zu verdrängen, die wieder an die Oberfläche zu kommen schienen. Alastair, wie er auf ihm war, unter ihm, neben ihm. Zwar vor geraumer Zeit, aber er würde es dennoch nie vergessen können.

"Kann ich heute hier schlafen?"

Alastair begann zu lachen. Eine Reaktion mit der Levin nicht gerechnet hatte. Auf welchen Drogen war dieser Kerl denn dieses Mal?

Alastair sagte zwar nichts, machte aber eine Kopfbewegung zum Inneren des Raumes. Levin nickte daraufhin gehorsam und huschte an Alastair vorbei.

"Zieh dich aus", hieß es keine zwei Sekunden später und Levin hatte den Mut, Alastair einen fragenden Blick zuzuwerfen.

"Was? Dachtest du etwa, du könntest hier einfach so hereinspazieren, ohne dafür zu bezahlen?", schnaufte Alastair verächtlich und warf die Dollarscheine symbolisch auf die Kommode, wobei der Ruß des Aschenbechers aufgewirbelt wurde und anschließend langsam zu Boden rieselte.
"Aber falls du vergessen hast, was du bist: ich will deinen Körper, nicht deine traurigen Augen. Obwohl die bei einigen Kunden bestimmt schon reichen würden, um sie hart werden zu lassen, hm?"

Levin schluckte schwer, erkannte die Rhetorik in dessen Frage und schwieg während er sich langsam vor ihm auszog. Als dann alle Sachen auf dem Boden lagen, zog Alastair zufrieden einen Mundwinkel nach oben und kam in seinen Bewegungen sehr beherrscht, auf Levin zu.

"Stell dich mit dem Gesicht an die Wand", ordnete er Levin an und fügte noch ein "na los!", hinzu, als dieser nicht sofort parierte.

An der Wand stehend, kniff Levin die Augen zusammen und fing an, zu beten.
Für was oder für wen, wusste er selbst nicht genau.

_

Am nächsten Morgen wachte er mit einem Gefühl auf, als hätte er drei Nächte hintereinander durchgemacht. Getrocknetes Blut klebte an seiner Nase und an seinem rechten Augenwinkel. Die mittlerweile gelockerten Fesseln an seinen Handgelenken hatten blaue Flecken und Abschürfungen hinterlassen. Und als er sich leise räusperte, schmerzte seine Kehle - vom vielen Schreien? Betteln?

Was macht das schon für einen Unterschied, wenn man wieder mit Drogen vollgepumpt wird!

Levin konnte sich nicht wirklich an Drogen erinnern, geschweige denn an etwas anderes aus dieser Nacht, doch er vermutete es natürlich. Anders hätte er sich seinen Gedächtnisverlust und seine Willigkeit nicht erklären können.

Er atmet tief ein und aus und schloss letztendlich noch einmal die Augen, um sich auszuruhen. Am hellichten Tage verdiente man sowieso keinen einzigen Dollar und bis abends hatte er noch genügend Zeit.


Stanley.
Vergangenheit.

"Stanley, Ryan, schwingt eure Ärsche in mein Büro, bevor ich euch beide mit meinen bloßen Händen hierher ziehe!"

Ryan's Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Grinsen und Stanley schnaubte.

"Kommen Sie rein und schließen Sie die Tür", sprach deren Boss, der sich in seinem Bürostuhl aufrichtete. "Einer unserer alten Fälle wurde wieder aufgerollt; Menschenhandel und minderjährige Prostitution."

"Bitte sagen Sie mir nicht, dass es-"

"Doch, es handelt sich um Alastair."

"Wer ist dieser Alastair überhaupt?" fragte Stanley, für den dieser Fall völlig neu war.

"Wir denken, dass dies sein Alias ist, es gibt keinen richtigen Namen. Weißer Mann, Ende vierzig, leitete früher mehrere Bordells. Es ist bekannt, dass er sowohl Männer als auch Frauen und Kinder verkauft, der jüngste, der gefunden wurde, war nicht älter als zwölf. Er ist ein verdammtes Arschloch. Und wir konnten ihn nicht fassen!"

"Weil wir ihn nicht finden konnten", ergänzte Ryan. "Es gibt - oder gab - keine bekannte Adresse, kein Haus, in dem die Aktivitäten stattfanden, nichts. Irgendwann kamen wir ihm zu nahe und er verschwand."

"Und jetzt scheint er wieder aufgetaucht zu sein?"

Ryan rieb sich die Schläfen und ließ den Kopf schwer nach vorne hängen. An dessen Verhalten konnte Stanley bereits sehen, dass sie diesen Fall nicht genießen würden.

"Also, wo fangen wir an?"

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