9. Kapitel | Die Mona Seda
Tatsächlich brauchten mir länger als ein Stündchen, bis wir an einem mir unbekannten Haus hielten. Theodore wollte für die Fahrt nicht mal die fünf Dollar aus meiner Tasche und die zehn Dollar aus Jesses Brieftasche haben, er war nur froh uns jungfräulichen Langweiler endlich abzuschütteln und seinen Weg in Richtung Norden fortzufahren.
»Wo sind wir?«, wollte ich wissen und ging einen Schritt voraus, aber Jesse blieb wie angewurzelt stehen und griff panisch nach meinem Handgelenk.
»Bullen«, fluchte er und zog mich in einem Vorgarten und hinter einen Gebüsch.
»Was, wenn die Bewohner sich gleich über die zwei Menschen in ihrem Vorgarten wundern?«, flüsterte ich.
»Das Haus steht seit Anfang des Monats leer«, lässt Jesse mich wissen und setzte sich mit dem Hintern auf die Wiese. »Steht zum Verkauf und so.«
»Und was machen wir in diesem Schicki-Micki-Viertel?«, hakte ich weiter nach. Auch ich setzte mich aus der Hocke auf den kühlen Boden - und das einmal wieder viel zu nah an Jesse und wandte mich zu ihm.
»Das Haus meiner Tante in dem ich wohne, dort stehen zwei Bullenfahrzeuge, Seda, die haben das Haus im Blick und ich kann vor Glück sagen, dass sie nicht drinnen gewesen sind.« Er fluchte auf und fuhr sich durchs zerzauste, dunkelblonde Haar. »Hoffentlich. Nicht.«
Ich kapierte, was er mir sagen wollte. »Ihr kocht doch nicht etwa in deinem Keller?", spieh ich ihm leise entgegen.
Er nickte leicht. »Der Wohnwagen ist im Arsch und steht zur Reparatur vor dem Haus, yo, ich hoffe, die Bullen sind gleich weg und wir können das Zeug im Keller los werden.«
»Wie willst du das los werden? Wir haben keinen fahrbaren Untersatz.«
»Ich habe im Haus ganz gut ein Einweghandy versteckt. Ich muss nur ein Anruf machen, aber dazu müsste ich erstmal ins Haus kommen.« Nervös blickte er zu mir. »Ich brauche deine Hilfe. Danach erledigen wir alles weitere.«
»Wo willst du das Equipment hinbringen, Jesse?«
»Weg von hier. Einfach nur weg von hier.«
Es dauerte eine Weile, bis die Polizeiautos wegfuhren. Sofort und unter einen ziemlich prüfenden und aufmerksamen Blick, liefen Jesse und ich über die Straße zum Haus in dem Jesse lebte.
Jesse verriegelte die Haustür und suchte gemeinsam mit mir das Haus ab. Als wir bemerkten dass wir alleine waren, holte Jessi aus seinem Geheimversteck das Wegwerfhandy hervor und tätigte einen Anruf.
Er telefonierte mit einem Typen namens Badger, der Jesse kaum zu Wort kommen ließ, während ich Jesse in den Keller folgte. Da traf mich wirklich der Schlag.
Jesse und Mr. White hatten hier wirklich ein Labor errichtet, indem das reinste und blauste Meth hergestellt wurde, was ich jemals zu Gesicht bekam.
Jesse zeigte mir eine Tüte, eine Probe, der letzten Kochsession mit Mr. White. Ich war zwar beeindruckt, aber ich würde niemals auf die Idee kommen diese Art von Droge zu nehmen - oder überhaupt irgendeine Droge in meinen eigenen verfickten vier Wänden herzustellen! Es reichte schon, dass ich öfters kiffte und sämtlichen Alkohol trank, und das meistens in der schrecklichen Kombination.
Dann fragte ich Jesse ob er sein Zeug ebenfalls nahm. Er nickte leicht, während er hektisch die Gläser, Kolben und alles andere was man zum Meth kochen brauchte, in die vorhandenen Kisten stellte. Ich half ihm dabei, nicht ohne mir vorher Einweghandschuhe überzuziehen- bin ziemlich vorsichtig dabei dass auch ja nichts kaputt geht. Wir trugen angespannt und in völliger Aufregung die Kisten mit dem kostbaren und zerbrechlichen Inhalt in den Wohnwagen der in der Einfahrt parkte.
Als ich aus dem Wohnwagen sprang, um wieder ins Haus zu verschwinden, erschrak ich mich fürchterlich, als ich am Schluss verschlossenen Gartenzaun einen viel zu großen und verwirrten Typen stehen sah.
Er wirkte völlig irritiert, als er mich sah und beschuldigte mich erst mal, als Diebin. Aber Jesse reagierte schnell, klärte den Typen namens Badger auf, damit dieser zur Ruhe kam. »Sie ist ein Freund von uns. Kein Feind«, sprach Jesse zu ihm, als müsste er ein kleines Mädchen beruhigen, die eine Bekanntschaft mit einer Spinne machte. »Ich hab dir doch von Goodmans Nichte erzählt. Das ist sie. Das ist Seda.«
Badger schaute plötzlich, als hätte es in seinem Kopf Klick gemacht. Ich dachte nur darüber nach, in welchen Kontext Jesse mich gegenüber seinem Kumpel erwähnt hatte.
»Hi«, sagte ich grüßend und verschwand wieder ins Haus, um einen Kanister mit irgendeinem gefährlichen und chemischen Inhalt hochzuholen. Ich war absolut nicht im Bilde, wie man Meth kocht und was man alles für Zutaten braucht.
Sowas lernte man auch nicht in der Highschool - es sei denn, man ist Lehrer an einer Highschool. Genauso wenig wie man Steuererklärungen schreibt - und das ist traurig genug. Das mit den Steuererklärungen und nicht mit dem Meth.
»Dafür, dass du dich erstmal aufregen musstest, irgendeine Schickse herumzufahren, glotzt du sie ununterbrochen an, als würde sie nackt vor dir stehen«, hörte ich Badger von weiten sagen. Ich verzog das Gesicht zu einem belustigten Schmunzeln und blieb im Flur stehen, um weiter zulauschen. Das Jesse mich anglotzte, hatte ich bemerkt, aber ununterbrochen? Nee, dass war sichtlich übertrieben.
Mir war es absolut egal, solange man mir nicht ungefragt zu nahe kam. Außerdem war Jesse, bis jetzt, ein netter Kerl, der gefühlt immer weiter in die Scheiße abrutschte. Ich meinte damit, die ganze Drogenkoch und Drogendealer-Sache.
Als sich in der Wüste die Wege zwischen Jesse und mir und Mr. White trennten, unterhielten wir uns ein bisschen. Er stellte wieder Fragen über mich und ich stellte wieder Fragen über ihn, und netterweise ließ Jesse die Fragen über Hector Salamanca aus. Jesse erzählte mir, wie er und Mr. White in diese Kochgeschichte gelandet waren.
Ich hätte mit der Krebserkrankung von Mr. White eigentlich schon einiges zusammenzählen können. Der arme Mr. White erhielt kurz nach seinem 50. Geburtstag die Diagnose: Lungenkrebs. Scheiße genug, aber das war noch nicht alles. Mr. Whites Sohn ging noch auf die Highschool, erkrankte ebenfalls an einer Krankheit, weshalb er an Krücken gehen musste, dazu war Mrs. White auch noch mit dem zweiten Kind schwanger.
Außerdem reichte das Gehalt von Mr. White weder für die Collegevorsorge seiner Kinder, noch für seine Behandlung. Wie der Zufall es wollte, durfte Mr. White seinen DEA-Schwager Hank bei einem Drogeneinsatz begleiten, dort kam er wohl auf die Idee selbst ins lukrative Geschäft einzusteigen.
Jesse erzählte mir, dass er an dem Tag der Razzia abhauen musste, weil die DEA sein Labor hochnahm, Mr. White hätte ihn bei der Flucht wohl gesehen und ihm später solange genervt, bis dieser mit ins Geschäft einstieg, um hochqualitatives und reines Meth herzustellen. Als ich wissen wollte, woher Mr. White das alles wusste, antwortete Jesse mir, dass er Mr. Whites Schüler war und dieser Chemie unterrichtete.
Badger und Jesse zogen nich mit ihrer Diskussion aus meinen Gedanken heraus, blieben aber weiterhin draußen. »Ich glotze sie nicht andauernd an, yo. Das ist pervers.«
»Ach komm, sie ist wie die Mona Lisa, ein Kunstwerk, sie kann man nur anstarren«, entgegnete Badger. »Wenn du nicht nach ihrer Nummer fragst, mach ich es.«
»Sie wird dir ihre Nummer aber nicht geben, weil sie unter normalen Umständen nicht mit Kerlen wie uns verkehrt, und außerdem hast du eine Freundin, Badger. Yo, wir sind die Scheiße unter ihren Schuhen. Sie ist Ärztin.«
Nur weil ich „fast" Ärztin war hieß es nicht, dass ich was Besseres war, dass ich Kleinkriminelle von oben herab behandelte. Ich meine, die Leute konnten sympathischer sein, als die meisten hochnäsigen Ärzte, die ich kennenlernen durfte und musste. Ich hing schon immer gerne mit der Scheiße unter meinen Schuhen ab, vor allen Dingen, weil ich selbst einmal die Scheiße unter dem Schuh war und noch immer bin.
»Dafür, dass ihr die angebliche Scheiße unter meinen Schuhen seid, habe ich euch lieber um mich herum, als meine beschissenen Arbeitskollegen, die allesamt keinen Stock, sondern einen gewaltigen Stamm im Arsch stecken haben«, tönte ich und trug die Kiste mit den Chemikalien nach draußen.
Die beiden blickten mich an, als hätte ich sie auf frischer Tat beim Dealen ertappt. Jesse zog sogar den Kopf ein und kratzt sich den Nacken. »Ich meinte das nicht so.«
Ich stieg in den Wohnwagen und er kommt mir hinterher. »Du bist der Meinung, weil ich Ärztin bin, bin ich was besseres«, sagte ich und stellte die Kiste zu den anderen.
»Du bist Ärztin und ich... ich bin nur... na, eben ich. Leute wie dich, meiden normalerweise Leute wie mich.«
»Jesse«, sagte ich und wandte mich zu ihm. »Auch ich war, um deine Worte zu benutzen, vor dem College die Scheiße unter dem Schuh und ich bin es auf er Arbeit noch immer. Ich komme aus keiner reichen Familie, mein Studium wird mir von einem Stipendium finanziert, weil Jimmy und ich das sonst nicht hätten bezahlen können. Was glaubst du, was meine Kollegen, deren Eltern denen noch immer das Geld in den Arsch schieben von mir halten?« Ich erwartete bei meiner Pause keine Antwort. »Richtig, ich bin die Scheiße unter deren Schuhwerk, eine die während des Studiums etliche Arbeiten nachging, um sich die Miete für die Wohngemeinschaft zu leisten, weil ich aus dem Wohnheim gezogen bin, eine, die dort drüben noch immer Kontakte zu Leuten wie dich hat, weil die mir lieber sind.« Ich hatte genug gesagt und wollte das Thema wechseln. »Wohin soll der ganze Kram, wenn die Kiste sich nicht fahren lässt?«
Jesse sagte erstmal nichts, sondern kratzte sich nachdenklich den Nasenrücken. »Badger hat einen Cousin, der besitzt eine Autowerkstatt mit Abschleppservice und Schrottplatz, der wird das Ding zur Überbrückung auf seinen Hof bringen, bis alles abgekühlt ist.«
»Dann kannst du ja auch gleich fragen, ob er das alte Ding reparieren kann.«
Jesse nickte. »Ja...« Er rang mit sich und fasste mir dann eher zurückhaltend für einen kurzen Augenblick an den Unterarm. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Es ist eigentlich nach dem heutigen Tag klar, dass du irgendwie völlig normal bist.«
»Irgendwie?«, fragte ich skeptisch und zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Naja, die Sache mit Tuco... das mit dem vernichten der Beweise. Das alles. Machst du so einen Scheiß öfter?«
Ich schürzte die Lippen und gab einen komischen laut von mich. »Sowas? Nein«, log ich und hoffte, dass Jesse mir das auch abkaufte. Normalerweise war ich ziemlich gut in Lügen und brachte mich noch nie aus der Fassung. Gerade aber, fühlte ich mich das allererste mal ertappt und ich haderte wirklich damit, Jesse, der mich aufmerksam anblickte, die Wahrheit zu sagen. Aber ich verkniff es mir, über den anderen Teil meines Lebens zu reden, den dunklen Teil, den illegalen. »Das erste mal. War aber nur eine Ausnahmesituation. Hoffentlich.«
Er nickte. »Okay, du scheinst das alles ziemlich gelassen zu sehen, auch währenddessen. Ich frage nur, weil mich frage, ob das eine andere Art von Nervenzusammenbruch ist. Ich meine, ich bin kurz davor loszuheulen, weil der Tag mit Abstand ziemlich beschissen verlaufen ist.«
»Ich heule nicht gerne vor Menschen, bin da eher der einsamer Heuler«, entgegnete ich sarkastisch und ging auf Jesse zu. »Heulen ist gut, bloß nicht unterdrücken.«
Keine Ahnung, wieso ich ihn freundschaftlich auf die Schulter klopfte, aber es war einfach nur lächerlich. Ich sprang aus dem Wohnwagen heraus und landete direkt neben Badger, der mir wie ein kleines Kind zuwinkte. »Unten war, denk ich, noch eine Kiste.«
Ich setzte mich gerade in Bewegung, da kam mir Badger zuvor. »Ich mach das schon Mona Seda...« Er hielt an der Tür inne. »Oder doch eher Seda Lisa?« Fragend blickte er mich an und ich zuckte ahnungslos mit den Schultern.
»Mona Seda hört sich gut an«, pflichtete Jesse bei und setzte sich auf die dreckigen Treppenstufen in der Wohnwagentür. Er wirkte mehr als erschöpft, war völlig fertig mit den Nerven und auch ich konnte es kaum erwarten für etliche Stunden, nach einem Bad, oder eine ausgiebigen Dusche, endlich ins Bett zu kommen.
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