9 Atemlos

Vorwort:

Für dieses Kapitel gebe ich eine Triggerwarnung: Es geht unter anderem um Kindesmissbrauch und die lebenslangen Folgen für ein Opfer. Ich rate Euch davon ab, weiterzulesen, wenn ihr vorher schon wisst, dass dieses Thema schlechte Gefühle in Euch auslöst (auch wenn es hier keine detaillierten Beschreibungen geben wird).

Außerdem gibt es eine Beschreibung einer weniger konventionellen Sexualpraktik.



Wie versprochen machte sich Stiles am folgenden Tag bereits im Morgengrauen auf den Weg zum Anwesen der Argents. Er schlich sich sehr vorsichtig näher und dachte dabei mit Grauen an die berühmte Waffensammlung von Christopher Argent.

Er tröstete sich damit, dass er es für Scotts Glück tat.

Ein besserer Grund zum Sterben fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

Dann sah er es; die Gitter vor Allisons Zimmerfenster!

Scott hatte sich also nicht umsonst gesorgt. Seine Liebste war tatsächlich ertappt worden, wie es aussah.

Zunächst spähte Stiles in sämtliche Fenster im Erdgeschoss, um sich zu vergewissern, dass noch niemand wach war, der ihn möglicherweise beim Landfriedensbruch erwischen könnte und dann kletterte er die Rosenleiter hinauf. Ein Blick in ihr Fenster verriet ihm, dass Allison noch schlief.

In einem komplett verwüsteten Zimmer!

Sehr vorsichtig und mit Herzrasen klopfte er an ihre Fensterscheibe. Zum Glück hatte Allison einen leichten Schlaf, erhob sich benommen und öffnete dann leise ihr Fenster. Sie sah aus, als habe sie zuvor stundenlang geweint und genau so war es wahrscheinlich auch gewesen:

„Was ist denn hier passiert?" erkundigte sich Stiles flüsternd und deutete auf die Müllkippe in Allisons Zimmer: „Waren das etwa deine Eltern?"

Allison schüttelte den Kopf:

„Nein, das war ich selbst!" bekannte sie.

Dann erzählte sie Stiles alles, was vorgefallen war und schloss damit, dass sie bestimmte:

„Sag' Scott, dass er mich vergessen muss! Er soll nicht versuchen, mich zu sehen, oder irgendetwas anderes Dummes anzustellen, sonst werden meine Eltern ihn vermutlich noch umbringen! Er soll sich ein anderes Mädchen suchen und sich neu verlieben. Das mit uns beiden wird niemals etwas; das haben meine Eltern mehr als deutlich gemacht, als sie mich hier eingesperrt haben wie Rapunzel im Turm!"

„Du weißt, dass Scott trotzdem kommen wird, oder?" fragte Stiles: „Niemals wird er dich einfach so aufgeben und weitermachen, als sei nichts geschehen. Er liebt dich nämlich wirklich! Und wenn es ihn am Ende sein Leben kostet!"

„Du bist sein Freund, also sorg' dafür, dass er es versteht! Er darf NICHT hierher kommen!" forderte Allison.

Dann lauschte sie und ihre Augen weiteten sich erschrocken:

„Meine Eltern wachen gerade auf." verkündete sie: „Sieh' zu, dass du ungesehen von hier wegkommst! Lauf!"

Stiles nickte und das Fenster wurde geschlossen.

Stiles kletterte in Windeseile wieder herunter und rannte los, so schnell seine Beine ihn trugen, während er halb befürchtete, dass man ihm jeden Moment eine Ladung Schrot in den Allerwertesten schießen würde.

Er kehrte nachhause zurück und erstattete Scott Bericht, woraufhin dieser sehr unruhig wurde und am liebsten sofort aus dem Bett springen wollte:

„Ich muss sie da rausholen!" rief er entsetzt: „Sie braucht mich! Ihre Eltern machen sie sonst kaputt!"

Stiles drückte seinen besten Freund zurück ins Bett:

„Beruhige dich! Im Augenblick ist sie nicht in Gefahr. Und du bist bestimmt nicht in der Verfassung, da hineinzustürmen und heldenhaft deine Liebste zu retten. Deine letzte Begegnung mit Allisons Vater hat dich beinahe umgebracht! Ich schwöre, ich lasse mir etwas einfallen, aber jetzt musst du erst mal wieder gesund werden, ja?"

Stiles legte sich zu Scott und küsste seine Stirn:

„Ich muss doch auf dich aufpassen, Bruder!"

Scott begann zu schluchzen:

„Und wer passt auf Allison auf? Sie werden sie mit irgendeinem Kerl verheiraten, mit dem sie dann standesgemäße Enkelkinder produzieren muss wie...wie eine Zuchtstute!"

Scotts Atem ging mit einem Mal heftiger, wurde dann sehr schnell würgend und krampfhaft. Er versuchte immer mehr Luft in seine Lungen zu saugen, aus Angst davor, zu ersticken.

Stiles wusste, was das bedeutete.

Sein bester Freund hatte diese Anfälle zum Glück nicht häufig, aber bisweilen kam es doch vor und Stiles hatte sehr gut gelernt, damit umzugehen.

Bereits als Junge von zehn Jahren hatte er einmal einen ganzen Tag in der Bibliothek von Eichen-Haus damit zugebracht, herauszufinden, was Scott fehlte und wie ihm zu helfen sei.

Natürlich hatten Kinder damals nichts in der Bibliothek zu suchen gehabt und diese war auch stets verschlossen gewesen, doch Stiles hatte einen der Pfleger sozusagen bestochen.

Es war gar nicht viel, was er im Gegenzug dafür tun musste. Der Kerl wollte bloß ein paar Fotografien von ihm machen.

Nackt!

Halb so schlimm!

Einen Arzt hatten die beiden sich natürlich zu keiner Zeit in ihrem Leben leisten können, aber Stiles hatte auch so bei seinen Recherchen anhand der Symptome herausgefunden, dass Scotts Krankheit Asthma hieß:

„Hey, Kumpel! Hör mir zu! Keine Panik, ja? Du weißt, was zu tun ist, richtig?" sagte Stiles sanft.

Scotts Augen waren schreckgeweitet, doch er nickte.

Stiles half ihm, sich aufzusetzen und die Beine über den Bettrand zu schwingen:

„Vorbeugen!" befahl er.

Scott saß nun da, wie ein Kutscher auf dem Bock, leicht vornübergebeugt, so dass die Rippen sich ein wenig auseinanderziehen konnten und die Bronchien nicht mehr gestaucht waren.

Dann ließ Stiles seinen Patienten durch fast geschlossene Lippen Atmen, mit der Betonung auf der Ausatmung. Denn anders als Scott in dieser Situation immer fürchtete, hatte er nicht zu wenig, sondern zu viel Luft in seinen Lungen, wusste Stiles.

Stiles selbst legte im Ofen einen Scheit nach und brachte Wasser zum Kochen, in welches er dann einige Heilkräuter gab, die er extra für diesen Zweck immer vorrätig hatte. Diesen Sud füllte er in eine Metallschüssel, stellte diese auf Scotts Schoß und legte ihm ein Handtuch über den Kopf, damit er inhalieren konnte.

Während er das tat, kroch Stiles hinter seinen Freund und streichelte über dessen Rücken und Brustkorb, damit er sich noch ein wenig mehr entspannen konnte.

Nach einer Weile ging Scotts Atem wieder ruhig und gleichmäßig, doch er war müde und abgekämpft.

Stiles stellte also die Schüssel beiseite, sorgte dafür, dass sein Freund sich wieder hinlegte, bettete sich daneben und schmiegte seinen Kopf auf dessen Brust:

„Danke!" murmelte Scott:

„Jederzeit!" gab Stiles zurück.

Es sollte noch eine weitere Woche dauern, bis Scott nach seinen Verletzungen wieder einigermaßen hergestellt war.

In dieser Woche war Stiles also in Geschäftsangelegenheiten weiterhin auf sich allein gestellt und kümmerte sich ohne Hilfe um die Destille.

Besonders mühsam war es, die neue Lieferung Rohstoffe zur Maischeherstellung heranzuschleppen. Er lud die Getreidesäcke bei Nacht auf einen Handkarren und schaffte sie ihn in mehreren Touren zu ihrem Versteck in den Wald. Auch mit Scotts Hilfe war dies immer der mühsamste Teil der Arbeit, doch ganz allein war es die Hölle.

Aber Stiles wusste sich zwischendurch auch durchaus zu amüsieren. Er war in dieser Woche mehrmals in der kleinen Gasse hinter dem „Kiras" gewesen, denn dort war ein beliebter Treffpunkt für Männer wie ihn. Zweimal hatte er sich dort mit Fremden amüsiert; irgendwelchen Wanderarbeitern, oder Durchreisenden, die er danach nie wieder sehen oder auch nur ihre Namen erfahren musste.

Bei zwei weiteren Gelegenheiten hatte er dort Danny getroffen; einen netten, harmlosen Jungen aus gutem Hause, mit dem Stiles schon früher ein paar Mal mitgegangen war.

Dannys Familie durfte auf gar keinen Fall erfahren, was dieser so trieb. Er war einer von denen, die eine Verlobte hatten, nach außen die Fassade aufrecht hielten und der dann gelegentlich in diese hohle Gasse kam, um Spannungen abzubauen.

Stiles fand diese Art zu leben zwar ein bisschen erbärmlich, doch ihm sollte es recht sein.

Natürlich war dieser Treffpunkt Bürgermeister Deucalion ein Dorn im Auge und von Sheriff Stilinski wusste Stiles, dass dieser dem Gesetzeshüter eine Zeit lang deswegen das Leben schwer gemacht hatte, weil er verlangt hatte, dem Treiben ein Ende zu machen.

Doch wie das Schicksal so spielte, hatte Stilinski bei einer der Razzien, die er daraufhin durchführen musste, einen der Zwillinge des Bürgermeisters mit heruntergelassenen Hosen und in Gesellschaft eines anderen Kerls erwischt.

Statt diesen festzunehmen, hatte er den Jungen nachhause gebracht und ein ernstes Wörtchen mit dem Bürgermeister gesprochen; ihn quasi erpresst, die Männer, die sich dort trafen, komplett in Frieden zu lassen, denn sonst würde er Deucalions Sohn Ethan verhaften und unter Anklage stellen lassen.

Und so hatten der Bürgermeister und der Gesetzeshüter nun ein zähneknirschendes Abkommen, diesen 'Schandfleck' in ihrer hübschen, kleinen Stadt zu ignorieren.

Der Sheriff war eben ein anständiger Kerl, hatte nie ein Problem mit Stiles Veranlagung gehabt und lebte in dieser Hinsicht ganz nach dem Motto 'leben und leben lassen!'

Ethan war allerdings, sehr zu Stiles Bedauern, nach diesem Vorfall nie wieder in der Gasse aufgetaucht. Vorher hatten sie nämlich durchaus das ein oder andere Mal miteinander zu tun gehabt, denn natürlich hatte Stiles sich einen hübschen Kerl wie ihn nicht entgehen lassen.

Dann kam der Tag, an dem Stiles wieder einmal Ware übergeben musste und er hatte keine Ahnung, vor welcher Begegnung ihm mehr grauste: Vor der mit Deaton, oder vor der mit Peter?

Immerhin hatte er für die Übergabe mit Deaton Vorkehrungen getroffen, indem er Boyd mitnahm.

Vernon war mit Ausnahme von Scott und Stiles selbst der Einzige, der wusste, dass die beiden hinter Peters Rücken auch noch mit dessen Widersacher Geschäfte machten. Er war irgendwann dahinter gekommen und doch hatte er die Jungs nie an seinen Boss verraten.

Als Stiles mit der Bitte an Boyd herangetreten war, sich dessen Muskeln für ein bis zwei Stunden ausleihen zu dürfen, hatte dieser zunächst anzüglich gegrinst, bis Stiles ihm sein Anliegen genauer erklärt und ihm für den Auftrag Geld angeboten hatte:

„Bezahl' mich lieber in Naturalien!" erwiderte Vernon.

Dann zog er Stiles mit einem Ruck an sich heran und fügte hinzu:

„Gib' mir jetzt eine Anzahlung und den Rest erledigen wir später!"

Stiles lachte und fragte:

„Du weißt, dass das ein schlechter Deal für dich ist, oder? Ich mach's auch ohne Gegenleistung mit dir!"

„Dann nennen wir es halt einen Freundschaftsdienst!" erwiderte Boyd, griff nach Stiles Hinterteil, hob ihn hoch und trug ihn hinüber zu seiner erbärmlichen Schlafstätte.

Derart gestärkt machten sich die zwei eine Stunde später auf den Weg.

Boyd hielt sich im Hintergrund, so als sei er nur zufällig bei der Übergabe dabei, doch er hatte seine Hemdsärmel weit hochgekrempelt und ließ die imposanten Muskeln spielen, als er mit einem großen Messer; also eigentlich mehr einem Dolch, gelangweilt in einer Ecke stehend seine Fingernägel reinigte.

Deaton war zwar ein großer, kräftiger Kerl, aber nicht im Vergleich mit Boyd.

Der Gangster warf dem Riesen einen missmutigen Blick zu und wollte von Stiles wissen:

„Wo ist denn dein üblicher Komplize?"

„Der hat Urlaub!" gab Stiles zurück.

Dann schaffte er die Ware herein; die gleiche Menge, wie üblich!

„ICH HATTE DIR DOCH GESAGT, DASS MIR DAS NICHT MEHR REICHT!" brüllte Deaton ihn an.

Boyd stieß seinen Dolch kriegerisch und wortlos in eine Tischplatte in Deatons Unterschlupf und Stiles antwortete gelassen:

„Und ICH hatte DIR gesagt, wenn du mehr Ware willst, dann musst du investieren, Kumpel!"

Er streckte auffordernd die Hand aus, bis Deaton grollend bezahlte.

Stiles nickte Boyd zu.

Dieser schnappte sich seine Waffe und folgte Stiles nach draußen.

Als sie nebeneinander herliefen, schien Stiles sehr zufrieden mit sich und dem Verlauf der Operation, doch Boyd war skeptisch:

„Der Mann ist eine Hornisse Stiles. Du solltest ihn nicht reizen!"

„Was meinst du?" fragte Stiles ratlos: „Es ist doch gut gelaufen!"

Boyd schüttelte den Kopf:

„Eine Hornisse stirbt, wenn sie dich sticht und dennoch tut sie es, wenn du sie verärgert hast. Rache und das Gefühl die Oberhand zu behalten ist diesem Kerl wichtiger als alles andere; auch wichtiger, als sein Geschäft und vielleicht sogar als sein Leben. Ich habe Angst um dich, Mann!"

„Was denn? Bist du jetzt mein Ehemann, oder was?" spottete Stiles.

Vernon gab ein kleines Knurren von sich:

„Nein, bin ich nicht! Ich sehe dich bloß irgendwie als eine Art Freund an und davon habe ich nicht allzu viele. Außerdem mag ich deinen Arsch! Es würde mir leidtun, dich in Stücke gehackt in einem Straßengraben liegen zu sehen!"

Das war wohl so dicht an einer Liebeserklärung, wie es jemandem wie Boyd möglich war.

Stiles überspielte seine Rührung, indem er Boyd den Ellenbogen in die Rippen stieß und fragte:

„Lust, irgendwo hinzugehen, wo du dir meinen Arsch genauer anschauen kannst, ehe ich zu Peter muss und der am Ende noch Deaton darin zuvorkommt, mich in Stücke zu hacken?"

Stiles hatte keine Ahnung, was ihn bei Peter wohl erwarten mochte und so hatte er es überhaupt nicht eilig, die Übergabe vorzunehmen. Lieber nahm er sich in Vernons Hütte ein wenig mehr Zeit, als üblich. Statt wie gewöhnlich, sehr zielgerichtet vorzugehen, nahmen die beiden dieses eine Mal die Panoramastrecke, genossen die Aussicht und hinterher lagen sie sogar noch eine Weile zusammen und hielten einander fest.

Boyd betrachtete den Kontrast des dürren hellen Arms, der quer über seiner dunklen breiten Brust ruhte und kommentierte:

„Du bist wirklich unheimlich blass, Mann! Hast du eigentlich was gegen Sonnenschein?"

Stiles zuckte mit einem kleinen Grinsen mit den Schultern:

„Ich werde nicht braun. Ich werde höchstens rot und verbrenne." dann hob er den Kopf und blickte Boyd prüfend an: „Wieso? Stört es dich? Magst du keine weißen Jungs?"

„Umgekehrt!" knurrte der Größere: „Weiße Jungs mögen mich nicht. Also, alle außer dir!"

Stiles lächelte und brachte sich über ihn:

„Ehrlich? Was für Idioten! Die haben keine Ahnung, was ihnen entgeht!"

Er beugte sich zu Boyd hinab und küsste ihn.

Dann erhob er sich bedauernd und verkündete:

„Ich fürchte, ich muss nun los! Wünsch' mir Glück!"

„Soll ich mitkommen? Zur Sicherheit?" wollte Boyd wissen.

Stiles schüttelte den Kopf:

„Nein! Du arbeitest für Peter. Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen."

Stiles war mehr als nur ein wenig flau im Magen, als er sich am Abend, es wurde bereits dunkel, am vereinbarten Treffpunkt einfand und Peters Gorillas erblickte. Gemeinsam mit diesen, schleppte er die Ware zu einem von Peters Verstecken und fast hatte er schon die Hoffnung, den großen Boss selbst gar nicht treffen zu müssen, doch leider tauchte Peter für die Geldübergabe dann doch noch höchstpersönlich auf. Als er nun auch noch seine Leute wegschickte, raste Stiles Herz schließlich wie eine Dampflokomotive.

Was kam wohl als nächstes?

Mord ohne Zeugen?

„So, so!" sagte Peter schnurrend: „Du und mein Neffe also?"

Zweihundert Prozent tapferer, als Stiles sich in Wirklichkeit fühlte erwiderte er kühn:

„Ich habe dir gesagt, es geht dich nichts an, mit wem ich es außer mit dir sonst noch so treibe, Peter! Das gilt auch für Mitglieder deiner Familie!"

Peter nickte schmunzelnd:

„Ich mag dich, Stiles!" erwiderte er und hauchte dem Jüngeren einen Kuss auf die Wange.

Dann händigte Peter ihm sein Geld aus und verschwand ganz einfach.

Stiles gelang es erst nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder, tief durchzuatmen, als er seinem Boss, Schrägstrich dämonischem Liebhaber, Schrägstrich persönlichem Alptraum hinterher blickte.

Alles in allem war Stiles ziemlich zufrieden mit seinem Leben, wie es gerade lief:

Scott war beinahe wieder der Alte, geschäftlich lief doch auch alles recht gut und Stiles hatte mehr Sex, als in Jahren.

Alles war großartig bis auf...

...den Schlüssel, der ihm tagsüber ein Loch in seine Hosentasche brannte...

...und dieser komischen neuen Angewohnheit, besagten Schlüssel abends mit ins Bett zu nehmen und ihn in der Hand zu halten; so fest, dass er ihn auch am Morgen noch bei sich hatte, als handele es sich um einen Talisman oder ein Heiligtum.

Scott hatte den Anstand besessen, nicht danach zu fragen oder einen Kommentar dazu abzugeben.

Und ganz heimlich in den stillen Momenten, wenn Stiles kurz vor dem Einschlafen diesen Schlüssel hielt und seine Kontrolle ein wenig fiel, dann erlaubte er sich ganz kurz einen kleinen Gedanken an grüne Augen und große, warme Hände.

Heute erwachte Scott und war fest entschlossen, hinüber zu Allison zu gehen, um sie aus den Fängen ihrer teuflischen Eltern zu retten:

„Ich lasse dich nicht allein in dein Verderben rennen." rief Stiles aufgebracht: „Was hast du denn vor? Willst du einfach an der Vordertür klingeln und sagen 'Gestatten dass ich ihre Tochter mitnehme und mit mir in einen Abgrund aus Armut und Verbrechen hinunterziehe?', oder wie? Die bringen dich um!"

„Trotzdem!" beharrte Scott starrköpfig.

Stiles nickte schließlich. Er wusste, er würde Scott nicht davon abhalten können, also musste er wenigstens Schadensbegrenzung betreiben:

„In Ordnung. Ich werde mit dir kommen. Aber ich muss vorher noch etwas besorgen, was uns einen Vorteil verschafft. Es kann ein paar Stunden dauern. Warte bitte solange auf mich, ja?"

Scott zuckte nichtssagend mit den Schultern, also wiederholte Stiles nachdrücklich:

„Bitte. Warte. Auf. Mich!"

Er blickte ihn ernst und eindringlich an und schließlich konnte Scott nicht anders; er lächelte ein ganz klein wenig und nickte:

„Versprochen! Ich warte auf dich!"

„Danke!" murmelte Stiles und küsste seinen Freund auf die Lippen, ehe er verschwand.

Stiles atmete tief durch, um sich Mut zu machen, ehe er an der Tür klingelte.

Miss Reyes öffnete und Stiles fragte schüchtern:

„Ist der Boss zuhause?"

Sie nickte, entfernte sich einen Moment und kam kurz darauf wieder:

„Er ist bereit, dich zu sehen!" erklärte die Hausdame nüchtern und führte Stiles in den Salon, wo Peter mit geöffnetem Hemd leger auf einem der großen, teuer aussenden Sofas saß und eine Zigarre rauchte.

Miss Reyes entfernte sich und Peter erhob sich, lächelte ein wenig und wollte wissen:

„Was verschafft mir die Ehre deines Besuches? Sehnsucht vielleicht?"

Stiles stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus und erwiderte:

„Sicher Peter, das auch! Außerdem will ich dich um einen kleinen Gefallen bitten. Ich brauche eine Waffe!"

Peter riss überrascht die Augen auf und fragte dann belustigt:

„Wen willst du denn über den Haufen schießen?"

„Niemanden!" versicherte Stiles: „Ich will nur für ein ausgewogeneres Kräfteverhältnis sorgen. Also? Bekomme ich nun eine Waffe von dir? Du kriegst sie auch hinterher zurück!"

Peter betrachtete den jungen Mann nachdenklich und schließlich erklärte er:

„Du kriegst eine Waffe und ausreichend Munition von mir und du kannst die Pistole sogar behalten, denn ich denke, es kann nicht schaden, wenn du und dein süßer, kleiner Freund euch verteidigen könnt."

Stiles war überrascht, denn das hatte er sich schwieriger vorgestellt, doch natürlich kam das dicke Ende erst noch:

„Das hat natürlich seinen Preis!" fügte Peter nämlich hinzu.

Stiles seufzte:

„Was willst du?"

Peter grinste breit:

„Komm' mit mir nach oben."

Stiles Herz pochte ängstlich gegen seine Rippen:

„Und was soll ich da?" wollte er wissen.

„Mir den Tag versüßen natürlich; was sonst?" gab der Ältere zurück: „Aber diesmal machen wir es auf meine Art!"

Stiles schlang die Arme eng um den eigenen, mageren Körper, als würde er frieren. Dann nickte er:

„Einverstanden!"

Am liebsten hätte er Peter um Alkohol gebeten, um das, was ihm bevorstand nicht allzu deutlich spüren zu müssen, doch andererseits wollte er nicht vollständig die Kontrolle über die Situation verlieren. Und auch wenn er und Scott später drüben bei den Argents wären, musste er auf jeden Fall unbedingt Herr seiner Sinne sein, also 'Nein' zum Alkohol!

Als Stiles hinter Peter die breite Treppe zu dessen Schlafzimmer hinaufstieg und ängstliche Übelkeit in ihm aufstieg, schwor er sich auf einen Gedanken ein, den er im Geiste immer wieder vor sich hin sagte: Du tust es für Scott, du tust es für Scott, du tust es für Scott, du...!

Als Peter eine Schlinge um Stiles Hals legte, versicherte sich dieser ängstlich:

„Du wirst mich doch nicht töten, oder Peter?"

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, küsste ihn und forderte dann:

„Zieh dich aus! Vertrau' mir!"

Stiles vertraute Peter nicht.

Nicht genug jedenfalls!

Er sagte sich, dass der Ältere, egal was sonst so zwischen ihnen vorgefallen war, nie sein Wort gebrochen hatte.

Er sagte sich weiterhin, das Prügel, Beschimpfungen, Drohungen oder was auch immer jetzt kommen sollte; dass die Wunden die er davontrüge heilen würden.

Das hatten sie doch schließlich immer getan!

Peter legte Stiles eine Augenbinde und Knebel und dann auch wieder die Fesseln, wie beim letzten Mal an.

Damit fielen für Stiles folgende Möglichkeiten aus: Flucht, Gegenwehr, mittendrin 'Nein' zu sagen, oder zu sehen, was ihm zugefügt wurde.

Also kurz gesagt, jegliche Kontrolle über die Situation!

Und Atmen konnte Stiles nur noch durch die Nase!

Es zeigte sich sehr schnell, dass die Körperöffnung, durch die er Luft holen konnte sein kleinstes Problem war, als Peter die Schlinge um seinen Hals zuzog. Überhaupt Luft zu bekommen, war das weitaus größere Problem. Das Blut staute sich in Stiles Kopf und er hatte das Gefühl seine Augen würden ein wenig aus ihren Höhlen treten und seine Zunge anschwellen. Sein Atem ging röchelnd und er fand, er klang schlimmer als Scott, wenn er einen seiner Asthmaanfälle hatte.

Als er begann, an seinen Fesseln zu zerren und zu versuchen, sich irgendwie zu befreien, ließ Peter die Schlinge einen Moment lang los:

„Hör auf damit Stiles!" sagte Peter.

Seine Stimme klang ruhig, doch es war eindeutig ein Befehl:

„Wenn du dich wehrst, werde ich dich am Ende doch noch verletzen!" Dann wiederholte er: „Vertrau mir!"

Peter hatte sich inzwischen ausgezogen und Stiles konnte seinen unnatürlich warmen Körper an seiner Rückseite spüren und dies ließ ihn tatsächlich einen Moment lang ein wenig ruhiger werden, weil er dabei an Derek dachte.

Bis die Schlinge wieder zugezogen wurde!

Doch diesmal hielt Stiles still. Auch noch, als Peter sich nun anschickte in ihn eindringen zu wollen, obwohl Stiles sich sicher war, dass er dazu momentan auf keinen Fall in der Lage wäre, weil seine Furcht und Anspannung zu groß waren.

Überraschenderweise spürte Peter dies sofort und zog sich zurück. Genauso wie er jedes Mal genau spürte, wenn die Schlinge zu fest wurde und Stiles nicht mehr genug Luft bekam. Offensichtlich achtete der Ältere sehr genau auf die Signale von Stiles Körper.

Und irgendwie ließ ihn dies ein klein wenig ruhiger werden.

Als Peter nun einen weiteren Versuch startete, bereitete es Stiles keine Schmerzen mehr.

Genießen konnte er es jedoch auch nicht- nicht mit dem bedrohlichen Gefühl der Atemnot, der Wehrlosigkeit und den Fesseln.

Stattdessen tat er etwas, was er als Kind im Eichen-Haus manchmal getan hatte, wenn es zu schlimm wurde; wenn er wieder einmal verprügelt wurde, oder wenn er mit diesem einem Aufseher auf dessen Zimmer musste: Er trat einfach aus sich heraus und zog sich in seinen Gedanken zurück an einen schöneren Ort, bis es vorbei war.

Und schließlich war es das auch.

Peter stieg von ihm herunter, löste die Fesseln, den Knebel und die Augenbinde und entfernte die Schlinge von Stiles Hals.

Er drehte den Jüngeren zu sich herum und streichelte sacht über die Haut an dessen Hals:

„Du bist so hell und empfindlich!" murmelte er nachdenklich: „Das hier wird ein paar Tage lang zu sehen sein."

Stiles versteifte sich unter der Berührung Peters und dieser flüsterte sanft:

„Ist O.K. Stiles. Du hast es hinter dir! Und du hast es wirklich gut gemacht!"

Er versuchte den Jüngeren in seine Arme zu ziehen, doch der entzog sich ihm mit ungläubigem Blick:

„ICH habe es gut gemacht, Peter?" fragte er: „Ich habe gar nichts gemacht. Ich KONNTE überhaupt nichts machen! Du hattest die Kontrolle über absolut alles; meinen Körper, mein Leben...!"

Seine Stimme versagte:

„Aber DU warst es doch, der mir diese Kontrolle gegeben hat!" gab Peter zurück: „Das war mutig von dir!"

„ES WAR DUMM!" bellte Stiles: „Gib mir einfach die Waffe und die Munition und lass mich in Frieden, hörst du?"

Peter nickte.

Er sah...

...Stiles kramte in seinem Hirn nach dem richtigen Wort und staunte dann, als er es gefunden hatte: Er sah VERLETZT aus!

Nur das Peter nichts verletzen konnte, denn er war aus Bosheit und Granit gemacht, richtig?

Stiles schüttelte unwillig den Kopf, erhob sich vom Bett, sammelte seine Kleidung zusammen und warf Peter die seinige zu.

Ein wenig zu fest!

Da wurde Stiles etwas klar: Er war wütend!

Worauf hätte er nicht so genau sagen können.

Auf Peter?

Auf das, was gerade zwischen ihnen geschehen war?

Auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte?

Oder darauf, dass es da diesen gravierenden Fehler in seinem Selbstschutzsystem gab, der immer wieder dafür sorgte, dass er sich in unangenehme oder gefährliche oder beängstigende Situationen begab?

Peter übergab Stiles wortlos die Waffe. Sie war silbern und viel größer und schwerer, als Stiles vermutet hätte. Dazu erhielt er ein Dutzend Schachteln mit Munition:

„Ich denke, du brauchst einen kleinen Vorrat, damit du üben kannst, wie man mit so einem Ding umgeht!" kommentierte Peter: „Komm wieder, wenn du mehr brauchst!"

Stiles nickte und steckte beides in eine, hierfür eigens mitgebrachte Umhängetasche.

Eigentlich wollte Stiles jetzt einfach so verschwinden, doch Peter schaute ihn so eigenartig an; wachsam irgendwie und auch nachdenklich.

Was erwartete der Kerl denn jetzt?

Einen Kuss vielleicht?

Oder eine Umarmung?

So als hätte das, was sie gerade getan hatten, irgendetwas mit Liebe zu tun gehabt?

Das konnte er sich abschminken!

„Danke!" war alles, was Stiles herausbrachte, ehe er sich zum Gehen wandte:

„Pass' auf dich auf, Kleiner!" rief Peter ihm hinterher.

Es klang verrückter Weise beinahe irgendwie schüchtern.

Kaum war Stiles wieder allein, wurde er von einer Welle mächtiger Gefühle überrollt: Trauer, Zorn, Verzweiflung und so etwas wie Todesangst.

Panisch blickte er sich um, weil er sich jetzt dringend irgendwo verkriechen musste.

Fragte sich bloß wo?

Es war Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel und überschüttete alles mit gleißendem Licht in dem sich kaum etwas verbergen ließ.

Als Stiles bereits ganz kurz vorm Durchdrehen war, erblickte er zwischen zwei Häusern ein enges Gässchen. Er rannte los und verbarg sich dort, lehnte sich an eine Mauer, bis schließlich seine Knie unter ihm nachgaben und er sich an die Erde setzte.

Er konnte nicht anders; er begann zu weinen. Anfänglich waren es nur stille Tränen, die seine Wangen hinab liefen; viele davon und unaufhaltsam! Dann kamen Töne dazu; solche die Stiles noch niemals von sich gegeben hatte; von denen er nicht glauben konnte, dass sie seiner eigenen Kehle entstammten- ein Heulen und Klagen, wie von einem verletzten Tier.

Er dachte an Theo Raeken, er dachte an die unzähligen Hände, die er in seinem bisherigen Leben auf seiner Haut gefühlt hatte; solche die erwünscht, und solche die unerwünscht gewesen waren.

Plötzlich wunderte er sich, dass da überhaupt noch Haut war.

Beinahe kam es ihm so vor, als müsste diese eigentlich doch schon vollkommen abgenutzt und brüchig sein.

Peter saß in seinem Salon, lauschte Stiles Klagen mit seinen scharfen Ohren und fühlte sich irgendwie...unbehaglich.

Er hatte den Impuls hinauszugehen, um nach dem Jungen zu sehen, doch er wusste, dass er nicht derjenige war, den dieser jetzt sehen wollte und dass Stiles es ihm nie verzeihen würde, wenn er ihm dennoch folgte.


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