Dann kam er, der erste von vielen Ärzten, die Bea in den nächsten Jahren besuchen sollten. An ihn erinnerte sie sich später noch, ebenso an den letzten. Sieben Jahre sollte Bea im Sumpf der Krankheit hocken wie ein Monster. Die Dunkelheit klebte an ihr wie Teer. Sie konnte ihre Arme nicht heben, denn lange Fäden klebten sie an ihr Bett, als wäre es geschmolzenes Lakritz.
Der Arzt, den ihre Mutter das erste Mal mitbrachte, war wie einem Märchen entsprungen. Er wirkte unecht wie eine Stoffpuppe. Seine weißen Haare standen in sämtliche Richtungen ab, ebenso die buschigen Brauen, die seine Augen halb verdeckten. Bea hörte ihn bummeln und seine Falten auf der Stirn wurden noch zahlreicher. Als er sich zu ihr beugte, glänzten Bea zwei Pupillen entgegen, die so groß wie Knöpfe waren.
Plötzlich durchströmte Bea ein vertrautes Gefühl. Eine vage Erinnerung. Doch die Bilder verschmolzen zu einem Klecks. Wie bei einem Gemälde, bei dem zu viel Wasser benutzt wird und die Formen ineinander fließen, so dass nichts mehr zu erkennen ist. Ein Brei aus Bunt - wenn man alle Farben mischt, ergibt es ein schlammiges Braun. Das Bild, das sich einzig und allein daraus ergab, war wieder der Sumpf der Krankheit, in dem Bea als hässliches Monster hockte.
Der Arzt beäugte Bea wie ein exotisches Tier aus dem Dschungel. Er packte jede Menge Gerätschaften aus, klopfte auf ihr Knie, zapfte ihr Blut ab wie ein Vampir und zog an ihren Ohren, Armen und Händen herum. Bea konnte nichts sagen, fragen, sich nicht bewegen. Der Sumpf umschloss sie fest, als wäre er das Monster und sie ein Stein, der darin versank.
Das war der erste Tag, an dem die Zahlen zu Bea kamen. Dort unten auf dem Grund des Sumpfes tanzten sie plötzlich wie Schneeflocken um sie herum und Bea begann, sie zu zählen. Während sie zählte, verschwand der Sumpf rundherum und es war, als hockte sie in vor einer weißen Leinwand. Oder inmitten weißer Wolken. Es beruhigte sie. Die Zahlen waren Beas Freunde - wenn auch nur für kurze Augenblicke. Am liebsten mochte sie die Zahl Sieben.
"Da haben wir einen ganz eindeutigen Fall, meine Gnädigste. Verlust der Nerven und der Hoffnung. Da helfen nur bunte Pillen", sagte dieser erste Arzt und alle weiteren taten es ihm gleich. Jeder, der Bea behandelte, hatte ein noch besseres, noch neueres und ganz sicher wirksames Medikament, und doch blieb Bea Tag und Nacht in ihrem Korbstuhl und spielte mit ihren Zahlen im Kopf.
Bea zählte die Ärzte, zählte die Pillen und zählte die Male, die ihre Mutter sie nervte, sie solle doch etwas sagen. Doch Bea blieb stumm. Manchmal schenkte sie ihrer Mutter ein Blinzeln oder ein Zucken der Mundwinkel. Zu mehr war sie nicht fähig. Warum niemand kam und das Ding dort oben auf dem Berg entfernte, wusste Bea nicht und sie fragte auch nicht, denn die Zunge klebte fest. Sie zählte lieber die Nebelgeister, die vor dem Fenster vorüberzogen.
Bea verlor ihre Fähigkeiten. Der Schlüssel zum Glück war das Leben selbst. Sie konnte nicht mehr tanzen und auch nicht mehr singen. Sie verlor ihren Mut, den Glaube und die Fantasie. Das Wichtigste aber, was Bea davon schwamm, waren ihre Träume und Erinnerungen. Kein Arzt dieser Erde konnte ihr helfen. Keine Pille und keine Medizin brachten ihr Leben zurück. Es war wie ein Feuer, das alles niederbrannte. Nur die graue Asche blieb zurück. Dieses Häufchen war Bea selbst.
Der letzte Arzt kam kurz nach Beas vierzehntem Geburtstag. Sie wusste das, denn sie hatte die Kerzen auf dem Erdbeerkuchen gezählt. Sie zählte auch die Erdbeerstückchen, die ihre Großmutter darauf verteilt hatte. In dem Augenblick, in dem der Arzt ihr seine Hand reichte, wusste Bea, dass er die Veränderung mit sich brachte wie der Winter den Schnee.
Er war ein Engel, ein Held, ein Heiliger. All das sah Bea an den Zahlen, die um ihn herumschwirrten. Es war die Zahl Sieben, und das hunderte Male. Er musste etwas Besonderes sein. Außerdem erinnerte er Bea an Fabian. Die Erinnerung blitzte auf und fiel herab wie eine Sternschnuppe. Bea hielt ihre Hände auf und verschloss diese Erkenntnis wie einen Schatz.
"Ich verordne dem Mädchen die Natur! Hinaus mit ihr! Sie braucht Leben, Bewegung und die Elemente. Was nutzen die dummen Pillen? Kleines Ungeziefer, schmeißt diesen Unrat weg!"
Die Mutter und Großmutter standen dort wie zwei Bäume. Starr und stumm und knorrig. So etwas hatten sie noch nicht erlebt. Dieser Arzt musste den Verstand verloren haben. Wie sollten sie Bea nur nach draußen befördern? Sie wollte sich nicht rühren und sie war krank!
Doch gesagt, getan. Was ein Arzt sagte, war Gesetz. Heute wie gestern und morgen. Der weiße Kittel ist allmächtig, auch wenn es noch so lächerlich erscheint. Bea liebte diesen Mann, mindestens so sehr wie Fabian. Fabian, warum hast du nicht gemerkt, dass dieses Ding dort oben Unheil und Verderben bringt! Warum bist du nicht bei mir geblieben?
Der Arzt streichelte Bea übers pechschwarzen Haar. Er legte den Kopf schief und sprach mit einer Schokoladen-Stimme, so lockend und so süß: "Hübsches Kind, es gleicht einem Verbrechen, hier drin zu verwelken. Du bist schön wie Gladiolen, geh mit mir hinaus. Dort kannst du Wurzeln schlagen und die Sonne in dich aufnehmen. Licht allein heilt."
Aber überall war dieser Nebel. Das einzige Licht, das Bea sah, waren die grünen Strahlen, die vom Berg herunterfielen. Nein. Draußen wartete das Verderben und der Tod. Bea hatte Angst dort draußen, das Ding könnte sie und ihre Mutter und die Großmutter aufsaugen wie ein Stück Papier.
Doch Bea dachte nur und sagte nichts. Der Arzt nahm sie unter ihren Arm und trug Bea hinaus in die Gefahr der Dunkelheit. Kälte und modrige Luft schlugen ihr entgegen. Es war, als zögen unsichtbare Hände an ihrem Kleid. Der Nebel drückte sie, Bea wollte nicht hier sein, aber sie war wie gelähmt und der Arzt war sich seiner Sache sicher. Unerschütterlich wie der Berg.
Bea wurde abgelegt wie ein Stein. Sie spürte den Zaun in ihrem Rücken und das Kitzeln des Grases auf dem sie hockte. Was nun? Im Grunde war es ihr völlig gleichgültig, wo sie saß, Hauptsache sie sah das Ding auf dem Berg, wenn es verschwand. Bea hob den Kopf. Ja. Dort war es, das grüne Licht. Stimmen drängten zu ihr wie das Summen eines Wespen-Schwarmes. Gemurmel und Gebrabbel. Uninteressant. Bea zählte die Grashalme, die sie kitzelten.
Irgendwann wurde es ruhig. Das Rauschen ihres Blutes und die Grillen waren das einzige, was Bea vernahm. Sie entspannte sich und fiel in einen Schlaf voller Träume. Sie wusste nicht, wie lang sie hier saß. Es war ihr, als würde sie plötzlich nicht mehr am Boden sitzen, sondern auf einer Bank. Dann sah sie Gesichter. Großmutter, Mutter und fremde Gesichter. Dann wieder die grünen Lichtblitze, Nebelschwaden, Regen auf der Haut. Bea wusste nicht, was sie träumte und was tatsächlich geschah.
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