SIEBEN - Die Krähe

Die Sonne stand hoch oben und brannte auf Beas Kopf. Die schwarzen Haare speicherten die Wärme, als hätte sie eine Wollmütze auf dem Kopf. Zeit für ein Päuschen. Beas Blick schweifte über die Wiese auf der einen Seite. Der Bach zur anderen begleitet sie noch immer und vor ihr erschien ein Wald in der Ferne.

Das Häschen auf Beas Arm war eingeschlafen. Wie niedlich es aussah. Bea wiegte es im Takt ihrer Schritte. Das Plätschern des Wassers musste es eingeschläfert haben. Ein Ziehen in ihrer Brust machte sich breit. Hatte sie schon jetzt Heimweh? Nein, irgendetwas anderes zog an ihr wie eine Freundin, die sie an ihrer Hand zum nächsten Abenteuer drängte.

Wie durch Watte drangen Stimmen zu ihr. Lachen. Kichern. Schreie. Kreischen. Hatten so die anderen geklungen? Ihre Freunde? Bea strengte sich an, die Sehnsucht forderte Bilder wie ein Ertrinkender das Wasser, doch in ihr drin war immer noch dieser Schlamm - Matsch und Nebel. Da drang kein Bild hindurch, nur Geräusche, Stimmen, Gesang.

Bea schmiegte ihre Wange an das Häschen. Jetzt zählte nur ihre Mission. Wer weiß, vielleicht bräuchte sie die Bilder im Kopf bald nicht mehr. Erinnerungen waren unwichtig, wenn die Realität voller Glück war. Das musste ihr Ziel bedeuten und sie vertraute der Raupe - auch wenn es vollkommen verrückt erschien. Wie Schnee im Hochsommer.

Ein moosbewachsener Stein lud Bea zum Verweilen ein. Sie setzte sich in den Schneidersitz und bettete das kleine weiße Knäuel in ihren Schoß auf ihr Kleid. Sie streichelte es und blickte verträumt hinunter. Dann holte sie ein Stücken Brot, Käse und Wasser aus ihrem Rucksack heraus. Seltsam, sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, Proviant eingepackt zu haben. Zum Glück hatte sie es gemacht, denn ihr Magen knurrte wie ein Ungeheuer. 

Nachdem sie sich gestärkt hatte, überkam sie Müdigkeit. Sie legte sich einfach an Ort und Stelle ins Gras. Es kitzelte an ihren Armen. Sie fühlte die Kühle und die feuchte Wiese. Spielte mit den Halmen und bohrte mit den Fingern in die nasse Erde. Über ihr, strahlend blauer Himmel. Einige Wolkentiere wanderten vorüber. Sie verzerrten sich zu Schlieren und Beas Augenlider fühlten sich plötzlich schwer an. 

Die Raupe auf ihrem Knie hat nun eine Krone auf, ihre Augen blicken sie an wie Mamas Augen. Augen, die alles wissen. Dann grinst die Raupe bis es das gesamte Gesicht durchzieht. Sie wächst und wächst und verwandelt sich in einen Baum, der in einem Garten steht.

Ein Apfelbaum mit einer Holzschaukel, auf der ein kleines Mädchen hockt und ein Lied nach dem anderen singt. Ein Junge mit dunklen Locken schubst sie an und grinst. Seine Wangen sind so rot wie die Äpfel am Baum. Das lange Haar des Mädchens weht ihm ins Gesicht und er prustet.

Plötzlich hüpft das Häschen auf die Wiese. Noch mehr Kinder tauchen auf. Sie hocken neben dem Kaninchen im Gras und streicheln es. Und dann kommt Beas Mutter aus dem Haus gestürmt - sie lacht nicht.

Bea schreckte hoch. Ihr Genick ist schweißnass. Was hatte sie geweckt? Ihr Herz klopfte, als wär sie gerade kilometerweit gelaufen. Das Plätschern des Baches, doch sie hörte noch ein anderes Geräusch. Ein Krähen oder Krächzen. Kraxkrax. Da war es wieder. Bea rieb sich die Augen. Das Kaninchen hockte immer noch in ihrem Schoß. 

"Ach sieh an, die Krähe!", sagte das Kaninchen, als hätte sie den Vogel bereits erwartet. 

Bea suchte die Umgebung ab. Wiese, Bach, Stein … schwarzer Vogel oberhalb des Weges. Er hüpfte auf dem Kies umher, als würde er gerade den Verstand verlieren. Es scharrte und der Vogel krächzte. Kraxkrax.

"Ist der Rabe ein Glückstier?", fragte Bea und betrachtete ihren Ring. Der leuchtete nicht, nicht so wie beim weißen Kaninchen. 

"Die Krähe ist eine Botin. Ob Glück oder Unglück ist ungewiss!"

"Ich habe eine Nachricht für dich, Raupenmädchen", krächzte der Vogel und er klang gar nicht nett. Spöttisch und … schadenfroh. Bea fröstelte es plötzlich. Sie rieb sich die Arme. 

"Was denn für eine Nachricht?", fragte sie und ließ den schwarzen Vogel nicht aus den Augen. Der Schnabel klapperte, der Vogel hüpfte ohne Unterlass. Bea bemerkte, wie sich ihre Härchen auf den Armen sträubten. 

Er klappte seine Flügel auf, was ihn noch größer und bedrohlicher machte. Er war riesig und einige seiner Federn segelten lautlos zu Boden wie schwarze Schneeflocken. Um die Krähe herum bildete sich Nebel. Dieses Tier brachte kein Glück, soviel war gewiss. Beas Herz zog sich zusammen, sie blickte unsicher zum Kaninchen. Das zuckte mit seinen Ohren. Bea fühlte sich so wie vor dem Auftauchen der Raupe. Die Dunkelheit hatte sie soeben eingeholt.

"Deine Mutter sorgt sich um dich. Wie konntest du sie allein lassen? Du egoistisches kleines Mädchen!" Die Krähe schlug drohend mit den Flügeln und hopste hin und her. Dabei krächzte sie, so dass es aus allen Himmelsrichtungen widerhallte. 

Bea gefror zu Eis. Der Zweifel lähmte jeden ihrer Muskel. Der Boden vibrierte und ihre Augen weiteten sich, als würde sie ein Monster vor sich sehen. Bea klammerte sich an ihren eigenen Händen fest. Was sollte sie nur tun? Ein Gewicht zog an ihren Beinen, eins drückte auf ihre Brust und die Gedanken waren heißer Teer. Klebrig und zäh.

"Aber … aber … ich bin doch … ich hab doch …", stammelte sie und wurde sogleich unterbrochen.

"Was stotterst du, kleines Mädchen? Ab nach Hause zu deiner armen Mutter. Was sitzt du hier noch faul herum?" 

Um Bea herum wurde alles schwarz. Der Frühlingstag verwandelte sich zum Alptraum. Alles zog sich zusammen. Sie fühlte sich so klein wie eine Ameise und der Vogel erschien so groß wie ein Drache. Sie duckte sich und schloss die Augen. Jetzt war alles verloren. Sie musste sofort zurück, der Vogel hatte recht. 

"Psss", hörte sie ganz entfernt. "Psss, denk an die Raupe, Mädchen, wie waren ihre Worte?"

Beas Kopf drohte zu platzen. Sie versuchte zu zählen, um sich zu beruhigen, aber die Zahlen purzelten haltlos umher. 

"Was sagte die Raupe? Erinner dich! Summ ein Lied. Summ ein Lied!", flüsterte das Kaninchen.

"Du musst zurück. SOFORT!", dröhnte die Krähe.

Bea presste ihre Hände auf die Ohren, alles drehte sich. Zahlen. Bilder. Stimmen. Alles vermischte sich. Doch die Raupe drängte sich vor. Sie grinste und flüsterte und Bea fing zu Summen an. Sie summte immer lauter, bis sie die Worte der Raupe wieder deutlich hörte. 

"Zweifel nicht! Du darfst NIEMALS an dir zweifeln."

Das schlug ein wie ein Blitz. Jetzt war alles wieder klar. Bea summte weiter und weiter. Sie dachte an ihre Mutter und wie sie ihr sagen würde, warum sie weggegangen war. Um das Glück zurückzuholen. Ihre Großmutter und ihre Mutter, beiden würden es für gut heißen, sie würden ihr verzeihen.

"Deine Mutter wird dir nicht böse sein. Niemals. Gehe weiter. Bring es zu Ende!", flüsterte das Kaninchen. 

Bea starrte auf den Ring an ihrem Finger. Er wurde blasser und blasser, sie hörte die Krähe krächzen. Sie summte weiter, hörte die Worte der Raupe, brachte die Zahlen in ihrem Kopf in die richtige Reihenfolge. Sie starrte auf den Ring, der wieder kräftiger wurde. Dann war er grün wie zuvor. 

Bea blickte auf, die Krähe war verschwunden. 

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